Befruchtung der Künste aus dem Osten
Ich lebte einmal in einem Land, in dem mich einschließlich meiner Familie alle davor warnten, Künstlerin zu werden. Wenn ich naiv fragte, was an diesem Beruf so schlimm sein solle, kam als erstes die Antwort, es sei ein brotloser Beruf und darum nicht erstrebenswert - und als zweites, es sei kein angesehener Beruf, und darum eher verachtenswert. Dann zog ich aus in ein Land, das mich komplett verblüffte, weil Kunst und Kultur so eine Art Staatsziel waren und tüchtig gefördert wurden. Trotzdem traute ich mich noch nicht ganz, die ordentliche Welt des ordentlichen Geldverdienens zu verlassen.
Als ich 1993 für vier Jahre nach Polen ging, erlitt ich den schönsten Kulturschock meines Lebens. Er traf mich zeitgleich mit den Recherchen zu meinem ersten Buch, die ich im Westen ständig als etwas "Wertiges" durchsetzen musste. Dort hörte ich Sätze wie: Als Hobby ist das Bücherschreiben ja gut und schön, aber willst du das wirklich ernsthaft beruflich betreiben? Willst du dir das nicht nochmal überlegen? Vom diesem intellektuellen Kram kannst du nicht abbeißen! Vernachlässige bloß nicht deinen echten Beruf.
Nun saß ich also in Warschau, um mich herum Westler, die genau wussten, wie man Profite berechnet, ich selbst mit dem Erstentwurf eines Manuskripts beschäftigt, das keiner so richtig ernst nahm, zumal ich ja von einem Verlag bisher nur träumte. Aber sobald ich mich endlich auf Polnisch verständigen konnte, glitt ich in eine wunderbare neue Welt. Die Tatsache, dass ich viele Bücher las und mich schreibend durchs Leben bewegte, brachte mir plötzlich Sympathien ein. Da war nichts mehr zu hören von einem Abwägen zwischen vernünftigen und unvernünftigen, geldbringenden oder brotlosen Tätigkeiten. Statt Intellektuellenekel plötzlich Intellektuellenwertschätzung. Statt Herunterkochen auf den kleinsten gemeinsamen Dummnenner war da unersättlicher Hunger nach Bildung und Wissen. Kunst, alle Künste - das war etwas Wunderbares, Wertvolles, Wunderschönes und Wichtiges für die Gesellschaft, wollte sie nicht wieder so verdursten, wie das in Zeiten geschehen war, als man Intellektuelle gezielt ausgerottet hatte.
Niemand warnte mich mehr davor, "so eine" zu werden, ich bekam im Gegenteil bis zum Ermüden die Geschichte erzählt, man könne als "so eine" durchaus sogar im Parlament landen. Schriftsteller war ein angesehenerer Beruf als Banker oder Apotheker. Und Künstler als so staatstragend anerkannt, dass man ihnen eine verschwindend kleine Steuer als Förderung gönnte. Dementsprechend brodelte und kochte es damals in Warschau. Ich habe nie wieder eine derartige Lebendigkeit und Frische erlebt, in der sich Musik, bildende Kunst, Design und andere Künste entwickelten, jenseits von den im Westen üblichen "Schulen", Modetrends und Hypes. Damals, in den Neunzigern, konnte man in Polen sehr junge Talente entdecken und mit Sicherheit prophezeien, das aus ihnen einmal Großes werden würde (was sich auch in vielen Fällen bewahrheitet hat). Es war ansteckend, befruchtend, mit welcher Verve da experimentiert und geschaffen wurde. Ich selbst wurde dort endgültig fürs normale und ordentliche Leben verdorben und kam mit einer kleinen Sammlung Lyrik zurück, selbst geschrieben, auf Polnisch.
Ich kann nicht mehr sagen, wie es heute dort ist. Ich bin zu weit weg. Aber im Zentrum von Warschau entsteht ein Museum für moderne Kunst und jetzt passiert endlich das, wovon man in den Neunzigern nur träumen konnte, was man diesen Künstlern wünschte: Die Kunst streckt ihre Fühler aus in die Welt.
Kunst und Stadt als Lebensräume
In Warschau entstand das Projekt The Promised City, in dem sich Künstlerinnen und Künstler Gedanken machen um die Metropolen, in denen sie leben wollen oder nicht. Was für Städte erträumen wir, welchen Illusionen und Glücksversprechungen der Städte sitzen wir auf? Das Projekt ist kunstübergreifend, es gibt Filme, Theater, bildende Kunst, Literatur etc. - und es ist vor allem nicht auf Warschau beschränkt. The Promised City findet neben Warschau auch in Berlin und Mumbai statt.
In Berlin ist dieser Tage Ausstellungseröffnung von "Early Years" Im KW Institute for Contemporary Art.
Literatur-Kristallkugelschau
Ich selbst wage, was die Literatur betrifft, die Vorhersage, dass auch in dieser Kunst, auch und gerade jetzt die ganz große Befruchtung aus dem Osten kommt. Und damit meine ich Osten in einem sehr viel größeren Raum als nur Polen. Dort experimentieren Schriftsteller bereits seit Jahren viel lebendiger und mutiger mit neuen Erzählformen, als das im deutschen Verlagswesen möglich wäre. Längst befruchten sie sich mit Migrantenszenen in unterschiedlichen Ländern. In Übersetzung geschafft haben es zuerst einmal wieder die Amerikaner, deren Schreiben stark auf östlichen Erzähltraditionen aufbaut: Schriftsteller wie Jonathan Safran Foer oder Aleksandar Hemon wären zu nennen.
Die Direktimporte muss man im deutschsprachigen Buchhandel dann leider schon akribischer suchen. Mir selbst fielen vor vielen Jahren sprachlich die Polin Dorota Maslowska auf und inzwischen mit neuen Formen der Russe Eduard Kotschergin, die Ukrainerin Tanja Maljartschuk und die Polin Olga Tokarczuk.(Links führen zu meinen Rezensionen). Die letzten drei stehen für eine Art des Erzählens, die genau das schafft, worüber westliche Buchmacher nur diskutieren - sie wäre nämlich auch internetfähig, ja sogar i-phone-kompatibel. Anstatt sich in endlosen Stellvertreterdiskussionen dumm zu schwätzen und Gräben aufzubauen zwischen diesen und jenen Gesellschafts- und Zielgruppen, machen die Schriftsteller im Osten einfach, erzählen wie einst, als man noch am Lagerfeuer erzählte, und erzählen trotzdem so frisch und experimentell wie heute, dass man es auch als Portion elektronisch aufnehmen könnte. Hochliteratur als lesbares Er-Lebnis.
Es ist nicht einfach, solche Perlen aufzuspüren in einem Markt, der im Moment kopfscheu jedes Risiko und jede Neuerung vermeidet oder lieber Abschreiber statt Innovatoren hochjubelt. Ich hoffe aber, es gelingt mir noch öfter - der Schwerpunkt Osteuropa soll den Rezensionen erhalten bleiben. Zumindest ich glaube an die riesigen Chancen von Geistesbefruchtungen durch die Literaturen dieser Länder - und so langsam komme ich auch dahinter, welche Verlage solches wagen. Für Tipps diesbezüglich bin ich übrigens immer dankbar!
Wie war das noch mal? Go west young man - um einen ordentlichen Beruf zu erlernen oder auszuueben? Ja, vieles was Gut ist kommt aus dem Osten und die doch so anstaendigen Berufe haben heute gewaltige Kratzer bekommen.
AntwortenLöschenNun ja, es ist immer so, wie ich es beschreibe und trotzdem völlig anders ;-)
AntwortenLöschenDas "Go west" erinnert mich nämlich jetzt ans "Marlboro Country", wie wir damals Warschau nannten. Denn zu jener Zeit kam dort ein schwindelerregender Turbokapitalismus auf und an den Einfahrten der Stadt prangten irrsinnig riesige Leuchtreklamen mit toughen rauchenden Cowboys, so dass man als Ortsunkundiger die "Warszawa"-Schilder kaum noch fand. Dagegen haben wir dann in Amsterdam oder Paris wieder richtig ruhig atmen können...
Man darf nicht vergessen, dass sich viel von dieser Kultur vor allem durchs Geld entwickelte, sei es durch Firmen und Banken (jaja), die Sponsoren wurden, sei es durch private Sammler. Eine der heute bekanntesten Galerien in Warschau kam damals vor allem deshalb hoch, weil reiche Amerikaner dort junge Kunst kauften - Amerikaner, deren Familien einst aus Polen emigriert waren.
Kunst und Kultur florieren zwar immer auch aus dem Untergrund, sie florieren aber eben noch besser bei Förderung. Auch da wurde im Osten wilder ausgetestet, gab es z.T. weniger Berührungsängste gegenüber der freien Wirtschaft.
Ich glaube nicht, dass man diese beiden Welten noch irgendwo trennen kann. Ich glaube aber, dass Kunst und Kultur immer an den Schnittstellen lebendiger wird. Und diese Schnittstellen haben wir im Westen auch, nur haben wir nicht in jedem Land die sie schätzende "offizielle" Kultur dazu. Ein Beispiel von vielen ist mein Musiktipp im Video oben rechts, Berlin. In Frankreich haben wir eine ähnlich reiche Kunst- und Kulturszene an der Schnittstelle mit arabischen und afrikanischen Kulturen.
Wenn also im Westen die Leute mit den anständigen irre gut bezahlten Jobs wieder auf mehr Ideen kämen, was sie alles fördern könnten, auch zu ihrem eigenen Wohl, anstatt nur herumzuzocken, wäre viel gewonnen. Denn dem Dostojewskij müssen wir auch nicht alles nachmachen ;-)