Kopfgemüse

Unter Alkoholikern soll der Spruch kursieren, einen dicken Kater treibe man mit Alkohol zum Frühstück aus. Ich habe das gestern mal ausprobiert. Zum ersten mal seit langem litt ich nämlich an einem "granatenen" Lesekater. Also musste doch Lesen helfen?
Was war geschehen?

Als echte Vielschläferin, die vor zehn Uhr morgens keinen geraden Satz in die Tastatur bekommt und abends nicht aufhören kann, hörte ich auf Rabenbluts Rat, dass ein echter Schriftsteller Wichtigeres zu tun habe, als Geschichten aus der Matratze zu ziehen. Ich las in einer Nacht ein Buch quer, Sachbuch, auf Englisch, 550 Seiten. Das Gefühl am nächsten Tag ist irgendwie wattig, nicht von dieser Welt, zumal die Beteiligten im Buch sich anschließend in die Träume drängeln. Am Morgen glaubt man noch, nach getaner Nachtarbeit Bäume ausreißen zu können, aber nach Schneeschippen und Hundewanderung kommt der Kater dann endgültig. Überdimensionaler Blubberschädel, bleierne Müdigkeit, Konzentrationsschwäche. Und die Welt wie unter Drogen. Weil die üblichen Wachmacher versagten, zog ich mir einfach noch mehr Text rein. Den Teufel mit dem Belzebub austreiben. Klasse. Draußen versinkt die Schneelandschaft in dichtem Nebel und ich frage mich, ob der wirklich echt ist!

Lesen ist schädlich. Ich wollte hier nur noch einmal ausdrücklich davor gewarnt haben! Vor allem, wenn man als Erwachsener wie ich nicht mehr über die Sicherheitsmechanismen der Kinder verfügt, die uns Malte Welding eindrücklich am Beispiel des Jugendschutzdingens erklärt. Wer noch nicht süchtig nach seiner Schreibe ist, sollte das dringend nachholen. Er schreibt nämlich nicht nur für Zeitungen, sondern bloggt auch, was das Zeug hält - etwa mit kuriosen Weihnachtseinkaufstipps für die männliche Hälfte der Menschheit. Ebensolchen Suchtfaktor haben Opern und da bin ich gestern dank Kulturmanager trotz Brummschädel über ein intelligentes, hochunterhaltsames Opernblog gestolpert.

Viel sickerte in mein Hirn dann nicht mehr ein, es machte sich nur eine kleine, fast hämische Freude breit. Fast schon bin ich schadenfroh, wenn ich mir gewisse Stimmen wieder vor Ohren führe, die mir verklickern wollten, osteuropäische, gar russische Themen verkauften sich so gar nicht. Mit meinem Blog renne ich ja seit Jahren gegen diese Arroganz der Inseleinfältigen an. Und jetzt rollt sogar der Ball wahrscheinlich nach Russland und plötzlich diskutiert man wieder Visabestimmungen, so locker wie das vorher kaum möglich gewesen war. Ich freue mich nicht nur aus reinem Eigennutz, weil ich unbedingt einmal Petersburg sehen möchte. Mein kleiner Finger erzählt mir außerdem von immer stärkeren kulturellen Beziehungen, von denen Veranstaltungen wie das deutsche Filmfestival in Petersburg und das Film Festival Cottbus mit Schwerpunkt Osteuropa nur Vorboten sind (und es gibt noch sehr viel mehr ungenannte). Der Westen und Osteuropa werden künftig viel voneinander lernen können - in der Literatur sowieso schon lange.

Ich freue mich über die neuen Zeiten. Früher verschwand ein Projekt ungelesen und abgestorben in der Schublade, wenn etwa Lektorinnen geistreich spekulierten, der gestiegene Ölpreis und die aktuellen Diskussionen um den Oil Peak machten es unmöglich, ein Buch über Erdölgeschichte zu veröffentlichen. Wenn dieselben in ein paar Jahren krampfhaft nach russischen Themen suchen, weil plötzlich alle Welt davon spricht, werden die meinen längst erschienen sein. Ätschebätsch, kann ich dann sagen: Wenn man einen Trend schon so deutlich erkennt wie einen rasenden Zug, dann ist es in der Regel zu spät zum Aufspringen. Dann ist der Zug nämlich schon abgefahren. Das war einmal der weise Rat eines Programmchefs, der seiner Zeit immer um ein paar Jahre voraus war und mich irgendwie mit diesem Gedanken infiziert hat.

Nebel, Häme, Zukunftsmusik? Dagegen hilft nur eins: Nach ein paar wichtigen Mails gönne ich mir einen zweiten Rausch. Einen Leserausch. Ob die Briefträgerin nachher die Memoiren von Misia Sert bringt? Und ist das nicht ein herrlicher Beruf, in dem man die Drogen von der Steuer absetzen kann und sogar die kleinsten Dealer im Internet zusammengeschlossen sind? In dem man diesen verdammten Kater in Kauf nimmt, nur um sich noch mehr Stoff reinziehen zu können?

Disclaimer: Dieser Artikel ist erwachsenengefährdend und sollte weder bei Mondlicht noch an geraden Geburtstagen über 30 genossen werden.

7 Kommentare:

  1. Zuerst wollte ich schreiben: erwarte nicht zu viel, es ist ein in jeder Hinsicht kleines Buch. Dann renne ich mit schlechtem Gewissen ans Regal, vielleicht ist es doch gewichtiger, als ich erinnere. Und es fehlt! Das schöne alte brüchige roro-Bändchen ist flüchtig! Vielleicht ist es vor meiner hartherzigen Erinnerung davongelaufen. Und im Kopf sitzt ein zartes überkandideltes Persönchen, grinst und streckt mir die Zunge raus. Wenn die auch noch hätte schreiben können!

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  2. Du weißt ja: Besessene Rechercheure kaufen sich manche Bücher nur in der Hoffnung, zwei bis drei Originalzitate von Zeitzeugen ausschlachten zu können, die sonst keiner auf der Welt gefunden hat - oder irgendeinen anderen Hinweis auf eine noch unentdeckte Sensation zu finden ;-) Ich habe auch viel zu viel in die angeblichen Memoiren von Diaghilew investiert, ein jämmerlicher Band mit dem Abdruck einiger seiner Notizen - aber immerhin, es waren eben SEINE Notizen. Auch Mme Gabrielle Chanel habe ich nur durchforstet, damit eine einzige, winzige Bemerkung über Diaghilew in meinem Buch landen kann.

    Den 550-Seiten-Klops habe ich nur aus Angst gelesen, weil es ein "Must" ist und ich befürchtete, ich hätte vielleicht Fehler im Manuskript und dieser Autor behauptet womöglich das Gegenteil. Hat er zum Glück nicht, geschwätzig ist er obendrein.

    Beinahe hätte ich gesagt, wenn das Buch von Misia nichts taugt, gebe ich es gern weiter - aber das ist hundsgemein.

    Dank der deutschen Kofferangst kommt aber die Post von dort derzeit gar nicht an, die Engländer sind viel schneller und so schwelge ich jetzt in einem bebilderten Band über den Einfluss der Ballets Russes auf die Mode ihrer Zeit. Wahrscheinlich nichts drin, was ich nicht schon weiß, aber herrliche Fotos...
    ...und noch ein Kater.

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  3. Da habe ich aber "Schwein" gehabt, dass ich zwar schon 3 x 30 bin, aber an einem 3. - also ungerade - Geburtstag habe und diese Köstlichkeiten genießen darf. (Nein, nicht heute!)

    Gruß Heinrich

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  4. Lieber Heinrich, darf ich Sie mindestens einer unwahren Behauptung überführen?
    Grinsegrüße,
    Petra

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  5. "Fast schon bin ich schadenfroh, wenn ich mir gewisse Stimmen wieder vor Ohren führe, die mir verklickern wollten, osteuropäische, gar russische Themen verkauften sich so gar nicht."

    Ich hoffe wirklich, dass Deine Schadenfreude berechtigt ist, auch im eigenen Interesse! ;-)

    Nicht nur in der Literatur können Ost- und Westeuropa viel voneinander lernen. Was wäre die Musik ohne die grandiose russische Schule? Ich könnte nicht leben ohne russische (und polnische) Komponisten und Pianisten.

    Am letzten Wochenende war ich auf einem Adventsbasar, bei dem es echte russische Küche gab. Die Menschen haben den Italiener links liegen lassen und dem Russen die Tür eingelaufen.
    Ich kann nur sagen: lecker!

    Nach beinahe 60 Jahren Südeuropa-Fieber wäre ein Wechsel gen Osten mal sehr spannend und wir müssten nicht mehr ständig den mediterranen Scheiß (Pardon!) essen.

    Ich bete, dass Dein Zug bald losrast!

    Herzliche Grüße und vielen Dank für's verlinken!
    Nikola

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  6. Liebe Petra,
    als ich den ersten Satz las: "Unter Alkoholikern soll der Spruch kursieren, ..." schoss mir sofort der Gelassenheitsspruch durch den Kopf, obwohl Sie auf einen anderen Spruch hinaus wollten. Das ist gerade mein größtes Projekt: An meiner Gelassenheit zu arbeiten - da gibt es noch viel zu tun.
    Aber es ist völlig egal, wie alt ich bin oder noch werde - eines weiß ich mit Sicherheit: Die Weisheit werde ich nie erlangen. Vielleicht ist es eine kleine "Weisheit" wenigstens dieses genau zu wissen. Das würde mich trösten.

    Gruß Heinrich

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  7. Was das Verkaufen betrifft, liebe Nikola, so bin ich in meinem nunmehr 26jährigen Berufsleben immer diejenigen Themen am besten losgeworden, die ungewöhnlich und anders waren - aber immer unter dem Widerstand der Leute, die in konventionellen Schubladen einkauften. Das hat oft dazu geführt, dass ich die Einkäufer gewechselt habe. Als man von mir aus Polen nur Berichte über Schlesier und Wodkasäufer wollte, um Klischees zu bedienen, bin ich zur polnischen und amerikanischen Presse übergewechselt. Kein bequemer Weg, aber ein lohnender. Denn es kommt - immer mehr - auf die Leser an, nicht die "Zwischenhändler". Und von den mutigen Einkäufern lernt man mehr.

    Russische Küche: Hat den gleichen Nachteil wie die elsässische. Lecker, aber nicht für den Durchschnittsschreibtischtäter in warmem Klima gemacht. Sprich, all diese schweren, mächtigen Küchen brauchen eine Adaption ans moderne Leben oder man wird zur Tonne ;-) Ich habe ein wunderbares modernisiertes polnisches Kochbuch - und da wird fleißig von mediterranen Genüssen gelernt. Aber auch das ist nichts Neues, diesen Kochtopfaustausch gab es schon in den Jahrhunderten zuvor, selbst das polnische Wort für Blumenkohl ist ein italienisches.

    Was das Reisen betrifft, so bin ich in meinem gesamten Bekanntenkreis eine der wenigen, die noch nicht in Petersburg war, was mich ehrlich erstaunt. Die müssen da täglich Schiffsladungen von Touristen hinschippern!

    @Heinrich: Gelassenheitsspruch? Kenne ich nicht. Sollten die "Alten" heutzutage nicht eigentlich viel wütender werden? ;-)

    Schöne Grüße,
    Petra

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