Twitter-Märchen

Die einen halten es für Zeitverschwendung und reine Spielerei, die anderen nutzen es intelligent für den Beruf und manche sollen sogar süchtig sein: Es ist die Rede von Twitter. Für Generalverweigerer sei kurz erklärt: Twitter ist Teil der sogenannten Social Media, des kommunikativen Internets. Vergleicht man Social Media mit Putzwerkzeugen, wäre Twitter vielleicht der Wischlappen, denn es ist schnell und einfach zu benutzen, hat aber durchaus ein wenig Chaos an sich. Ob es sich damit putzen lässt, liegt wie bei allen Mitteln in der Hand des Benutzers.

Viel wird darüber geschrieben, doch die wenigsten erzählen prägnant vom wirklichen Nutzen in Spezialgebieten. Ganz anders Wibke Ladwig, Online-Managerin in der Buchbranche. Ihr Interview für "Verlage der Zukunft" ist absolut lesenswert: "Durch Twitter können Verlage direktes, unverfälschtes Feedback erhalten". Autoren sollten unbedingt auch hineinschauen, denn sie erfahren nicht nur, was Verlage so treiben, sondern vor allem, wie sich die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Gruppen der Buchbranche verändert - bis hin ins reale Leben abseits der Bildschirme. Vieles gilt auch für Autoren. Was Wibke Ladwig von Twittagessen und Buchcamps erzählt, erinnert mich an meine eigene Twitterlaufbahn. Nach einem Jahr ist es Zeit für ein Resumée, ein sehr persönliches aus Autorensicht - nachdem ich Twitter lediglich als "beruflichen Kanal" auf Herz und Nieren testen wollte.

Vorweg: Ich klöne nicht privat auf Twitter herum und erzähle nicht, dass mir gerade der große Zeh juckt. Es sollte von Anfang an ein berufliches Kommunikationsmedium sein, einigermaßen begrenzt auf Buchbranche, Kunst und Kultur. Dementsprechend handverlesen und zahlenmäßig begrenzt sind die Leute, denen ich folge (deren Beiträge ich sozusagen abonniere und tatsächlich lese). Bei denen, die mir folgen, filtere ich Werbekram und Blödsinn aus, soweit das möglich ist: Klasse statt Masse. Meine Strategie ist diesselbe wie im Blog: Keine Dauerwerbung abzusetzen, kein reiner Info-Ticker zu sein, sondern ein ansprechbarer Mensch - professionell, aber authentisch, und offen für Chaosstrukturen des Mediums. Diesbezüglich hatte ich gerade mal wieder eines der schönen Twitter-Erlebnisse, als ich eine docx-Datei nicht öffnen konnte. Nachgefragt - und innerhalb weniger Sekunden bekam ich die Lösung und Tipps obendrein. Ich bekam bei Twitter aber noch viel mehr...

Angefangen hat alles damit, dass die dem Medium gegenüber überkritische Autorin namens @buchfieber spaßhalber an einem Buchgewinnspiel mitmachte und prompt gewann. Es entspann sich ein Dialog, das Buch begeisterte mich heftig wie lange kein anderes mehr, und ich besprach "Die Engelspuppe" im Blog. Daraus wiederum ergab sich ein netter Mailwechsel mit der Verlegerin, die heute auch twittert. Ich hatte von ihrem Verlag zuvor noch nichts gehört. Aber sie gab mir unbewusst den Anstoß, mehr Verlage entdecken zu wollen, deren Bücher nicht in jeder Buchhandlung auslagen. Heute muss ich sagen: Twitter ist ein Eldorado der Independents, die in diesem Medium genauso laut und sichtbar erscheinen wie Großverlage - die aber in Sachen Social Media manchmal flexibler sind. Nicht wenige von ihnen zeigen nämlich Persönlichkeit und kommunizieren wirklich, anstatt nur Meldungen abzusetzen - das macht sie sympathisch und ihre Follower neugierig auf die Bücher. Viele Verlage in meiner Blogliste habe ich aufgrund von Twitter entdeckt oder wiederentdeckt.

Seit Twitter bin ich informierter als früher. Bis ich Zeit habe, abends die Nachrichten anzusehen, weiß ich längst mehr, als in der Sendung erzählt werden wird - oft sogar das, was man bewusst weglässt. Denn ich habe wichtige Medien und auch einige Medienleute abonniert und erfahre Nachrichten weltweit. Diese Auswahl bringt mir den Stoff schneller als unzählige Feed-Abos. Ich schätze durchaus auch die Auswahlfunktion mancher Kollegen, von denen ich weiß, sie empfehlen Artikel zu meinen Interessensgebieten als Mensch, nicht als Software. Die neuesten Nachrichten der Buchbranche bekomme ich ebenfalls auf dem Silbertablett serviert.

Zuerst überraschte mich, wie Twitter die Begrenztheiten unseres Berufs aufhebt. Im echten Leben oder in Autorenforen erscheinen die Verlage mit ihren Lektoren gerne mal als Institutionen und Menschen mit konträren Interessen. Kommunikation ist begrenzt, wird meist von den Agenturen erledigt und findet allenfalls beim Buchlektorat intensiver statt. Plötzlich erlebte ich eine völlig andere Welt: Verlagsmitarbeiter oder Verleger, Beschäftigte der Buchbranche und deren Medienmacher, Buchhändler und Antiquare, Übersetzer, Lektoren, Autoren, aber auch Leser kommunizieren auf Augenhöhe wie an einem gemeinsamen Tisch. Da wird endlich fühlbar, dass ein Buch zwar ohne Autoren nicht existieren könnte, aber ohne das Teamwork vieler Beteiligter auch gar nicht das Licht der Welt erblicken würde. Endlich konnte ich Leute befragen, mit denen ich sonst nie in Kontakt gekommen wäre! Endlich konnte ich die Sicht der anderen Gruppen kennenlernen - und meine eigene dadurch öfter in Frage stellen.

Durch die offenere Kommunikation im Internet verlor ich auch die Scheu, Menschen anzusprechen, die man "normalerweise" als Autor nicht einfach so "anhaut". Und dank der Chaosstruktur von Twitter kam man natürlich öfter ins Klönen und Diskutieren - und wenn die 140 Zeichen zu knapp waren, folgten Mails nach. Die Knappheit habe ich als Spracharbeiterin übrigens schätzen gelernt. Man verblödet dabei nicht, wie oft prophezeit, man lernt im Gegenteil, seine Inhalte besser zu konzentrieren und zu strukturieren. Wer den Inhalt eines Buchs in drei Tweets pitchen kann, punktet damit auch in der Bewerbungssituation am Telefon.

Und was ist konkret passiert? Es klingt wie ein Twitter-Märchen, aber die Begebenheiten sind ganz real und irgendeiner seltsamen Chaos-Magie gedankt. Zunächst hatte sich mein Denken in Sachen "Büchermachen" stark verändert. Ich war zwar durch reale Ereignisse schon bereit, noch dickköpfiger "mein" Schreiben zu verfolgen und wenn nötig Grenzen zu überschreiten. Aber richtig aufgehetzt, es auch tatsächlich zu tun, haben mich ein paar kluge Köpfe aus der Buchbranche bei Twitter, zum Teil sogar aus Verlagen. Dort erfuhr ich später auch, dass es gar nicht mehr ehrenrührig ist, ein Buch selbst herauszubringen - diese Legende kursiert eigentlich nur noch unter Autoren und Feuilletonisten.

Da kam dieses Foto. Es gibt bei Twitter ganz witzige Rituale, manchmal sind es kollektive Sprachspiele mit Falschbuchstaben, manchmal fotografieren Leute den Himmel über sich. Ich bekam ein Himmelsbild geschickt und juchzte: Unter dem Himmel prangte ein riesiges Plakat eines Nijinsky-Balletts. Zufällig folgte ich auch dem Opernhaus, das es inszenierte. Ich weiß nicht mehr genau, welcher Teufel mich ritt und welche Synapsen sich ohne mein Zutun wild verschalteten. Mein Hirn und meine Finger handelten ganz ohne mich. Plötzlich hatte ich die geniale Idee für mein Buch, das mit dem Hörtext viel zu kurz war und auch etwas Unverwechselbares brauchte.

Kurzum: Ein Tweet ans Opernhaus brachte die Sache ins Rollen und schon am nächsten Tag hatte ich jemanden am Telefon, den ich noch vor einem Jahr nicht gewagt hätte, zu kontaktieren. Nicht, dass ich schüchtern wäre - ich telefoniere mich als Journalistin auch bis zum Papst durch, wenn es sein muss. Aber mein Anliegen empfand ich doch als ziemlich schräg. Das fand der Mensch am Telefon offensichtlich nicht. Also wurde ich richtig verwegen. Bei Twitter war nämlich noch jemand, mit dem ich mich fleißig austauschte... Nein, zuviel wird nicht verraten, dazu ist es noch zu früh. Nur wäre ohne Twitter das Nijinsky-Buch in dieser Form nie entstanden, wäre ich nicht einmal auf die Idee gekommen, ein Buch in dieser Weise aufzuziehen.

Na - und dann war da noch die an Ballett interessierte BücherFrau... Auch so eine Vereinigung, von der ich früher zwar einmal nebulös gehört hatte, die mir aber nichts sagte. Es wurden dann immer mehr BücherFrauen bei Twitter und aus dieser Kommunikation heraus entstand meine Idee zur "Buchbranchen-Frauenwoche" im Januar im Blog. Die Interviews dazu kamen durch Twitter zustande. Und dort wurden in gemeinsamer Kommunikation auch weitere Ideen geboren. Spaßhalber und ohne viel zu erwarten, fragte ich nämlich meine Follower, welche von Frauen geführten Verlage sie kennen würden. An zwei Tagen habe ich gefragt und vielleicht eine Stunde investiert. Erfreulich viele Verlage haben mitgemacht. Herausgekommen ist eine stolze Liste, die jeden Blogbeitrag sprengt und deshalb anders "haltbar" gemacht werden wird. Twitter ist für mich inzwischen auch ein Rechercheinstrument und ein feiner Kanal, Kollegen Fragen zu stellen - etwa wenn man als Übersetzerin Anhaltspunkte für Honorare braucht. Und es ist ein Pool an Kompetenzen - sollte ich schnell einmal eine Grafikerin brauchen, wüsste ich sofort, wen ich ansprechen kann.

Was das "social" betrifft, war ich immer besonders kritisch. Ist es nicht eher so, dass Menschen, die ständig im Internet kommunizieren, keine Zeit und kein Interesse an "Echtleben"-Kontakten haben? Zum Glück ist das Gegenteil der Fall. Einige besondere Menschen haben Eingang in mein reales Leben gefunden, auch wenn vielleicht aufgrund der allzu großen Entfernung erst einmal nur Mails und Telefon reichen müssen. Aber man bleibt eben nicht mehr nur im Internet - viel schneller als früher greift man zum Telefon, um eine Dimension hinzuzufügen. Wäre ich mobiler, hätte ich längst an einem Buchcamp teilgenommen. Bei der nächsten Buchmesse werde ich garantiert Kontaktmöglichkeiten à la Twitter nutzen und gern auch die Verlagsleute an ihren Ständen persönlich kennenlernen. Bis dahin freue ich mich auf kleinere Treffen, die Menschen zusammenbringen, die hunderte von Kilometern auseinander leben und arbeiten. Social Media haben die Teilnehmer tatsächlich mobiler gemacht, bringen Online-Kontakte ins echte Leben - vorausgesetzt natürlich, man ist offen dafür.

Ein paar Nachteile hat das reale Märchen Twitter natürlich auch:
  • Es ist mittlerweile nervig, die elenden Spam-Follower auszusortieren, aber die völlig offene Struktur macht auch den Reiz des Mediums aus. Für Extrem-Spam gibt es inzwischen eine App.
  • Man kann nur eine begrenzte Zahl von Leuten in der Timeline wirklich lesen und muss sich entweder beschränken oder mit Listen arbeiten.
  • Man braucht wie in allen Medien des Internet eiserne Disziplin im Zeitmanagement. Auf der anderen Seite wären einige der oben genannten Kontakte nie ohne wildes Klönen über den Zeitplan hinaus zustande gekommen.
  • Wer nicht wirklich kommunikativ ist, sollte die Finger davon lassen. Kommunikationsjunkies müssen sich öfter auf diesselben klopfen...

3 Kommentare:

  1. Das Märchen hat eine Fortsetzung.
    Ich konnte nämlich endlich jene docx-Datei öffnen, hinter der sich etwas für mein Nijinsky-Buch verbarg. Im Moment tanze ich erst einmal einen Indianertanz vor Freude und kann nur soviel sagen: Dieser "verwegene Plan" trägt Früchte, wie ich sie mir kaum erträumt habe! Hach, wird das ein Buch :-)
    (Rechtzeitig vor Erscheinen werden die Geheimnisse natürlich gelüftet werden.)

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  2. Liebe Petra,
    da ich inzwischen eine gewisse Vorstellung davon habe, wie Sie leben und arbeiten, kann ich Ihre Begeisterung für Twitter nachvollziehen.

    Die Nachteile, die ich bei Twitter sehe, liegen sicher daran, dass ich nicht alle Feature des Systems nutze, oder nicht sowieso den ganzen Tag neben einem Bildschirm sitze. Wenn ich mal Nachts in Twitter reinschaue, ist dort niemand in der gleichen Zeitzone.

    Eines verstehe ich nicht, warum Sie sich die Mühe machen Follower zu selektieren. Follower denen SIE NICHT auch folgen, können Sie doch gar nicht belästigen oder zuspammen?!

    Ich freue mich für Sie, dass Ihr Märchen Wahrheit wird. Wer Ihr Blog verfolgt, weiß wie wichtig das Nijinsky-Buch für Sie ist und welche Kraft Sie daraus schöpfen. Ich drücke Ihnen die Daumen, dass es noch schöner wird, als Sie es hoffen!

    Gruß Heinrich

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  3. Lieber Heinrich,

    das stimmt, Twitter ist asynchron und fürs Chatten darum nur mit Termin oder per Zufall zu gebrauchen. Ich benutze einen Twitter-Client (echofon für Firefox), bei dem ich auch noch am nächsten Tag die an mich gerichteten Tweets lesen und beantworten kann. Außerdem kann man in Profilen nachschauen, was bestimmte Personen über die Tage gesagt haben oder man legt eine kleinere Liste mit den Lieblingen an.

    Ich mache das äußerst zeitsparend, mich "erwischt" man im Internet eigentlich nur in den Kaffeepausen oder wenn ich bei harten Online-Recherchen zwischendurch den Kopf lüften muss (wie eben jetzt, wo ich eine Stätte des Nazimords an psychisch Kranken recherchiere)... Mut zur Lücke also - so ein Medium kann man unmöglich vollständig lesen oder erfassen!

    Follower selektieren: Weil viele sich davon inspirieren lassen (sogar Bots!), bringt ein gewisses Maß an Qualität auch mehr Qualität nach. Je mehr ich Spamming-Accounts sammle, desto mehr finden mich. ;-)

    Und danke fürs Daumendrücken. Im Moment sitze ich vor einem wilden Textsammelsurium, das noch ein Buchtext werden will - ein paar Fachrecherchen und zig Durchgängen an Lektorat. Sie sehen: In jedem Märchen kommen auch Hexen und Ungeheuer vor ;-)
    Schöne Grüße,
    Petra

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