Virtuelles Echtleben

Ich muss immer lachen, wenn zwei sich über virtuelles und echtes Leben streiten, als hätten wir online nur mit Zombies und in der Fußgängerzone mit garantiert echten Menschen zu tun. Als würde ein "himmlischer Äther" immer noch über einer fixen Glaskugel schweben, die Erde darunter eine Scheibe. Dann kommen noch Menschen wie der Chef der New York Times daher und behaupten vollmundig, Twitter und Facebook würden das Gehirn umstrukturieren und verblöden, weshalb er selbst kaum twittere, aber um viele viele Retweets bitte. Für sein Buch natürlich, das ob der Online-Debatte zum ganz realen Bestseller wird.

Vor Urzeiten empfahl ich in diesem Blog das hochspannende Sachbuch "Ich. Wie wir uns selbst erfinden" von Werner Siefer und Christian Weber (campus), das sich liest wie ein Wissenschaftsthriller und den Stand der Hirnforschung von nunmehr 2006 wiedergibt. Demnach kann man seinem Hirn gar nicht oft genug solche Umstrukturierungs-Anreize bieten und es bis ins hohe Alter mit neuen Denkmechanismen bombardieren - das hält das edle Teil nämlich besonders fit. Dass man der grauen Schwabbelmasse dabei nicht nur einen einzigen, suchtgetriebenen Cocktail bieten sollte, versteht sich von selbst. Wer jeden Tag nichts anderes trinkt als Orangensaft, bekommt irgendwann einen übersäuerten Magen. Man achte aber demnächst einmal darauf, wie viele Wöff-Klicko-Säufer online erzählen, nur Wöff-Klicko mache intelligent. Nee - das macht im Übermaß den gleichen übersäuerten Magen.

Was mich betrifft, so muss ich mit Schrecken gestehen: Das Social Web beeinflusst schon mein geheimstes Privatleben. Dank Matthias Brömmelhaus (Twitter + Blog + Facebook) ist seit Jahren endlich wieder meine Mordlust gestillt. Nachdem das Genre Krimi gerade ebenso vermüllt wird wie dazumal der historische Roman (Perlen gibt es, aber man findet sie immer schwerer), habe ich schon ewig keinen guten Krimi mehr in der Hand gehabt. Aber heute habe ich dank ihm Tana French entdeckt und beim ersten Reinlesen bemerkt: Es gibt tatsächlich noch Verlage, bei denen Krimis nicht allein aus Blutsoße in Strömen bestehen müssen, sondern Niveau und Sprache haben dürfen!

Rabenblut (Twitter + Blog + Facebook) wiederum ist schuld daran, dass ich mir nach dem gestrigen Stress und dem heutigen in der Tierklinik ("nein, keiner zieht mir Fäden") einen vergnüglichen freien Tag gönne. Vergnüglich deshalb, weil ich Miss Pettigrew (auch verfilmt worden) verfallen bin, einer von Nikola so warmherzig empfohlenen Screwball-Komödie aus den 1930ern. Nichts fürs heutige Frauenbild, aber sie liest sich so kurzweilig wie ein zerkratzter Schwarz-Weiß-Film, in dem sich Platinblondinen und Brünette mit Schnurrbartträgern und Schwiegermutters Liebling die Dialoge um die Ohren hauen. Und die Glamour-Damen haben es dann doch am Ende faustdicker hinter denselben als die Männer.

Jetzt kommt's noch dicker mit dem Einfluss der virtuellen Welt! Dieses Vergnügen haben mir nämlich BlogleserInnen geschenkt. Denen möchte ich für ihre Buchspende (via Danke-Button rechts im Menu) an dieser Stelle ganz herzlichen Dank sagen, denn auch für 5 Euro lässt sich schon ein Schmöker kaufen. Ich garantiere: Jeder, der sich hier bereits beteiligt hat, schafft es, dass ich mich still und verzückt irgendwo ausstrecke und für die wahre Welt, das echte Leben, eine Weile nicht mehr zu sprechen bin. Wenn das keine Wirkung ist!

Ähm - das war eben ein bißchen gelogen. Ich habe mal einen Gutschein für Fachliteratur missbraucht. Da saß ich dann über Stunden sehr aufrecht.

Sei's drum, Verblödung hin oder her: Etwa 85 % meiner Lektüre entdecke ich inzwischen in der virtuellen Welt, Tendenz steigend. Vor allem, wenn ich mir die vielen feinen Verlage bei Facebook und Twitter anschaue, wo ich ihre Bücher eher, informativer und besser sehen kann als bei Thalia & Co! Und ohne Twitter hätte ich schließlich auch gar nicht erfahren, dass Twitter so verblöden kann.
Miss Pettigrew ... ich komme ... !

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