Mechanisches Ballett

Die meisten werden es bereits bemerkt haben: In losen Abständen empfehle ich rechts oben im Blog etwas aus dem Bereich Kunst zur fröhlichen Infizierung.
Zu Fernand Légers Experimentalfilm von 1924 möchte ich ein paar Worte verlieren, nicht nur, weil dieser Film auch in meinem Nijinsky-Buch vorkommt. Die Verbindung Légers, den die meisten "nur" als Maler kennen, zum Ballett kommt nicht von ungefähr. Auch er hat mit den Ballets Russes gearbeitet. Was er und sein Film mit diesen zu tun haben könnte, wird hier natürlich nicht verraten.

Der Film entstand in all seinen Vorplanungen (seit 1916) in einer Zeit, als man Betrachter bei ihren Emotionen packen wollte. Einfach Betrachten und Erfühlen - ohne großes Vorwissen, ohne lange Erklärungen. Wirken lassen...

Trotzdem sei zum Verständnis gesagt: Wir befinden uns in einer Welt, die einen völligen Umsturz erlebt hat, in der nichts mehr ist, wie es einmal war. Tief gezeichnet sind die Menschen vom Ersten Weltkrieg, einer Katastrophe, in der Mensch und Maschine zum ersten Mal verschmolzen, um zur industriellen Tötungsmaschinerie zu werden. Wie viel Mensch bleibt da übrig? Maschinen sind überall, Elektrizität, Lärm, Werbeplakate, Massenmedien - die Menschen fühlen sich fast überfordert von der Bilderflut, dem Lärm, den nicht mehr natürlichen Geräuschen. Der Film als "rasendes" neues Medium macht sich plötzlich auch noch die Zeit untertan...

Im Film rast die Welt, aber im Einzelbild des Films lässt sich die Zeit überlisten, lassen sich Bewegungsabäufe entdecken, die in der Natur nicht sichtbar werden fürs menschliche Auge. Künstler exprimentieren mit Schnitttechnik, mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Zur Überforderung durch die neue mechanisierte Welt gesellt sich Faszination. Die Mechanik hat eine eigene Schönheit, eine eigene Choreografie, scheint fast ein eigenes Leben zu entwickeln. Hoffnung kommt wieder auf. Raserei und Rausch angesichts der ungeheuren neuen Chancen. Wenn der Mensch einfach mit den Maschinen seinen ureigenen Tanz tanzte?
Es ist die Zeit der Futuristen. Die dann in ihrem Rausch und Traum vom neuen Menschen leider zu weit gehen - Europas menschenverachtende Diktaturen unterstützen.
Fernand Légers Film steht vor dieser Kippe. Noch ist alles möglich. Noch versucht der Mensch erst, diese seltsame, schnelle, neue Welt zu begreifen. Sucht seinen Platz, hin- und herschaukelnd in der Geschichte...

 Wer sich den Film anschaut, sollte auf die Trickfilmsequenz achten, eine Legetrickanimation eines Kunstwerks von Léger mit einem Holzmännchen, das stark an Charlie Chaplin erinnert. Diese Animation ist 1916 gedreht worden, in dem Jahr, als sich Nijinsky und Charlie Chaplin in Hollywood trafen und einer aus dem Freundeskreis der Ballets Russes den begeisterten Russen und Franzosen in Paris einen importierten Chaplin-Film vorführte. Das Chaplin-Fieber brach aus. Der Film wurde aus technischen Gründen nie gedreht, die paar Sekunden, die im Ballet Mécanique vorkommen, sind das einzige erhaltene Material.

Aber auch so ist der Experimentalfilm von 1924 eine technische Leistung, die wir uns kaum noch vorstellen können. Léger ließ sämtliche Sequenzen zuerst lose aufnehmen und entschied dann am Schneidetisch über eine "Choreographie" der Bilder, deren Längen an Einzelbildern abgezählt wurden. Film als Bildkunst, nein Synchronisationskunst - in jenen frühen Jahren. Leider war Georges Antheils Komposition weder spielbar noch synchronisierbar. Sechzehn Player-Pianos sollten da mit "Instrumenten" wie Flugzeugpropellern, Sirenen oder Tamtams zusammengebracht werden. Erst sehr viel später wurde seine Komposition rekonstruiert und auf CD eingespielt.
Den hochberühmten Man Ray an der Kamera sollte man auch nicht vergessen - derzeit wird er zu seinem 120. Geburtstag weltweit in Ausstellungen wiederentdeckt.

2 Kommentare:

  1. Die Technik ist besser geworden - der Rest ist irgendwie gleich geblieben. Wir befinden uns nach wie vor in Zeiten des Umsturzes. Statt des Krieges haben wir nun Terrorismus, das neue Medium nennt sich Internet und rast immer schneller.

    Nur sind wir dabei vielleicht etwas pessimistischer geworden?

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  2. Wo kann man eigentlich Ihren unverwüstlichen Pessimismus kaufen? ;-)

    Haben wir wirklich die gleichen Zeiten? Haben wir mehr Terrorismus oder nur mehr Nachrichten darüber? Sind nicht alle Zeiten Umbruchsphasen? Hat sich nicht die Menschheit auch an die teufelsschnelle Dampflok gewöhnt? (Übrigens können Medien nicht rasen, allenfalls die Menschen, die sie benutzen - das geht aber auch mit dem Staubsauger!)

    Immerhin haben wir zwei Weltbilder zur Auswahl. Nach dem einen lernt die Menschheit nichts dazu und alles wiederholt sich ständig. Nach dem anderen gibt es, weil der Mensch nun mal menschelt, wellenförmig Ähnlichkeiten, aber jedesmal in anderen komplexen Zusammenhängen und auf einer anderen Ebene, Rückschritte und Fortschritte inklusive.

    Mein Hund sagt, egal, welches Weltbild wir wählen, Bewegung tut gut. ;-)

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