Schwammleben

Ich habe eine Freundin, deren Leben aus geballter Action besteht. Sie hetzt von einem Termin zum anderen, beruflich wie privat, ist ständig unter Leuten und in den ruhigen Minuten wenigstens per Handy mit irgendjemandem verbunden. Wenn sie mich manchmal mahnt, ich solle doch erzählen, was ich so mache, erschrecke ich jedes Mal. Soll ich ihr erzählen, dass ich die drei letzten Tage keine Zeit zum Einkaufen hatte, gerade mal mit dem Hund herauskam, ständig am Manuskript saß, in den Kaffeepausen gebloggt habe und einen guten Krimi lese? Sie würde mich wieder fragen: "Wann lebst du eigentlich?"

Oder soll ich ihr von den spannenden Welten in meinem Manuskript erzählen, den wunderbaren Funden in Büchern, den herrlichen Gesprächen mit Kollegen über Romanfiguren, die mit uns am Tisch zu sitzen scheinen? Überhaupt, diesem aufregenden Leben der Figuren, mit denen man streitet, die man liebt, die einen manchmal in Rage bringen, die aber nie langweilig sind? Die aber leider außer mir niemand sehen kann, jedenfalls nicht, bevor das Buch nicht erschienen ist?

Könnte ich ihr aus meinem Schwammbuch vorlesen und sagen: Schau, wie reich das Leben ist, auch wenn ich scheinbar still am Schreibtisch sitze?
Mein Schwammbuch ist die Essenz einer Tätigkeit, die mit den Jahren des Schreibens zu einer Eigenschaft geworden ist. Man kann sie nicht abschalten, sie verändert die Wahrnehmung völlig, hält einen rund um die Uhr auf Trab. Als Schriftsteller saugt man andere Menschen und das Leben von anderen wie ein Schwamm auf. Ein bißchen haben wir etwas von Vampiren... Denn das, was man später schreibt, ist nie reine Erfindung. Ich arbeite mit den Eindrücken, die andere übersehen oder als unwichtig vergessen.

Die Frau vom Callcenter, die unverschämt wird, als ich sage, ich will keine Werbung per Telefon, was ist das für ein Mensch, was macht ihr Chef mit ihr? - Blumen an der Kasse im Supermarkt, Foto einer lachenden Schwarzen und ein Schild mit Fairtrade; als ich mich über die Rosen beuge, ätzt mich ein grausiger Chemiegeruch an, meine Allergie macht sich bemerkbar. - Ein Mann, der in jedem dritten Satz Werte, Zahlen und Maße nennt und die Floskel "also geschätzt" - wovor hat er Angst, was will er verbergen, was macht ihn glücklich? - Der Typ im BMW an der Ampel, der selbstvergessen in der Nase popelt und dann den Macho raushängt, popelt der auch vor seiner Freundin? - Diese Geste der Verkäuferin, bevor sie das Fleisch abwiegt, faszinierend...

So geht das ständig. Manche Miniatureindrücke verblassen sofort, andere bleiben über Jahre im Kopf. Und dann gibt es die, von denen ich vermute, ich könne sie vielleicht einmal brauchen für eine Figur. Die landen im Schwammbuch. Dann braucht man vielleicht irgendwann verzweifelt eine erotische Geste für eine junge Frau. Ach, da war doch die Fleischverkäuferin, was hat die gleich nochmal gemacht? Welchen Beruf gebe ich dieser fiesen Nebenfigur, die andere nicht respektiert? Könnte sie in einem Callcenter arbeiten? Was für eine Figur habe ich vor mir, wenn ich sie in einen BMW setze, auf der Rückbank nach Chemie stinkende Fairtrade-Rosen, auf dem Beifahrersitz eine popelnde Schönheit?

Natürlich bastle ich Figuren nicht nach solch einem Baukastenprinzip. Meine Figuren kommen von selbst und stellen sich vor: "Hallo, hier bin ich, ich will Teil eines Buches werden." Aber für all die fehlenden Details, fürs Leben - da brauche ich diesen Schwamm. Ich brauche ihn auch, um immer ein Stückchen besser verstehen zu lernen, warum Menschen wie handeln. Nur - wie sage ich das jetzt meiner Action-Freundin?

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