Verzweiflung im Kasperletheater

Vorhin war der große Moment. Dieser Amtsbesuch, bei dem es um Sein oder Nichtsein ging. Denn das Amt hat ganze zweieinhalb Stunden geöffnet - die Woche. Thema für mich: verzweifelte Frau am Rande des Abgrunds. Ich hatte mich vorbereitet. Trug gelbliche Beigetöne, die mich krank aussehen lassen, einen matten leichenfarbenen Lippenstift und eine Holzfällerjacke, die dreimal zu groß war (das macht einen zerbrechlicher). Haare ungekämmt und hässlich hinter die Ohren gezaust. Nervöses Fingerkneten und Nesteln an der Brille hatte ich drauf, ich war ja wirklich verzweifelt.

Eine veritable Menschenmenge saß an leeren Bistrottischen in einem ungeheizten Warteraum, alle Sprachen dieser Welt. Ich zog Tschechow aus der Tasche und las "Angst", um mir von der Figur namens "Vierzig Märtyrer" noch etwas Stimmung abzuschauen. Mit halbem Ohr hörte ich in die Menge. Dort, wo ich die Sprachen verstand, waren die Gespräche schlimmer als Tschechow. Ich war nicht die einzige mit Computerfehler. Alle anderen hatten ähnliche Probleme, wenn nicht noch viel schlimmere. Und dann erfuhr ich, dass es nicht nur ein Computer war. Im ganzen Land, in allen Behörden soll seit etwa zwei Monaten vollkommen der Wurm drin sein. Nirgends werde mehr auf die Menschen geachtet, ihr Leben. Der Staat ziehe widerrechtlich alle möglichen Gelder ein, die er irgendwann zurückzahle, wenn man es schafft, sich zu wehren.

Es hagele überhöhte und falsche Steuerforderungen, unrechtmäßiges Einbehalten von Sozial- oder Arbeitslosenhilfe, falsche Krankenkassenrechnungen, abstruse Rückforderungen. Hoppla, da fiel mir ein, ich hatte vor drei Tagen einen seltsamen Brief von der Krankenkasse bekommen, sie hätten mir aus Versehen zu viel für den Arzt bezahlt und ich solle den Scheck zurückschicken. Mir kam der Verdacht, plötzlich zu wissen, womit die Milliardenpakete finanziert werden, die unser kleiner Napoleon mit Frau Merkel schnürt. Die Sarkozy-Witze aus diesem Warteraum waren jedenfalls nicht veröffentlichungsfein. Wenn das stellvertretend für die Stimmung im Land ist, brennen das nächste Mal in Frankreich nicht nur die Vorstädte.

Zwei Frauen redeten so vertraut - ach, Polnisch! Als die eine passend zu den Bistrottischen die hundert Jahre alte Kaffeemaschine anwarf, gab diese ein Tiefflieger-Getöse von sich, dass ein alter Mann rief: "Alle zu Boden, jetzt bringen sie uns auch noch um, bevor wir Widerspruch einlegen können!" Es geht lustig zu in Frankreich, wenn Menschen verzweifeln. Beim ersten Schluck quiekte die Frau und stöhnte auf Polnisch: "Der schmeckt ja noch schlimmer als in einer alten kommunistischen Amtsstube!" Um mein Zwerchfell war's geschehen - und um ihres dann auch, als sie merkte, dass die vermeintliche Französin sie verstand.

Ausgerechnet mitten im Lachen kam ich endlich nach zwei Stunden dran. Tschechow war vergessen und der freundliche junge Sachbearbeiter war glücklich, dass ihn mal jemand nicht ansah wie mit Mordgelüsten. Hilfsbereit rekonstruierte er mir dann, was geschehen war. Und sagte mir, dass all diese Sachen, die mir so unverständlich erschienen, gar nicht mehr von Menschen bearbeitet würden. Das mache automatisch der Computer. Füttert man ihn mit einem Formular A, steckt er einen in die Schublade A1. Schreibt man einen handgeschriebenen Brief, verschluckt er sich und steckt einen womöglich in den Papierkorb. Menschenverwaltung total.

Ich habe gelernt: Ich denke zu viel. Sich nicht aufregen, immer automatisch automatisieren und mitmachen. Schrittlein für Schrittlein. Und nun zuerst ein Widerspruch (der geht zum Glück an einen Menschen, der einen Computer bedient). Dann die Künstlerberatung fragen, wie man den Computer möglichst geschickt zum Löschen bringt (das konnte der Mann des Amtes mit dem bösen Computer nicht sagen). Und wenn alles nichts hilft, wirklich arbeitslos melden und am Tag darauf halt wieder abmelden. Dann fange der Kreislauf neu an, dann sei man neu definiert.

Er schaut dann auch in einen Computer. Meine Online-Akte weiß mehr über mich als ich selbst. Und da liegt es, schwarz auf weiß, dieses Formular, dass ich vor Monaten eingeschickt hatte und dessen angebliches Fehlen mir diese Scherereien macht! Aber da ist es doch! Ja, das sehe er. Aber er als Sachbearbeiter dürfe jetzt ins System nicht eingeben, dass es im System vorhanden sei. Das dürfen nur die Programmierer mit dem Schlüssel in der Zentrale. Dafür brauchen wir den neuen Kreislauf. Ich notiere mit und verschreibe mich: 23.2.1984

Der Mann, der sichtlich selbst unter dem System leidet, für das er arbeitet, tröstet mich. Andere Leute hätten es ja schon schwer, aber als Künstler ginge es mir noch eine ganze Stufe schlimmer als dem schlimmsten Beruf, leider. Weil unser Zwischenstatus ja nicht im Computerprogramm vorgesehen sei und dann könnten wir ja immer eintragen, was wir wollten, es würde als falsch erkannt. Feiner Trost. Künstler sind also Zwischenmenschen, Software-Unfälle, nicht vorgesehene, den Staat in Unordnung bringende Zombies. Er hat Mitleid mit mir. Wenigstens sind Künstler noch keine Untermenschen.

Nachdem ich mich von der inzwischen durch politische Witze ziemlich aufgeräumten Menschengruppe draußen verabschiede, fällt mir etwas zu den von der Polin angesprochenen Kommunistenbetonschädeln ein. Die konnte man wenigstens anschreien. Aber wie bitte beleidigt man kunstvoll einen Computer???
Ich beantrage das Umdichten eines schwäbischen Stoßgebets. "Herr schmeiß Hirn rah!" muss künftig heißen: "Herr, zieh den Stecker raus!"

Ach ja, beim nächsten Behördenbesuch in Frankreich verkleide ich mich nicht mehr als Verzweifelte. Dann trage ich eine externe Festplatte um den Hals.

4 Kommentare:

  1. Tja, Mensch, Maschine und Leistungsgesellschaft.

    Ist aber nichts neues. Erinnert mich irgendwie hier dran:

    http://www.youtube.com/watch?v=IjarLbD9r30&feature=related
    (oder auf meinen Namen klicken)

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  2. You made my day, Marco! :-)
    Nach diesem genialen Rädertanz und dem herrlichen Ballett harre ich frisch fröhlich der Dinge und gehe jetzt erst einmal eine Runde übersetzen... Die Kreativität ist heute unter die Räder gekommen.

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  3. Ich lese so ungern zwischen den Zeilen. Sie erleichtert vieles, die fein verpackte Ironie.

    Tolle Glosse, Petra!
    Darf ich Teil 2 schreiben als rechtsrheinischem Gegenpol? ;-)

    Grüßle
    elke

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  4. Nur zu, Elke - und dann gehen wir zu "Karambolage" ;-) "L'administration - die Verwaltung"...

    Apropos Ironie als Bewältigung, traurige Clowns und so: Unbedingt die Autobiographie von Sir Peter Ustinov lesen!

    Herzlichst,
    Petra

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