Mammutlesung
Ich bin eine elende Perfektionistin. Ein halbes Jahr "danach" wollte ich mir die Chance nicht entgehen lassen, noch einmal letzte Hand an mein Nijinsky-Hörbuch zu legen. Und damit es sich auch wirklich anhören wird, habe ich es zwei Tage lang in Privatlesung nur für mich selbst durchgeackert. Manchmal musste ich über mich grinsen, wenn ich einen Satz fünfmal wiederholte, um schließlich ein kleines Wörtchen umzustellen - erst dann war ich zufrieden. Es gibt für Synästhesisten meiner Kombination nichts schlimmeres, als wenn ein Klang nicht stimmt (falsch gesetzte Kommata stechen z.B. kaltmetallisch in die Ellenbogen, igitt).
Nun ist es vollbracht, ein paar letzte Fehler sind gefunden, die Komposition scheint poliert, der Hals fühlt sich dafür leicht rauh an, so viel Sprechen sollte halt theoretisch richtig beatmet sein ... aber nebenher waren Bücher zu wälzen, Daten zu verifizieren. Kleinkram, aber lästig. Und jetzt lehne ich mich zurück, begieße das Ganze mit einem russischen Tee und grinse übers ganze Gesicht. Perfektionisten sind selten ganz zufrieden zu stellen. Aber ich bin tatsächlich der Meinung, das ist der beste Text, den ich je geschrieben habe. (Schlimm für meine anderen Texte, die jetzt in der Verdammnis heulen und zähneklappern).
Ich war das nicht!
Und wieder hab ich durch diese Mammutlesung etwas gelernt: Eine gewisse Geistesüberforderung, oder nennen wir es zu hoch hängende Messlatte, scheint recht gesund zu sein für solch ein Werk. Es gibt Stellen im Text, da frage ich mich ernsthaft, wie die Autorin das hingekriegt hat. Wie sie auf diese dramaturgischen Tricks und Kniffe gekommen ist. Etwa an der Stelle, als sie die Musik Strawinskys erklärt. Boah - auf einmal kapiere ich Strawinsky, sogar ohne Hören. Oder als sie, anstatt Nijinsky in irgendeinem Wahn zu beschreiben, ihn in einem Ballett zeigt, das seinen inneren Zustand viel besser widerspiegelt.
Das ist jetzt keine Angeberei: Ich wundere mich wirklich. Weil die Autorin noch kurz vor dem Projekt so gut wie keine Ahnung von Strawinsky hatte. Und weil sie sich jetzt, ein halbes Jahr danach, absolut nicht erinnern kann, in was für einer Trance diese Ideen entstanden sein könnten. Das liest sich, als habe es jemand anders geschrieben. Es findet sich ausgerechnet in den Passagen, als ich unter Recherche, Zeitdruck und nebenher laufendem Überlebenskampf fast zusammengebrochen wäre. Anscheinend erreicht man dann diesen berühmten Zustand, in dem alle Bedenken und inneren Zensoren ausgeschaltet werden und das Hirn endlich frei arbeiten kann. Nicht, dass man sich immer bis fast in die Erschöpfung arbeiten sollte - Nijinsky ist das beste Beispiel, wohin so etwas führen kann. Aber man sollte öfter auf sich selbst pfeifen! Keine Ahnung von Strawinsky? Pah, na und? Dann erst recht. Hören wir uns eben die Ballettmusiken an, bis wir sie auswendig können... machen wir uns kundig...
Alter Schinken
Noch etwas habe ich gelernt. Ein abgehangener Schinken, pardon Text, lässt sich noch viel besser servierfertig machen als ein blutiges Stück. Der Zeitdruck, unter den man manchmal im Verlagsgeschäft gesetzt wird, tut nicht jeder Art von Text gut. Im Abstand von einem halben Jahr fand ich nicht nur ein paar Tippfehler, die jedem Lektorat bisher entgingen (und die man beim Hörbuch nicht hört, aber ich bin ja Perfektionistin). Ich sehe auch die Geschichte mit viel mehr Wissen und aus dem Abstand heraus ausgewogener. Kann gnadenloser Sätze streichen und weiß die Wertigkeiten besser zu setzen, erkenne neue Zusammenhänge. Eine Korrektur in einem solchen Stadium lässt einen Text noch einmal wachsen. Weil man viel strenger mit sich selbst ist.
Trotzdem stehe ich jetzt mit diesem komischen Gefühl da, das andere Autoren offensichtlich auch kennen: ich kann den Text und mich irgendwie nicht verknüpfen. Ich war das? Ich bin mir da immer nie ganz sicher. Es fühlt sich an, als habe ich nur auf Einflüsterungen reagiert. Natürlich habe ich mich über ein Jahr lang mit Nijinsky unterhalten und seinen Peinigern Dinge an den Kopf geworfen, die man nicht nur wegen Persönlichkeitsrechten nicht abdrucken könnte. Aber da sprach noch so viel anderes mit mir: Filme, Kunstwerke, Musik.
Charlie Chaplin und der Flohzirkus der Figuren
Kürzlich habe ich mir noch ganz spät eine Doku über Charlie Chaplin angeschaut. Weil der genauso alt war wie Nijinsky. Und weil er und Nijinsky sich 1916 mehrmals trafen und offensichtlich sehr mochten. Charlie Chaplin kommt in meinem Buch auch vor und an einer recht verwegenen Stelle erzähle ich, was sich der Diktator Hynkel bei Nijinsky abgeschaut hatte. Als ich es schrieb, war es nicht mehr als eine Fährte, eine verwegene Theorie. Doch dann sah ich drei Sekunden Originalfilm in jener Doku, die mich glücklich jauchzen ließen - es war ein Privatfilm, wo man Charlie Chaplin sah, wie er jene Szene viele Jahre zuvor erfand und entwickelte. Dabei trug er ein Kostüm, das er sich bei den Ballets Russes abgeschaut hatte! Das sind die Momente, in denen leidenschaftliche Rechercheure Tränen in den Augen haben.
Es gibt noch mehr solche berühmten Leute in dem Hörbuch. Fast wie bei einer riesigen Party sitzen sie alle zusammen am Texttisch: Eine Dame namens Gabrielle, später Coco genannt, die sich während des Gastspiels der Ballets Russes in Monaco vom Hofparfumeur des Zaren Duftproben zeigen lässt und am fünften Tag des fünften Monats die Nummer Fünf wählt - ein Chefdesigner, der während der Vorstellungen eifrig zeichnet, die opulenten russischen Farben festhält, mit denen sein Chef Cartier dann in Juwelen handelt - ein Modeschöpfer, der sich bei Nijinskys Kostümen bedient und die Frauen vom Korsett befreit und in die berühmten Turbane und straußenfederngeschmückten Stirnbänder kleidet - Leute wie Sonia Delaunay-Terk, Pablo Picasso oder Juan Gris, die mit den Ballets Russes direkt zusammenarbeiteten.
Verrückt, wie viel Leben und Menschen und Zeit in lediglich 77 Seiten herumquirlen können. Ein kleiner Kosmos. Ein Kosmos, mit dem man einen Teil seines eigenen Lebens geteilt hat und der einem wahrscheinlich ein Leben lang als Geschenk bleibt. Irgendwie fühlt sich das alles plötzlich völlig unwirklich an, nicht von dieser Welt. Jetzt hoffe ich nur, dass es bei diesem Gefühl nicht bleibt...
Zeitmaschine oder Parallelwelten?
Ablenkung ist erst einmal angesagt. Aber wenn ich nächste Woche endlich meine Karte für das Gastspiel des Marijnsky-Theaters abholen werde, kann ich das nicht mehr als unberührter "normaler" Mensch in einer normalen Stadt tun. Vordergründig gehe ich ins Baden-Badener Festspielhaus. Innerlich kann ich die Dampflok hören, die in diesen ehemaligen alten Bahnhof einst einfuhr. Es stiegen aus die Herren Diaghilew, Nouvel, Strawinsky und Nijinsky, auf dem Weg ins Hotel Stephanie les Bains, das heute Brenner's Park Hotel heißt - und wo heute wieder die Russen absteigen. Ob der Pianist in der Hotelbar ahnt, dass auf dem Vorgängerflügel damals Strawinsky für dei Herrenrunde ausgerechnet Bach gespielt hat?
Nicht einmal das Konzert im Sommer werde ich mir "normal" anhören können - fing doch mit dem Marijnsky-Theater alles an. Dort trat der Schüler der damaligen Kaiserlichen Ballettschule von Sankt Petersburg zuerst auf, bevor die Ballets Russes 1909 zum Tourneetheater wurden und ihn aus Russland nach Paris lockten. Vorher aber, 1908, gab Diaghilew als erstes Opern, hatte die verwegene Idee, dem Westen russische Musik nahe zu bringen. Seine erste Premiere, die erste russische Oper außerhalb Russlands, gesungen vom weltberühmten Schaljapin, in den sich Nijinskys Schwester dann verliebte. Boris Godunov. Im Sommer 2010 in Baden-Baden. Wahrscheinlich habe ich mir als Kind einmal zu sehr gewünscht, eine Zeitmaschine zu besitzen...
Sehr anschaulich geschildert, Petra, kann das so richtig nachvollziehen. Und denke an Dostojewski, wie ich in Baden-Baden an ihn dachte ...
AntwortenLöschenHerzlichst
Christa
Wie ich in deinem Blog immer lese, hast du "es" auch, wenn du über alte Gemäuer und historische Orte schreibst. Ich bin immer froh, wenn andere "das" auch haben - sonst verstehen das meist nur Archäologen. ;-)
AntwortenLöschenHerzlichst,
Petra