Schlaflos in der Bibliothek

Ich habe eine gute Ausrede: Demnächst ist Vollmond, intelligente Tiere sollen das im Voraus spüren und schlaflos werden, sagt man. Der wahre Grund ist prosaischer. Ich hänge fest. Ich hänge verdammt noch mal kurz vor Abgabetermin fest, weil ich den Sprung von Sonia Delaunay-Terk (Madame, das nehme ich Ihnen lebenslang übel, dass Sie sich eingeschlichen haben) zu Strawinsky nicht schaffe!

Dann hat mich meine Mutter ganz konfus gemacht. Ich hätte schon mit fünf Jahren auf Russisch zählen und etwas sprechen können. Bis dahin war ich der festen Meinung, meine erste Fremdsprache sei Latein gewesen. Und dann krame ich im Fremdsprachenregal und finde Hefte. Feinstes Kyrillisch. Klein-Petra hat sich mit importierten Lehrbüchern aus der DDR mit neun Jahren selbst Russisch beigebracht. So, jetzt fehlt nur noch die Hypnosetherapie, die diese vergessenen Schätze wieder ins Wachbewusstsein bringt! Das ist doch alles nicht mehr ganz normal...

Eigentlich bin ich in die Bibliothek gegangen, um eine möglichst einschläfernde Bettlektüre zu finden, eine, die erfolgreich das Recherchehirn abschaltet und die Torschlusspanik am Manuskript vergessen lässt. Hätte ich nur nicht ein derart fotografisches Gedächtnis! Vargas zum zweiten Mal? Unmöglich, wenn man den Mörder kennt. Vielleicht doch noch ein ungelesener Turgenjew, Tolstoi oder sonst etwas Passendes zum Manuskript?

Im "Russenregal" fällt mir ein schmales Bändchen mit schwarzem Rücken auf, ohne Titel, ohne Autor. "Der lebendige Leichnam" von Tolstoi - so fühle ich mich gerade auch. Ein Drama als Bettlektüre? Nijinsky hat Tolstoi verehrt. Widerwillig blättere ich darin. Das Buch kommt mir völlig unbekannt vor, warum habe ich das nie angeschaut? Jemand hat es signiert - 1918. Die Zeit, über die ich gerade schreibe, aha. Das Jahr, in dem Nijinsky Tolstoi nacheifern wollte. Ein uraltes Briefkuvert fällt mir entgegen. Sind das Fotos? Ja, das sind zwei Fotos. Echte, alte. Aufnahmen von einem gewissen Alexander Moissi in der Rolle des Fedja.

Neugierig, wie ich bin, schlage ich den Mann sofort im Internet nach. Zwischen 1910 und 1930 der berühmteste Schauspieler im deutschsprachigen Raum, lese ich, vor allem als Fedja. Von Max Reinhardt gefördert. Hat irgendeine Rolle im Studenten von Prag gespielt. Man kann ihn sogar hören, lebendig, obwohl tot. Komische Tage gibt es...

Neben meinem Computer liegen Notizen über den Einfluss eines Balletts von Nijinsky auf Max Reinhardt (Nijinskys Schwester hat später für ihn sogar gearbeitet). Und darunter versteckt sich ein Blatt Papier mit der wirren Notiz "vgl. 1913 Der Student von Prag, Expressionismus, Doppelgänger, Maschinenmenschen, Petruschka..."

Was soll man machen: Aus dem Bett wird nichts mehr. Strawinskys Petruschka auf die Ohren, Papier, Bleistift - und dann direkt von Sonias drehenden Scheiben in drehende Rhythmen hinein. Ich habe meine Überleitung. Und ein wenig Grusel vor den unbekannten Tiefen meiner Bibliothek. Aber ach was: Es ist nur der Mond schuld.

2 Kommentare:

  1. Sabine Kanzler5/8/09 08:24

    Petra, es gab Zeiten, da wärest Du mit dieser Geschichte locker als Hexe durchgegangen......

    ;-)

    Sabine

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  2. Haha, Sabine, ich erzähle hier ja nur die kurzweiligen Geschichten, wenn ich noch die kleinen Fast-Katastrophen dazuzähle, käme ich auf ein hübsches Making-Of (z.B. die fieberhafte Suche nach dem raren Recherchematerial in vier Ländern nebst Kauf).
    Ich glaube, an dem Tag, an dem das Hörbuch aus dem Presswerk kommt, gibt es ein Fest! Wenn ich aber daran denke, wie bald das sein wird und was bis dahin noch zu machen ist...

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