Das große Menschenspiel

Gestern bin ich ins kalte Wasser gesprungen: Ich habe mich bei Facebook angemeldet. Ich mag Facebook nicht. Ich finde die Plattform potthässlich. Ich mag noch weniger den Umgang mit Daten dort. Ich mag ihn so wenig, dass ich vor zwei Jahren schon einmal voller Überzeugung bei Facebook ausgetreten bin. Und jetzt habe ich mich von ein paar Bücherfrauen überreden lassen, dass mir eine Menge wunderbarer Möglichkeiten entgingen: Leichteres Kontakten innerhalb der Branche, leichteres Kontakten weltweit zu Leuten, die man zwecks Recherchen ausquetschen könnte, Finden von Zielpublikum für meine Bücher und jede Menge ausführlicher Infos (z.B. über das BuchCamp), die sich inzwischen aus Blogs und von Websites hin zu Facebook verlagern würden. Twitter und Facebook würden sich dabei perfekt ergänzen.

Warum ich mich habe plattquatschen lassen? Mich reizt es tatsächlich, weltweit bei Leuten anklopfen zu können. Vielleicht antwortet der weltweit größte Spezialist für Krummbohnen auf dem Mond, den ich für ein Bohnenbuch brauche, bei Facebook viel lockerer als früher per Institutsmail? Vielleicht treffe ich zufällig auf einen Ballettomanen in Papua-Neuguinea, der mir auf einen Schlag zehn Nijinsky-Bücher abkauft? Vielleicht werde ich mit meiner nächsten Lektorin besonders schnell warm, weil ich weiß, was sie unter der Bettdecke liest? Vielleicht klopft ein berühmter Schriftsteller aus den USA bei mir an: Hallo, lass uns über Literatur reden? Oder gar ein Mäzen? Spaß beiseite: Genau damit lockt eine Plattform, auf der sich weltweit Millionen tummeln. Alles scheint möglich. Aber in Wirklichkeit hängen da auch nur die gleichen Leute ab, die im echten Leben auf dieser Welt herumhängen - nur sind jetzt auch all die sichtbar, die man gar nicht kennenlernen möchte. Denen man womöglich ums Verrecken nicht begegnen wollte.

Ich habe zuerst zwei Stunden intensiv herumgeschraubt. Es wird einem unendlich gemütlich gemacht, das fleissige Datensammeln zuzulassen, das Unternehmen so viel Geld wert ist. Wer es nicht zulassen möchte, muss schon ziemlich suchen und nachdenken, wo er Häkchen wegnimmt und Voreinstellungen ändert. Diese Arbeit sollte die erste sein und mir hat Annette Schwindts Facebook-Ratgeber (Kurzfassung als pdf zum Download) geholfen, weil ihn auch Dummies wie ich verstehen. Man sollte sich eine gute Strategie zurechtlegen, bevor man loslegt: Was will ich dort eigentlich? Will ich echte, wirkliche Freunde aus dem echten Leben bespaßen und die Schwiegermutter ablegen? Will ich Geschäftskontakte? Will ich ein privater oder ein professioneller Mensch sein? Was lasse ich in die Öffentlichkeit und was nicht? Da wird theoretisch alles abgefragt bis zur religiösen und politischen Gesinnung - und es ist erstaunlich, wie freudig viele Menschen solche Funktionen nicht deaktivieren.

Dann war ich drin, im großen Menschenspiel. Es hat tatsächlich etwas von einem gigantischen Computerspiel und es hat ähnliche Wahrnehmungsveränderungen zur Folge. In meinem Kopf bilden sich neue virtuelle Räume, die sich landkartenartig mit meinen bisherigen Internetaktivitäten verbinden. Habe ich mich bisher auf einer relativ flachen, eindimensionalen Ebene bewegt, so fügt sich plötzlich ein Level an den anderen, ohne dass ich noch Grenzen erkennen kann. Mitspieler ballern mit Nachrichten oder Benachrichtigungen auf mich, es hagelt plötzlich Freundesanfragen, bevor ich auch nur für mich geklärt habe, wie ich künftig wirklich wahre Freunde von sogenannten Freunden unterscheiden soll, wenn beide mit dem gleichen Wort bezeichnet werden.

Eine geheimnisvolle Maschine kreuzt und klont Kommunikationspartikel, "gefällt mir"-Buttons kopulieren miteinander, jemand "liked" meinen "Status", was auch immer er damit meinen mag. Was ich jemandem privat antworte, erscheint genauso auf dem Bildschirm wie öffentliche Pinnwand-Bekenntnisse, die ich auch auf halbprivat stellen könnte. Was meine "Freunde" bei sich schreiben, tippen sie zeitgleich virtuell auch bei mir, was ich zu jemandem auf meiner Pinnwand sage, multipliziert sich in Affengeschwindigkeit auf mehr Pinnwände, als ich mir das vorstellen kann. Die Wirklichkeitsmembrane, die einst zwischen Büttenbriefen, Emails oder der Twitter-Timeline noch fühlbar schienen, lösen sich auf. Es ist die totale Kommunikationsosmose. Alles tropft irgendwohin, diffundiert, wabert durch etwas, das die Alten vielleicht Weltäther genannt hätten, wird geklickt, gelesen, überlesen, "geliked" und genauso schnell wieder vergessen.

Wer in dieser Kommunikationshölle aus dem Fegefeuer der Unbekanntheit aufsteigen will, muss präsent sein. Denn für jeden, der hier das Foto seines Blumenbeets zeigt, einen Kommentar zu einer Konferenz gibt, ein Buch empfiehlt, einen schlechten Witz reißt, wachsen Hunderttausende nach, die den lieben langen Tag auch nichts anderes tun. Auf den ersten Blick scheint Facebook eine gigantische Quasselbude zu sein. Auf den zweiten Blick unterscheidet sich das Gequassle nicht von dem beim Dorfbäcker, am Stammtisch oder auf dem Fußballplatz. Intelligente Leute sagen dumme Sachen und dumme Leute landen Zufallstreffer. Aber will ich das alles wirklich auch hören? Was will ich hören und wo finde ich es? Und wie entwickle ich je eine ausgewogene eigene Meinung, gar eine Persönlichkeit, wenn ich alles ent-höre, was ich nicht hören mag?

Facebook ist eine gigantische Spielmaschine. Um ein Profil zu erstellen, brauche ich keinerlei Bildung und nicht einmal viel Sprache. Alles ist so schön intuitiv, klickt sich bequem, bis das System selbst mit einem spricht und vorschlägt, was man zu tun hat oder tunlichst nicht tut, weil man sich sonst so vieler Möglichkeiten beraubt und die Datensammler der Daten. Ist man drin, bewegt man sich unter Mitspielern, wechselt die Level und die Welten, klickt sich von Großmutters Geburtstagskuchenrezept aus Honolulu zum Terroranschlag im Hindukusch. Ein böser Nazi wirft Werbung ein - soll man schießen und wenn ja, wie? Neuer Level für alle, die einen bestimmten Kaffee trinken, einen bestimmten Wurm weitergeben oder öffentlich in der Nase bohren. Wer wissen will, was persönliche Freizügigkeit ist, der betrachte die schaurigen Partyfotos  vom Chef, vom Zukünftigen der eigenen Tochter, von den Arbeitskollegen, von der Bürgermeisterin.

Markiere Fotos mit deinen Freunden, verrate, was du im Fernsehen schaust, logge dich nicht aus, kassiere nicht 4000 Euro, like it, like it even if there is nothing, gehe nicht über los, update, nimm diesen Freund, verwirf diese Freundin, logge nicht aus, du hast zehn neue Benachrichtigungen, jemand hat deinen Nasenpopel geliked, du hast diesen Freund noch gar nicht geliked, drei finstere Gestalten wollen deine Freunde werden, Level 2, du hast eine magische Werbeanzeige im Sack, lade ein Foto hoch, teile ein Video, du hast drei neue Likes und vier Nachrichten, Level drei, befreunde dich mit Justin Bieber, du hast acht magische Werbeanzeigen im Sack, Gundula Haferstroh hat zwanzig Freunde mit dir gemeinsam, Level vier, du ignorierst Gundula Haferstroh weiterhin, aber logge nicht aus, logge niemals aus. Sonst dreht sich dieser Spielekosmos ohne dich. Sonst bist du out. Keine Nachrichten mehr. Facebook ist eine riesige Verführungsmaschine.

Unser kindlicher Spieltrieb kommt voll auf seine Kosten. Ich verrate dir, welchen Schriftsteller ich liebe und schon erscheint sein Konterfei in meinem Profil, wie von Zauberhand eingefügt. Jetzt könnte ich sogar "Freundin" meines Idols werden. Der Typ würde mich im Leben nie anschauen, nicht einmal bei einem Plastikbecher des miesen Kaffees aus der magischen "Sozialwerbung". Jetzt könnte ich ihn dazu zwingen. Zumindest meine Anfrage würde ihm vor Augen geballert werden. Angriff, Attacke!!!

Zeig mir deine Freunde und ich sage dir, wer du bist. Zeigst du mir genügend wirklich echte Freunde, sage ich dir sogar, wo du wohnst, auch wenn du die Ortsangabe deaktiviert hast. Ich könnte dem Dorfstalker nachstalken - wer hat den längeren Atem? Was ist das für ein Mensch, der Gustav Mahler hört und Bücher liest - lieber mal seine Partyfotos begutachten. Zu was für einem Menschen mache ich mich, wenn ich Gogol Bordello und Schostakowitsch höre, wenn meine Interessen keine automatischen Bildchen bekommen, weil Thomas Mann bei Facebook nicht vorkommt?

Ach was, von wegen Mensch. Mit meinem Profilbild ziehe ich mir ein Kostüm über, werde zur Theaterfigur. Ich bin nicht mehr, ich stelle dar. Wenn ich je so etwas wie Charisma hatte, dann wird es jetzt in Profilsparten eingeordnet und in Zeichen und Zeilen gezähmt. "Dieser Eintrag ist nicht zulässig, antworte in einem Wort". Du sprichst Deutsch? Dafür bekommst du kein Sprachbildchen. Sei nett, sonst bekommst du keine Freunde. Teile das Foto deines Erdbeerkuchens mit deinen Freunden. Nur ein Freund hat geliked, was du nach Feierabend gehört hast. Deine Interessen bekommen keine Bildchen, entscheide dich für Interessen, die alle teilen können. Werde kompatibel. Lass dich markieren, transportieren: Entgrenze dich.

Und schon sitze ich fest in der Falle. In einem Kosmos, in dem Informationen und Kommunikation ständig diffundieren und sich virtuelle Räume krümmen, verliere ich meine Konturen. Ich verschiebe mich zu einem ein-seitigen Menschen, der Filme schaut, Fernsehen konsumiert, Bücher liest, aber keine Kunstwerke empfehlen darf. Ich kann Firmen sammeln, aber keine Querdenker. Ich kann meine Verwandtschaft verstecken, aber ich kann mich nicht vor der Verwandtschaft verstecken. Ich löse mich auf in einem gigantischen Wir, das so riesig ist, dass mich der Hunger nach dem All-Wir nie verlässt. Immer mehr Menschen sammeln, immer größere Wir-Nester bauen, schließlich einen eigenen Wir-Kosmos mit Wir-Listen bestücken. 24 Stunden täglich, sieben Tage die Woche Dauerkommunikation. Gleichgesinnte. Geborgenheit. Welche Religion kann heute noch so viel Facebook-Feeling vermitteln?

Facebook ist spannend. Irgendwann spuckt es den total entgrenzten Menschen aus. Nur Fossile haben hartschalige Grenzen. Schließlich ist auch die Membran um die Ich-Wahrnehmung von Asiaten dünner. Wahrnehmungen zwischen Ich und Wir sind nicht zuletzt kulturell bedingt und anerzogen. Wahrnehmungen unterschiedlicher Kommunikationsräume und Erzähl-Level sind erlernbar, trainierbar. Aber wie viel Entgrenzung darf sein, bevor ich mein Ich verliere, bevor auch ich herumwabere, diffundiere?

Längst habe ich damit begonnen, indem ich mich aus Datenvorsicht aufspalte: da ist die Frau im echten Leben - da ist die Figur bei Facebook. Meine Alter Egos kommunizieren miteinander, vernetzen sich. Die Blogfrau twittert, die Facebook-Frau zieht Unkraut im Garten. Da ist die Figur in meinem Buch. Ist eine Romanfigur weniger echt als ein Facebook-Profil? Was, wenn ich sie bei Facebook anmelde? Bin ich in den Social Media wirklich lebendiger und interessanter als der Fiesling in einem Roman? Was, wenn Literatur auch nur noch ein Level wäre, wenn sich Geschichten überall überschnitten und keiner mehr linear ein Leben wahrnehmen kann? Kreise, Netze, Spinnweben. Irgendwo klafft durch eine unbedachte Bewegung ein Loch. Irgendein Raum krümmt sich und will in einer anderen Welt erzählt werden. Sie zappen sich durch deine Texte und manchmal wird der dümmste Gedanke daraus geliked.

Wer Bücher schreibt, wer sich für Menschen und alles Menschliche interessiert, sollte sich Facebook einverleiben. Wer Gegenwartsliteratur schreibt und sich nicht damit beschäftigt, wie Social Media das Denken und die Wahrnehmung der Menschen verändern, wird eines Tages allenfalls noch historische Romane schreiben können. Wer weiß, was er will, und keine Angst hat, sich selbst zu verlieren, sollte Facebook ausprobieren. Schlimmstenfalls verliert er sich doch und endet nicht übler als manche seiner Mitmenschen: Nasepopelnd auf einem schrecklichen Partybild, markiert für alle Zeiten und Internetarchive. Er könnte auch jemandem begegnen, der mitten im Kosmos der "Likes" und "Freunde" Facebook absolut nicht mag. Und nur mitmacht, weil das Web 3.0 auf sich warten lässt.

PS: Ob Social Media tatsächlich beruflich etwas bringen oder gar mehr Bücher verkaufen helfen als freundliche Buchhändler, werde ich natürlich härtetesten! Aber um da wirklich etwas zu bewegen oder aktiv Ideen zu entwickeln, bin ich noch zu neu dort. Im Moment reicht es nur zum Philosophieren...

Nachtrag: Würde ich ein Essay schreiben, gäbe es einen anderen höchst interessanten Punkt, der zu untersuchen wäre: Netzwerke wie Facebook sind die perfekte Kapitalisierung menschlicher Beziehungen und Kommunikation.

6 Kommentare:

  1. Brave New World.

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  2. Sie hab ich vergeblich gesucht. So viele Frank Peters auf dieser Welt, grausam ;-)

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  3. I know the feeling. And people told me I was special!! Try it with Franck, white shirt sitting at a lunch table.

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  4. Bei Xing werden auch private Nachrichten veröffentlicht...manche Menschen sind komisch, oder?
    Doch wird in der realen Welt nicht auch hinter dem Rücken gelabbert? Ich finde keinen Unterschied...

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  5. Sabine Kanzler11/5/11 09:06

    Wo werden bei Xing private Nachrichten veröffentlicht? Oder meinen Sie damit gar nicht die PN's (Private Nachrichten), die eigentlich Mails sind und direkt von einem Empfänger zum andern gehen?

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  6. Ich sehe da einen enormen Unterschied: Wenn ich meiner Echtlebenfreundin etwas zuflüstere oder beim Bäcker tratsche, werden aus diesen Sätzen weder passende Werbebomben generiert noch meine Aussagen mitsamt meinen persönlichen Daten von Wohnort bis Arbeitgeber, von Fernsehverhalten bis politischer Richtung gesammelt, festgehalten, weiterverkauft und bis in alle Ewigkeiten in den Googlespeichern und Internetarchiven gespeichert. Um das mal überspitzt zu sagen...

    Ganz ehrlich: Jeder Staat, der heute noch konventionell Krieg führt, ist deppert, ich würde schauen, dass ich Facebook und Google übernehme und meine Schäfchen dann mit der richtigen Propaganda infiltriere.

    Dass Menschen in der realen wie in der virtuellen Welt hinterhältig sein können, ist meiner Meinung nach wieder etwas anderes - gewisse Charaktereigenschaften verlieren sich nicht durch den Wechsel eines Mediums ;-))) Wir sind halt alle nur Menschen...

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