Homo Boulevardensis


Die bedrohte Art


Kürzlich hat Adam Soboczynski mit einem Angstruf in der ZEIT, hinter dem die Online-Redaktion selbst nicht stehen mochte, die Bloggosphäre ein wenig aufgewühlt (z.B. hier oder hier). Düstere Zeiten stünden den Intellektuellen bevor, die sich dank Internet und Web 2.0 in letzte Reservate flüchten müssten. Denn Dummheit und Derbheit regierten die virtuelle Welt - so sinngemäß seine Polemik.

Nun ist der Sachverhalt ja nicht neu. Das rare Tierchen mit dem Intellekt war schon immer eins, das zahlenmäßig auf die Rote Liste gehörte und in manchem Wohnzimmer nicht gern gesehen war. So suchte sich z.B. das kommunistische Regime in Polen einen neuen Industriestandort bei Krakau gezielt aus. Touristen in den frühen Neunzigern wunderten sich noch, warum die Nowa Huta bei den dortigen Windverhältnissen ausgerechnet gewisse Teile der Altstadt verpestete. Kein Zufall. Denn in solch frostigen Zeiten neigt der Intellektuelle dazu, Gruppen-Nestbau zu betreiben. Die Machthaber hofften darauf, mit zunehmender Luftverschmutzung in jenen Vierteln würden die Intellektuellen sich keines langen Lebens erfreuen. Hätten die Intellektuellen woanders gewohnt, stünde der Industriebau woanders.

Andere Machthaber setzten auf schnellere Methoden und Overkill. Wer unter Intellektuellenverdacht geriet, bestimmten nicht mehr allein Bildung und Herkunft, sondern auch Nachbarn, böse Schwiegermütter und andere Denunzianten. Ganze Länder bluteten sich geistig aus in Konzentrationslagern, Gulags, Hinrichtungsstätten, wo immer auch Intellektuelle zu den Verfolgten gehörten. Intellektuelle sind gefürchtet, sobald ein Regime in ein totalitäres kippt. Denn sie schauen hin, verstehen, wissen - und kritisieren, leisten vielleicht sogar Widerstand. Das macht sie für die Machthaber so gefährlich. Ein Intellektueller ist nicht leicht gleichzuschalten. Manchmal geht er mit dem Kopf durch die Wand.

Nun hat Soboczynski - ich unterstelle ihm die Kenntnis der polnischen Geschichte - tüchtig daneben gegriffen, wenn er sich im Internet als Intellektueller gehasst fühlt. Denn wo, wenn nicht da, gilt - noch - die Redefreiheit, werden Widerstände organisiert, entstehen Protestbewegungen. Ohne Internet bekämen unsere Journalisten längst nicht mehr wahre Hintergründe über China oder Tibet, Irak oder Afghanistan in die Redaktionen geschmuggelt. Weltweit nutzen Hunderte von Intellektuellen und anderen Bürgern unter Lebensgefahr das Internet, um auf die Lage in ihren Ländern aufmerksam zu machen. Wenn da nicht diese Armee von Dummdreisten wäre, die im Internet "Abscheu" und "antiintellektuelle Hetze" ablade, Fäkaliensprache, und in den Medien sogar "hysterische Zuspitzungen" um der Klickzahlen willen.

Bis gestern dachte ich, Soboczynski übertreibe vielleicht ein wenig und fröne des Stilmittels der Polemik. Bis gestern dachte ich, es sei doch immer schon so gewesen. Auch Sergej Diaghilew mit seinen Ballets Russes hat 1909 schon gewusst, dass Kunst nur ins Gespräch kommt, wenn man sie selbst mit einem Knaller ins Gespräch bringt. Dann aber habe ich es genau wissen wollen. Die Zugriffe auf mein Blog analysiert.

Homo boulevardensis

Soboczynski hat - zumindest was mein Blog betrifft - leider Recht. Meine Leserzahlen stiegen zwei mal exorbitant, um mehrere hundert Prozent: Beim Skandal um Elke Heidenreich und als ich mich in Sachen Heidelberger Apell vorgewagt habe. Als ich dann wieder gemäßigter wurde, blieben die Leute weg. Gestern der freche Selbsttest - die Skandal-Überschrift bescherte mir für diesen Wochentag wieder sehr viel mehr Besucher, als wenn ich stundenlang für einen wirklich tiefgründigen Beitrag ordentlich recherchiere. Die Beiträge, die mir selbst am besten gefallen, weil Recherche und Sorgfalt darin stecken, liest eine Minderheit. Die Mehrheit surft eben diese schnelle Hysterie ab, die dahingeworfenen "gossip"-Bröckchen, die scheinbar entlarven, scheinbar Reibungsfläche bieten.

Ich könnte nun umlernen. Oberflächlicher, kürzer, frecher, provozierender und vor allem hysterischer werden. Irgendwann hätte ich dann auch mehr Kommentare, ebenfalls hysterisch, provozierend ... in eben jenem Stil, den man bei Kommentaren von Zeitungen so findet. Es gibt ja keine Hemmschwelle mehr, so ein Leserbrief von annodunnemals brauchte noch eine eigene Logistik, Papier, Briefmarken, Namen und Adresse... Man stand noch gerade für die Beschimpfungen.

Will ich das? Nein. Ich will aber auch nicht ins Intellektuellenreservat, das Soboczynski am Horizont dräuen sieht. Ich stelle mir das so schlimm vor wie ein Nachleben im Himmel unter lauter Guten. Nur noch hochgeistige Gespräche bei hochgeistigen Getränken, denn auch das wissen wir aus der Geschichte: Reservate führen zu Alkoholismus und Lethargie. Auch eine Möglichkeit, Leute klein zu halten. Wer freiwillig da hin zieht, kommt so schnell nicht wieder heraus.

Verführungen

Ich bleibe subversiv. Klickzahlen und Profitspannen bestimmen schon so viel in unserem Leben. Im Internet kann ich austesten wie es ist, solche Mechanismen vorsätzlich zu brechen. Qualität statt Quantität. Hier hängt mir kein Verlag im Genick, der manisch die Ausdrucke mit den Verkaufszahlen prüft oder Angst hat, ein Artikel schade womöglich einem Anzeigenkunden. Bei Lesungen sage ich zu Veranstaltern immer: Ich lese auch, falls nur drei Leute kommen. Weil diese drei Leute, die gekommen sind, das wert sind. Weil ich bei drei Leuten, die extra diesen Weg gemacht haben, mehr erreiche als bei einem Saal von dreihundert, von denen 200 eigentlich zum Fußball wollten und hundert in der Nase bohren.

Die Welt da draußen ist natürlich - auch - ein riesiger Mülleimer. Aber das erleben wir nicht erst seit Web 2.0, das hatten wir früher schon beim Streit um die Thujahecke und ähnlich liebevollen zwischenmenschlichen Beziehungen. Jetzt kommen zu bösen Nachbarn eben noch ein paar Follower, Freunde, Fans und düstere Gestalten unter Decknamen hinzu.

Vielleicht besteht die Kunst der Zukunft darin, in all diesem Gewusel diejenigen anzusprechen, die auch nicht auf Thujas stehen und die bereit sind, sich einmal von ihrer Gartenliege zu erheben, um über den Zaun zu schauen. Natürlich kann man all die fiesen hysterischen Zeitungsmethoden auch positiv verwenden. Schaut einer erst einmal über den Zaun, verführt man ihn mit Rosenduft, Farbe, Schönheit. Vielleicht pflanzt er dann trotzdem Thujas. Vielleicht aber auch Gänseblümchen?

In diesem Sinne - gibt's natürlich noch die beiden üblen Skandale, wenn ich heute mit der Arbeit fertig bin, versprochen. Und die gehen auch bis unter die Gürtellinie, versprochen. Ein bißchen Hysterie und Plakatfarben sind dem Tag heute angemessen - warum, wird eben dann verraten...

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3 Kommentare:

  1. Traurig ist doch aber, wenn Soboczynski das Spiel, das er kritisiert, selber spielt. Intellektuelle waren schon immer die Outcasts der Gesellschaft. Aber mit dieser Außenseiterrolle kann man auf unterschiedliche Weise umgehen. Man kann sich in den Dienst einer Gesellschaft stellen und Verantwortung übernehmen. Man kann aber auch verächtlich auf die Leute runtergucken.

    Genau das macht Soboczynski mit seinem Artikel. Es gibt einen Spruch, der hier ganz gut passt: Wenn Du die Welt verändern willst, musst Du Dich verändern.

    Für mich ist dieser Spruch Programm. Man erregt damit vielleicht nicht so viel Aufsehen, aber ich bin davon überzeugt, dass dieser Ansatz langfristig erfolgreicher ist.

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  2. Na, da ist ja doch ein mutiger Kommentator, wie schön!

    Traurig finde ich es auch. Was mich als Journalistin bei der ganzen Sache erschreckt, ist das Phänomen der Macht und der allzu unbedachte Umgang damit. Ich will es mal salopp formulieren: Man setzt sich auch mal nach durchfeierter Nacht mit Zahnschmerzen und Frostbeulen an den Redaktionstisch und muss seinen Artikel bis Redaktionsschluss liefern. Wir sind Menschen und nicht jeden Tag weise.

    Aber diese ganzen Reaktionen in diesem Fall zeigen doch: Wir werden auch an miesen Tagen verdammt ernst genommen. Wir machen Meinung. Und je nachdem, für welches Blatt wir schreiben, wiegt unsere Stimme noch schwerer.

    Ich finde (obwohl ich dem hier auch nicht immer genüge), sobald man für die Öffentlichkeit schreibt, sollte man sich dessen sehr bewusst sein. Sich gut überlegen, was man anrichten will und anrichten kann. Das trifft den Spruch vom Sich-Selbst-Verändern. Sich dieser Verantwortung wieder stärker bewusst werden.

    Das hieße, dass man auch einmal schweigt. Sich dem Hype entzieht. Was wiederum Energien freisetzen könnte, den Hype öffentlich zu hinterfragen.

    Ich habe da aber längst alle Hoffnungen fahren lassen. Das kann man sich heutzutage noch in den Medien leisten, wenn man einen großen Namen hat. In der Generation Praktikum kommt der nächste dran...

    Vielleicht schreiben deshalb so viele Journalisten lieber in Blogs? ;-)

    Ich bin aber auch zuversichtlich. Ich beschäftige mich ja gerade nebenbei mit der "Erfindung" von Kunst-PR durch Inszenierung von Skandalen. Das ging 1912/13 so gut, weil es extrem wenig Medien gab. In Zukunft werden sich die Konsumenten aber derart "vermüllt" fühlen, dass das Schlichte, Seriöse wieder greifen wird. Sie wissen es nur noch nicht...

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  3. Deshalb glaube ich, dass sich so etwas wie der digitale Kurator durchsetzen wird. Einfach jemand, dem wir vertrauen und der für uns die Perlen im "Müll" findet.

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