Am linken Ufer

Es war einmal eine Zeit, als in einer bestimmten Stadt zumindest für KünstlerInnen und Intellektuelle paradiesische Freiheit in Sachen Leben und Arbeit herrschte. Sie alle trafen sich in den Cafés: Anarchisten und Nationalisten, Nacktmodelle und Verlegerinnen, heruntergekommene und berühmte Maler, Mäzeninnen und Millionärinnen, Menschen aus den USA und Russland, lesbische, schwule, bisexuelle ... Stop.

Zu jener Zeit in jener Stadt gab es nämlich unsere heutigen Schubladen nicht und auch nicht das Bedürfnis, sich oder die Mitmenschen in solche einzuordnen. Die Künstlerinnen und Künstler lebten, wie es ihrer Persönlichkeit gerade entsprach. Nie zuvor und nie mehr danach befruchteten diese grenzenlose Vielfalt und der tolerante Umgang miteinander derart bahnbrechend und umwälzend Kunst und Kultur. Die Rede ist vom Paris der Avantgarde, welche die ersten beiden Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts prägte. Eigentlich ist das Thema ein alter Hut, Bücher und Filme über diese einmalige Zeit und Lebensweise gibt es wie Sand am Meer. Leider folgen viele davon der auch später wieder üblichen Geschichtsschreibung, bei der berühmte Männer genannt und berühmte Frauen vergessen werden.

Mir selbst war diese Haltung nicht immer leicht, als ich gerade Dan Francks Buch "Montparnasse und Montmartre" aus dem Französischen übersetzte. Ab und zu habe ich mir als Übersetzerin Fußnoten erlaubt. Habe etwa darauf hingewiesen, dass es sich bei der drolligen Kantinenwirtin, die für die berühmten Männer im Kessel rührte, tatsächlich um die erste weibliche Kubistin von Rang handelte. Aber immerhin hat dieser Autor zwei Frauen mit Respekt behandelt, die in einem anderen Buch eine führende Rolle spielen. Dieses andere Buch möchte ich vorstellen.

Das Frauenpaar, mit dem es beginnt, steht fast schon symptomatisch für die Lebenskultur von Paris in der Zeit der Bohème. Die eine ist Französin, wirkt wie eine Frau vom Land und will sich ihren Kindheitstraum erfüllen. Die andere kommt aus den USA, kleidet sich schulmädchenhaft und gründet ihr Geschäft nur, weil ihr der Kriegsdienst auf den Nerv geht. Sie lernen sich kennen und lieben und verändern das schriftstellerische Leben Europas. Heute kennt jeder Adrienne Monniers "La Maison des Amis des Livres", die erste avantgardistische Buchhandlung und erste Leihbücherei Frankreichs. Zwei Häuser weiter zog schließlich Sylvia Beach mit "Shakespeare & Company" ein, jenem legendären Treffpunkt der Emigranten, in dem sie zur Poststelle und Kontaktbörse wurde. Ein damals völlig unbekannter Journalist und Möchtegernschriftsteller namens Hemingway lieh sich bei Adrienne Monnier aus Geldmangel Bücher, während Sylvia Beach seinen Sohn hütete. Sylvia hatte ein Herz für ihre Kundinnen und Kunden, war aber auch ungemein mutig. Ständig in Gefahr, verhaftet zu werden oder in den Bankrott zu geraten, gab sie den in den USA verbotenen Roman "Ulysses" von James Joyce heraus.

In den beiden Buchläden des lesbischen Paars ging die künstlerische und literarische Welt Europas ein und aus. Eine aus Deutschland geflohene jüdische Fotografin lichtete diese Berühmtheiten alle ab, indem sie sich Endstücke von 35-mm-Filmen zusammenschnorrte. Adrienne mietete Stühle, lud die Fotografierten ein. Die Wände waren mit weißen Leintüchern bedeckt und die später weltbekannte Giselle Freund projizierte ihre Portraits darauf. Vorher hatte Man Ray hier seine ersten Bilder ausgestellt. Die beiden Buchhändlerinnen ließen sich für die Kundschaft ständig Neues einfallen. Bei Adrienne konnte man sämtliche europäischen Avantgarde-Zeitschriften lesen oder kaufen - und beide veranstalteten Lesungen, Musik-Tees oder Ausstellungen. Kein Wunder, dass sich hier wichtige Kontakte ergaben und Künstlerinnen oder Literaten gemeinsame Projekte entwickelten.

Die Namen der Männer sind Schulstoff: Breton, Apollinaire, Cocteau, Gide. Vielleicht erinnert man sich an Colette. Und die anderen Frauen?

"Paris war eine Frau. Die Frauen von der Left Bank" erzählt ihre Geschichte. Die amerikanische Film- und Kulturhistorikerin Andrea Weiss, die für ihren Doku-Erstling "Before Stonewall" den Emmy bekam, drehte mit Greta Schiller als Regisseurin zunächst den gleichnamigen preisgekrönten Film, in dem die beiden Frauen Giselle Freund noch interviewten. Der in der Edition Ebersbach erschienene, mir vorliegende Bildband ist nur noch antiquarisch erhältlich, doch liefert Rowohlt offensichtlich wieder das Taschenbuch. Die DVD mit dem Film kann man immer wieder im Antiquariatshandel finden. Untergehen sollte beides nicht - es ist ein Standardwerk der Frauengeschichte.

Andrea Weiss schreibt sehr lebendig und unterhaltsam, sie montiert ihre eigene Erzählung so geschickt mit Originalzitaten der Beteiligten zusammen, dass man in diese lebendige Frauengesellschaft der Avantgarde zurückversetzt wird. Achtundzwanzig außergewöhnliche Frauen werden in dem Buch portraitiert, darunter z.B. Frauen wie die irische Designerin und Architektin Eileen Gray, die französische Malerin Marie Laurencin oder die amerikanische Kunstsammlerin Gertrude Stein mit ihrer Partnerin Alice B. Toklas.

Symptomatisch sind die Lebensläufe - wenn etwa die Millionenerbin Nancy Cunard mit ihrer Familie brach, um als Dichterin mit der Bohème zu leben - oder wenn Radclyffe Hall in ihrem Roman "The Well of Loneliness" (1928) von Paris aus für mehr Toleranz gegenüber lesbischen Frauen warb und bis 1948 in England verboten blieb. Da ist die Nichte von Oscar Wilde, Dolly Wilde, die auch Schriftstellerin wurde, sich aber durch Alkohol und Drogen zugrunde richtete. Oder die Schriftstellerin und Journalistin Solita Solano, die auf ihre Karriere verzichtete, um ihre Partnerin Janet Flanner zu unterstützen, die als Korrespondentin für den New Yorker schrieb. Die große Natalie Barney, von Dutzenden von Schriftstellern in Romanen verewigt, brach in ihrem Salon zahlreiche Frauenherzen und förderte die größten Talente unter männlichen wie weiblichen Intellektuellen und Künstlern.

Es ist ein faszinierend breites, individuell äußerst reiches Spektrum von Frauen, die zu Pionierinnen in Architektur, Fotografie, bildender Kunst, Ballett, Theater, Modedesign und Kinematografie werden. Das Buch von Andrea Weiss macht deutlich, warum es dieses Paris der Rive Gauche, des linken Seineufers, nie mehr danach geben konnte: Hier lebten sie alle miteinander auf engem Raum, die Migranten und die Einheimischen, die Menschen aus so extremen Enden der Welt wie Amerika und Russland. Ihre Unterschiede waren teilweise gravierend, von der sozialen Herkunft her, der Kultur, der Religion oder Bildung. Aber es herrschte ein respektvoller Umgang, bei dem sich die Unterschiede gegenseitig befruchteten. Es wurde weniger integriert als experimentiert - es wurde gelebt, was man heute "Interkultur" nennt. Und da war noch etwas anders...

Die meisten dieser ungemein begabten und zum großen Teil auch heute noch berühmten Frauen hatten zur Zeit ihrer Ankunft in Paris weder Mann noch Kinder - und ihre sexuellen Vorlieben waren beileibe nicht genau definiert oder gar lebenslänglich festgeschrieben. In der Bohème von Paris fanden sie die Freiräume, ihre eigenen Vorstellungen zu leben und selbstverständlich mit Menschen umzugehen, die andere Vorstellungen hatten. In diesem Paris, das es nicht mehr gibt, probten Ausländer wie Einheimische neue Lebens-, Liebes- und Arbeitskonzepte, die teilweise so ihrer Zeit voraus waren, dass man sie erst in den 1960ern wiederentdeckte. Es waren die Kriege und Nationalismen, die dieses Paradies zerstörten.

Hier setzt auch mein einziger Kritikpunkt an: Das Buch konzentriert sich im Widerspruch zu jener Wirklichkeit doch sehr auf englischsprachige Migrantinnen. Ich hätte mir auch ein paar Beispiele aus anderen Kulturen gewünscht, von Frauen, deren Namen nur kurz angerissen werden.

Paris, das einstige kulturelle Zentrum Europas mit seiner Fernwirkung bis in die USA und nach Russland ist heute eher ein inszeniertes Museum alter Glanzzeiten. Migranten werden in die Ghettos der Banlieues gepfercht und Frauen haben in den Vorstädten nur noch wenig zu lachen. Das reich mit Fotos bebilderte Buch von Andrea Weiss lässt jedoch eine Welt auferstehen, die uns so fern gar nicht ist, wie sie scheint. Wir könnten uns von vielen dieser Frauen eine gehörige Scheibe abschneiden, was den Mut betrifft, sich selbst und die eigene Kunst völlig selbstverständlich zu leben, auch wenn der Mainstream anderes propagiert.

Andrea Weiss: Paris war eine Frau. Die Frauen von der Left Bank. Paperback: Edition Ebersbach (antiquarisch), TB: rororo.
Paris war eine Frau. Film von Andrea Weiss und Greta Schiller (Regie) (Im Original "Paris was a Woman" im Handel, in limitierter Auflage auf Deutsch bei Delicatessen)

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