Folterwerkstatt Schule

Mir fällt auf, dass sich an unterschiedlichen Stellen im Internet Hobbyschreiber und selbst Autoren über extrem negative Schulerlebnisse auslassen, bei denen vor allem die Lektüren schlecht wegkommen. Ich bekomme den Eindruck, Schule vergälle einem grundsätzlich das Lesen und Autoren vergällen einem die Schule. Und ich schüttele den Kopf, etwas fassungslos, denn entweder bin ich unter diesen Leuten der Alien oder ich habe eine wirklich verrückte Schule genossen. Ohne meine Schule, ohne meine Schullektüren und die Schulbibliothek wäre ich heute ein Nichts. Ich hatte nicht das Glück, ins Bildungsbürgertum geboren zu werden, ich lebte nicht in einer Bücherkultur - für mich war die Schule der Einblick in diese neuen Welten - und die Chance meines Lebens. Als eines der ganz wenigen Arbeiterkinder litt ich zwar unter schnöseligen Klassenkameraden, aber die Lehrer setzten als Kriterium Grips, nicht Geld.

Ich war wohl verrückt, dass mir Schule Spaß machte und dass ich mich freiwillig foltern ließ. Als ich mit elf Jahren im freiwilligen Altgriechischkurs bunte Konjugationstabellen auf Packpapier entwarf, war das keine Hausaufgabe, sondern Spaßvergnügen. Als jener Lehrer uns Anfängern den ersten Text vorlegte, stöhnten alle auf. Da stand darunter die Wort-für-Wort-Übersetzung in Italienisch, Französisch, Spanisch, Lateinisch, Hebräisch, arabischer Umschrift und - Sanskrit! Wir waren im ersten Jahr Latein, keine weiteren Fremdsprachen. Der Mann musste durchgeknallt sein! Und er verbot uns, Vokabeln auswendig zu lernen! Erfühlen sollten wir sie, zerlegen, Wurzelverwandtschaften ahnen. Guten Tag, du Wort, wie heißt du? Ich glaube, ich bin kürzlich deiner Tante in Indien begegnet, die hieß so ähnlich. Ach, dein spanischer Vetter bedeutet das auch?!

Der Mann war in unseren Augen nicht der einzige Verrückte. Ein anderer Griechischlehrer hatte eben ein System entwickelt, ohne Sprachen zu erlernen, Zeitungen in Dänisch, Schwedisch und Norwegisch querzulesen. Und einer gab mir eine gute Note, weil ich die Vokabel nicht sagen konnte, aber genau wusste, dass sie in der ersten Spalte die dritte von oben war, und fotografisch erinnerte, was auf der Seite stand. Mindestens die gleiche Hirnleistung, fand er. Ich erkannte erst in Studienzeiten, welches Geschenk uns diese "Verrückten" gemacht hatten: Etymologisches Sprachgefühl, linguistische Fähigkeiten, ein Gefühl für Sprache. Sprachen fielen mir zu und auch ich lese manchmal Zeitungen in Sprachen, die ich nie gelernt habe. Ein deutsches Wort ist für mich nicht einfach ein Wort, es ist Klang, es hat feinste inhaltliche Nuancen gegenüber seinem nur scheinbar gleichbedeutenden Nachbar, die anders sind. Als Kinder hatten wir Schatzkisten, in denen wir Wörter sammelten - jeden Tag ein besonderes Wort.

Unser Deutschlehrer, den ich dann im Leistungskurs genossen habe (Gymnasium in den Siebzigern), war der Verrückteste von allen. Ich fürchtete ihn. Ich hasste ihn manchmal. Er brachte mich auf die Palme. Und er faszinierte uns trotzdem alle. Er verlangte Unmenschliches. Seine Hausaufgaben wären auch nicht zu schaffen gewesen, wenn wir keine anderen Fächer gehabt hätten. Zwei mal die Woche ein Buch lesen, Inhaltsangabe und Kurzinterpretation - wann sollten wir ins Schwimmbad gehen? Wir schrieben voneinander ab, organisierten die Arbeit. Jede Woche musste ein anderer schuften, die übrigen variierten seinen Text.

Als es sich eingespielt hatte, kam jener Lehrer grinsend an und spendierte uns Kindlers Literaturlexikon. Damit ihr lernt, wie man richtig abschreibt, sagte er. Ihm war bewusst, dass ein einzelner Mensch nicht alles wissen kann. Er wollte uns beibringen, wie man von anderen lernt, wie man recherchiert, wie man sich kundig macht. Aber auch zeigen, wo es der eigenen Kritikfähigkeit bedarf, wo man das Denken selbst einschalten muss. Und wenn wieder einmal jemand von uns den Kindler allzu sauber herbetete, dann blickte er ihn an und sagte: Was hat das jetzt mit dir zu tun? Was bringt dir dieses Buch für dein Leben? So ging es ran ans Eingemachte.

Unsere Lektüren lebten. Wir Mädchen hatten fast alle eine Sabeth-Phase, während wie Max Frisch lasen. Trugen Pferdeschwanz und den Kamm in den schwarzen Cordjeans. Als wir Thomas Manns "Tod in Venedig" von allen Seiten auseinandernahmen, gingen wir gleichzeitig in die berühmte Verfilmung von Visconti. Manche von uns haben die Rocky Horror Picture Show 80 mal angeschaut, aber im Visconti waren wir auch 20 mal und starben zu Gustav Mahlers Musik den lustvollen Tod. Es war ausschweifend, aber auch hart und brutal. Vor den täglichen mündlichen Prüfungen zitterten selbst die Besten. Angespannt, mit verächtlich kritischem Gesicht machte sich der Lehrer sichtlich schlimme Notizen. Je weniger man wusste, desto mehr schrieb er.

Kurz vor dem Abitur vergaß er einmal, solch ein Blatt mitzunehmen. Wir konnten es nicht glauben. Männchen, Blümchen, Gekritzel, Muster. Wir fragten ihn danach. Aber er grinste nur frech. Ob wir etwa glaubten, das Leben sei ein Zuckerschlecken? Es ginge doch nicht darum, etwas auswendig herzubeten. Wir müssten lernen, mit Stresssituationen fertig zu werden. Unerbittlichen und feindlichen Chefs ins Auge zu blicken. Unser Wissen nicht zu sammeln, sondern praktisch anzuwenden. Und da hätten wir ja bereits gute Strategien entwickelt. Unser Wissen war allerdings auch nicht ohne. Als wir zu Besuch auf der Uni waren, schüttelten Germanistikstudenten den Kopf und sagten: Das kommt bei uns erst im dritten Semester dran.

Der Mann quälte uns noch mehr. "Tod in Venedig" zu lesen und auseinanderzunehmen reichte ihm nicht. Davon lernt man kein Schreiben! Zuerst mussten wir die Erzählung jeden Tag neu interpretieren! Am Montag waren wir ein frommer Pfarrer, am Dienstag eine Marktfrau, am Mittwoch ein Psychoanalytiker usw. Des Rollenspiels nicht genug. In der nächsten Woche sollte es eine Episode, eine Szene aus unserem eigenen Leben sein, die wir in eine Kurzgeschichte verpacken mussten. Montags spielten wir Thomas Mann, dienstags Berthold Brecht, mittwochs bekamen wir einen Theaterauftrag als Friedrich Schiller im Sturm und Drang etc. Und ganz am Schluss durften wir alles noch einmal machen: als wir selbst. Als eigenständige Schreibpersönlichkeit.

Hätte uns damals jemand gesagt, dass es in der Zukunft Autoren geben werde, die über kreatives Schreiben redeten und Schreibratgeber bräuchten, wir hätten daran so sehr geglaubt wie an die Existenz des Flaschengeistes Jeannie.

Vielleicht war meine Schule besonders verrückt. Besonders hart in den Anforderungen war sie unbedingt. Ich aber habe für meine schriftstellerische Arbeit immer am meisten von den Harten gelernt, von den besondes Kritischen, von den Unbequemen. Natürlich brauchte auch ich Lob und Motivation. Aber wirklich entwickelt habe ich mich dann schreiberisch, wenn mir einer mein "Können" zerrupft hat, mir gezeigt hat, wo es klemmt, wo es nicht genügt. Schullektüren haben mir etwas gegeben, wenn ich mit ihnen kämpfen musste, wenn sie nicht schön und glatt eingingen. Ich habe Bücher lieben gelernt, die mir zuerst zuwider waren, weil ich gelernt habe, warum ich mich abstoßen lasse. Ich lernte, dass richtiges Lesen Arbeit ist, Dialog, ja fast ein Ringen um eine Liebesbeziehung. Und ich bin heute dankbar, dass man mir als Kind schon einimpfte, dass es nicht reicht, mit sich zufrieden zu sein, dass es immer Grenzen gibt, die zu überwinden einem erst den freien Flug ermöglicht - bis zur nächsten Grenze.

Ich bin froh, dass ich diesen faszinierenden und Furcht einflößenden Lehrer hatte. Der übrigens für seine Verstöße gegen den Lehrplan und unkonventionellen Lehrmethoden nicht nur eine Verwarnung einsteckte und so ein Beispiel für Rückgrat und Zivilcourage wurde. Als ich ihm erzählte, was ich studieren wolle, sagt er, ich vergesse das nie: "Jeder Mensch muss mindestens einen Unsinn in seinem Leben machen. Aber versprechen Sie mir, komme, was da wolle, nie, auch nicht einen Tag mit dem Schreiben aufzuhören!" Schade, dass ich ihm nicht mehr sagen kann, dass mich dieses Versprechen auch heute noch antreibt.

2 Kommentare:

  1. Hi Petra,
    ich bin gerne in die Schule gegangen (ich weiß, das soll man nicht zugeben). Ich habe so viel aus der Bücherei heimgeschleppt, wie ich nur tragen konnte. Bei der Schullektüre war es unterschiedlich, meine Vor- und Misslieben sind aber eigentlich ziemlich geblieben. Herrmann Hesse (auch das darf man im Netz kaum zugeben ohne wütende Kommentare zu bekommen) kann ich heute noch kaum ertragen und mir ist unverständlich, wie so eine rückwärtsgewandte Innerlichkeitsschreibe nobelpreiswürdig war. Brecht finde ich dagegen immer noch toll. Vielleicht werden wir doch sehr früh geprägt. Bei der Musik ist es aber anders: Da wollte ich immer mit viel Wumms drin Bruckner, Mahler Sinfonien. Heute kann ich durchaus auch den Feinheiten in der Kammermusik etwas abgewinnen.

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  2. "ich weiß, das soll man nicht zugeben"
    "auch das darf man im Netz kaum zugeben ohne wütende Kommentare zu bekommen"
    Hinter welch seltsamem eisernen Vorhang lebst denn du, Alexander? ;-)

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