Doppelskandal

Er ist erst 23 Jahre alt und bereits Kult. Wenn er sich in der Öffentlichkeit zeigt, werden jüngere Frauen schwach und ältere wünschen ihn sich als Sohn. Aber auch Männer aller Altersstufen sind hin und weg. Denn er hat diese berühmten drei K: Körper, Können, Kunst. Am liebsten würde er nur für die letzten beiden Eigenschaften verehrt werden, aber selbst das ist ihm zu viel - ein persönlicher Bodyguard hält ihm allzu aufdringliche Fans vom Leib. Den gibt's auf Fotos, die langsam in Umlauf geraten.

Und dann passiert es. Er darf zum ersten Mal sein eigenes Programm machen. Das bereits im Voraus verzückte Publikum freut sich auf einen Hochgenuss wie gewohnt. Der junge Mann, sieben Frauen - das verspricht, ein wundervoller Abend zu werden. Aber der junge Mann tut nicht, was man von ihm gewohnt ist. Stattdessen zelebriert er männliche Erotik, die einigen schon gleich aufstößt. Und dann, als die Frauen geflohen sind, von der einen nur ein Schal zurückbleibt, greift er ihn, bewegt sich mit ihm, legt ihn der Länge nach hin und sich obenauf. Keiner kann genau sehen, ob er es wirklich macht, aber alle sind überzeugt: Er hat es gewagt, auf offener Bühne vor aller Augen zu masturbieren! Der Kritiker vom Figaro ist so entsetzt, dass er ganz vergisst, wie man eine Rezension schreibt. Sein Artikel wird zur moralischen Hetze mit politischen Folgen.

Dem Kultstar jedoch war diese Arbeit noch nicht modern genug. Er möchte weiter gehen. Sein Lebenspartner und "Agent" unterstützt ihn dabei voll, denn er hat die Hochbegabung erkannt. Und er versteht etwas von PR. Der neue Abend findet genau am gleichen Tag statt, möge sich das Publikum erinnern. Sich ins Gerede bringen, macht Reklame.

Derweil hat der Skandalstar moderne Mitstreiter gefunden. Einen jungen Komponisten, der die Menschen mit seinen neuen Disharmonien von den Stühlen reißt. Und einen Künstler, der auch als Ethnologe Erfahrung hat, der Reisen unternimmt. Was das Trio auf die Bühne bringt, ist für das Publikum schlimmer als eine offene Masturbation, es bedeutet den völligen Bruch mit der vertrauten Welt, ein Extrem für alle Sinne. Wie ein Wirbelsturm fegt sie der junge Mann mit diesen Ideen aus allem bisher Vertrauten in einen Abend, der sich verquer anfühlt.

Schon lange bevor sich eine Jungfrau zu Tode tanzt, bricht im Publikum der Tumult los. Buhrufe und Pfiffe steigern sich zur Kakophonie. Der junge Mann, der selbst nicht auftritt, steht gleich hinter der Bühne und zählt so laut er kann, denn inzwischen ist der Lärm so stark, dass man dort die Musik nicht mehr hören kann. Auch als sich im Publikum die ersten Befürworter und Gegner Boxkämpfe liefern, gibt der Impresario kein Zeichen zum Abbruch. Er ahnt, wenn sie das durchstehen, sind sie weltweit in aller Munde, werden die Schwarzmarktpreise für Eintrittskarten massiv steigen. Und der junge Mann wird das sein, was er längst verdient hat - ein Jahrhundertstar.

Beides war heute, am 29. Mai.
Der erste Skandal fand 1912 (!) in Paris statt. Vaslav Nijinsky tanzte seine erste eigene Choreografie zu Debussys Prélude "L'après-midi d'un faune". Ein Jahr später, also am 29.5.1913, choreografierte er wieder, tanzte aber nicht selbst. Der Künstler Nicolas Roerich entwarf Bühnenbild und Kostüme und ein junger, bisher eher unbekannter russischer Komponist wurde weltberühmt: Igor Strawinsky. Das Ballett: Le Sacre du Printemps.

Die Geschichte (und noch viel mehr und natürlich weniger flappsig als hier) gibt es ausführlich ab ca. September in:
Petra van Cronenburg: Ich will eine Liebesschlange. Eine Annäherung an Vaslav Nijinsky. derDiwan-Hörbuchverlag. Mit der Musik von Debussy und Strawinsky und einem Leckerbissen - die Fassung des Faun wird von Nijinskys Schwiegersohn Igor Markevitch dirigiert.

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2 Kommentare:

  1. Hallo Petra,
    gerade heute noch einmal gehört und die Kinder haben dazu gespielt, dass sie Bärenkinder in einer Höhle sind.
    Für mich immer noch das unterhaltsamste Stück der sogenannten E-Musik, das ich kenne. Von wegen "E". Das Sacre steckt voller musikalischer Schmankerl - man muss nur genau hinhören.

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  2. Hallo Alexander,
    ich träume oft von Aktionen in der Hochkultur, wo Kindern Erwachsenen zeigen, was sie damit anfangen können!
    Faszinierend - als Bärenkinder sind sie ja dem steinzeitlichen Ritual, das Strawinsky vertonte, besonders nah.

    Unvergessen ist mir eine Kinderaktion in einem Museum für abstrakte Kunst. Die Kinder erfanden Geschichten, die sie in den Gemälden sahen, und durften dann selbst mit Pinsel und Farben Picasso spielen. Als die Eltern ihre Sprösslinge abholten, ereiferte sich eine Mutter mit ihrer Freundin gegen das, was da angeblich Kunst sein solle, alles nur Gekleckse und teuer und wozu das gut sein solle (die muss ihr Kind da aus Versehen abgegeben haben).

    Stand ein Winzling auf und rief quer durch den Raum: "Ihr Erwachsenen seid ja nur neidisch, weil ihr das nicht könnt! Seht ihr denn nicht, dass da drei Dinos ein Gummibärchen jagen?"

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