Das Tuten der Titanic

Ich liege im Trend. Ich liege ja sowas von im Trend. Man trägt wieder rabenschwarz im Jammergemüt! Es soll sich sogar neuerdings lohnen, um der Schonung der eigenen Stimme willen Klageweiber für Krisengesänge und Weltuntergänge zu mieten. Noch nie gab es so viele drittklassige Kleinstadtaufführungen von Tschaikowskys Schwanensee, mit viel rrrrussischerrr Sääle natürlich, was auch immer das sein mag, jedenfalls stirbt es sich damit federleicht, anmutig und schön. Auch der Abgang will schließlich gekonnt sein.

Nun habe ich für meine Seelenkramereien natürlich die schönste Ausrede der Welt, monatelang habe ich mir Strawinsky recherchehalber um die Ohren geschlagen und bin ein Kapitel lang mit der Jungfrau von Le sacre du printemps im Todestanz gelegen - wieder so ein Russe, der den Todestanz zelebriert, dass man ihm die Füße küssen möchte - und an dem sich der junge Choreograf und Wundertänzer Vaslav Nijinsky in den Wahnsinn gearbeitet hat ... nicht direkt an ihm, aber der Opfertanz war irgendwie auch Seelenprogramm. (Auch die Worthäufungen um den Tanz sind Programm, so stirbt ein Text den Suchmaschinenrobotern entgegen oder auch nur das Lektorat in der Autorin).

Ich erinnere mich noch, als ich mit der Verlegerin fasziniert auf die Stelle in Le Sacre lauschte, wo der Schmerz ins Absurde kippt, in Schräge. Irgendwann habe ich zum Glück einen Berufsmusiker gefragt, was denn dieses Tuten sei, das wie die Titanic kurz vor dem Eisberg klinge, und er klärte mich auf: Wagnertuben seien das. So launig hat er mir die Stelle erklärt, dass ich ihn ungefragt zitieren muss: "...wenn so eine Tuba tubt, bleibt kein Auge trocken, und selbst wenn das ganze Orchester gleichzeitig rotzt, schabt, brodelt, schrammelt und werkelt was das Zeug hält - die Wagnertuba ist nicht tot zu plärren." Es ist einfach eine Lust, mit solcher Musik zu verzweifeln!

Nun habe ich mir sagen lassen, dass es sogar einen deutschen Depressions-Dokumentarfilm gebe, der untersucht, warum die Deutschen das Glas grundsätzlich immer halb leer sähen. Die Kritik dazu lehrt, dass der Filmautor jene Technik offensichtlich ebenfalls beherrscht. Und da fällt mir auf, mir ist das fremd: Zum Klagen setze ich gern ein Grinsegesicht auf und fand heute sogar den idealen Grabspruch für mich. Ich glaube, ich habe einen Defekt. Ich habe zu lang in komischen Ländern gelebt. Nichts macht lebenslustiger als ein Spaziergang auf einem Pariser Friedhof, Verfall ist schließlich Leben und ein wenig erotisch ist es auch, in all dem Bröseln und Schimmelmüffeln sich des eigenen befleischten Körpers gewahr zu werden. Vorausgesetzt, der müffelt noch nicht, aber dafür erfand der Franzose das Parfum.

Und dann gab es ein Land, in dem es egal ist, ob das Glas Wasser halb voll oder halb leer ist: Man kippt das fade Wasser nämlich einfach aus. Kippt Wodka hinein, der übersetzt auch nur Wasser heißt, Lebenswasser wie bei den Franzosen das Eau de vie. Ob mit oder ohne Wodka, man lässt sich jedenfalls erst einmal gehörig fallen. Je größer die Party fürs Trauerspiel, desto besser. Schwarzes Winterdunkel draußen und im Herzen, der gute alte Chopin muss oft daran glauben. Auf dem Weg zu seinem ehemaligen Haus regierte zu meiner Zeit dort die Tristesse windgebeugter Kopfweiden und postkommunistischer Fernheizrohre in allen Stadien des Zerfalls.
Dann beginnt das wahre Trauerspiel:

Man nehme die traurigste Musik, derer man habhaft werden kann. Und in die lasse man sich völlig hineingleiten. Wie in ein rußgeschwärtes Fernheizungsrohr, das nachher keiner mehr aufschraubt, weil es bei der Wende vergessen wurde. Etwa so:



Diese unbändige Tristesse steigere man langsam musikalisch wie innerlich, bis sich mindestens die Hälfte der Partygesellschaft heulend und zähneklappernd in den Armen liegt. Für Singles empfiehlt sich ein möglichst heruntergekommener Teddybär aus dem Second-Hand-Laden. Jetzt erzählen wir uns nämlich gegenseitig die schlimmsten Katastrophen unseres Lebens, da wäre ein eigener Teddybär ja nur hinderlich, weil er mitten in der Party gähnen würde. Wichtig ist, dass die mitgeteilten Ausweglosigkeiten und Weltuntergangsszenarien ein derart unüberwindbares Ausmaß haben müssen, dass wir sofort und auf der Stelle selbst Hand anlegen müssen - ans reichhaltige Buffet.

Irgendwann zwischen Essen, Trinken und Klagen kommt der sagenhafte Strawinsky-Effekt, das schräge Tuten der Titanic, die im Schwanensee untergeht. Die Trauergeschichten bei nachtschwarzem (Kunst)Kaviar werden absurd. Plötzlich grinst jemand, weil das ganz volle Glas plötzlich ganz leer ist, und man es garantiert nicht nur halb füllen mag. Man hört noch mehr Musik. Und die bekommt jetzt plötzlich ebenfalls dieses seltsame Etwas. Wie etwa hier (Video). Das juckt in dem Körperteil, für den Strawinsky sein Sacre geschrieben hat und das Fleisch fordert seinen Tribut zur Feier der Lebendigkeit. Wohl dem, der noch einen großen stabilen Tisch hat. Darauf tanzt sich's am besten zurück ins Leben.

Wer glaubt, ich würde hier vom Pferd auf der Titanic erzählen, der schaue sich mal dieses Video hier an. So etwa ab 2:52 erklingt es: döh do döh - do dödidide döh
Ist der Untergang nicht furchtbar schön?
Für alle, die nicht tanzen können oder abstinent leben, habe ich beim gestrigen Residenz-Verlag-Surfen ein passendes Buch entdeckt, das ich mir bereits verordnet habe: "Wir feiern Untergang. Kulturpessimistische Schriften." (Anschauen! Das Cover ist gigantisch.)

4 Kommentare:

  1. Danke, wunderbar, spricht mir aus der Seele! Wenn Sie sich je entschließen sollte, sich zu entleiben, wollte ich Ihr Kleist sein! Aber ich glaube, so viel poetischer Realismus hält gesund und elastisch. Spazieren Sie mir mir über den Père Lachaise, je ein Wässerchen in der Hand?

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  2. Warum hat man der Ewa den Teleprompter so hoch gehängt?
    (Sorry)
    Wunderbar, genau der richtige Text um diesen grauen und regentristen 2. Tag im November mit einem Grinsen im Gesicht zu beenden.
    Und meine blogroll hat einen neuen Eintrag.

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  3. Wunderbar diese dunklen Töne. Es braucht einfach den Blues, um sich als Mensch ganz zu fühlen. Und wie Bosmile habe auch ich schnellstens diese einmalige Bloggerei aufs Blogroll geschnallt.

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  4. Es ist schon manchmal sonderbar, für welche Texte man die schönsten Kommentare erntet, danke! Das muss einmal an dieser Stelle gesagt sein: Kommentare jedweder Art tun dem Autorenseelchen einfach gut, weil man plötzlich weiß, für wen man schreibt und dass man seine Texte nicht autistisch im Nichts verliert. (Für die Eiligen gibt es ja inzwischen eine Applaustaste und eine für Buhrufe).

    Anonymus, ich habe in meinem Leben ja schon einige schräge Anträge bekommen, aber den Kleist wollte mir noch niemand machen. ;-) Darf ich das abheften unter "Das Leben schreibt die absurderen Romane"?

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