Im Mörderland

Ein Mörder, der in Baden-Baden reiche ältere Damen um die Ecke bringt, schleicht sich durchs Elsass. Und weil er dem Roulette ebenso verfallen scheint wie dem Morden, trifft  man ihn natürlich auch in Bad Niederbronn wieder. Den übel spannenden Krimi "Baden Badener Roulette" von Rita Hampp habe ich zwischen meinen Fahrten in die Kurstadt der Reichen auf der deutschen Seite verspeist. Heute weilte ich auf des Mörders Spuren in der Region um Bad Niederbronn - der Ausflugsgegend, die in meinem Elsassbuch ein besonders idyllisches Kapitel bekam.

Leider hatte ich meinen Fotoapparat vergessen. Auf der anderen Seite wäre ich womöglich für das, was ich fotografieren wollte, verprügelt worden. Wenn es eine Illustration für das französische Wort "déclin" (Verfall, Niedergang, Sinken) gibt, so habe ich sie heute in Form eines Städtchens gesehen, das in meiner Studentenzeit eine beliebte Reiseetappe war. Heute lebt in jenem Canton eine der größten Wählerschaften der rechtsradikalen Front National von ganz Frankreich - und man sieht das. Man sieht es und man spürt es.

Uralte Villen, an denen der Zahn der Zeit nagt, künden davon, dass hier einst Reichtum herrschte. Die alte Adelsfamilie de Dietrich sorgte seit der Französischen Revolution für Wohlstand im Tal und entwickelte die alten Schmieden bis hin zu modernen Zugfabriken. Und weil das seit Jahrhunderten so war, kümmerte man sich in der Region der Arbeiter und Bauern nicht viel um anderes. Das Geld kam ja herein, Generationen arbeiteten in den gleichen Fabriken. Ein bißchen Tourismus gab es nebenbei, aber eigentlich blieb man autark.

Irgendwann kam die feindliche Übernahme. Irgendetwas dreht sich immer noch in den Hauptfabriken. Aber es ist nicht mehr das Gleiche. Die Maismonokultur zerstörte gewachsene bäuerliche Strukturen. Gemüse wird heute überall aus Spanien importiert. Arbeitslosigkeit ging um, die Jungen zogen weg, in die Großstädte, nach Paris, den Entwicklungsmöglichkeiten nach. Irgendwann schauten auch die Touristen genauer hin und blieben aus. Sie fuhren noch tiefer hinein ins Land, wo man in der Ferme Naturprodukte kaufen kann und in urigen Restaurants typische Speisen genießen. Heute scheint die Region mehr von ihrem Ruf zu zehren denn von touristisch interessanten Schönheiten.

Viel hat man getan im Arbeiterstädtchen, neue Kreisverkehre und Parkplätze angelegt, Blumenrabatten an den Straßen gepflanzt. Und doch kann das alles nicht darüber hinwegtäuschen, dass zwischen den Häusern immense Brachflächen klaffen, abrissbedingt oder bald frei, weil windschiefe Häuser und Schuppen bald zusammenstürzen werden. Immer und immer wieder die Schilder "à vendre - zu verkaufen" - die Häuser grundsanierungsbedürftig. Vor zwanzig, dreißig Jahren wären sie noch als "Gutsherrenvilla" anzupreisen gewesen. Im Stadtkern selbst wechseln sich die sauber restaurierten Häuser der Banken ab mit urigen vergessenen Ecken, in denen Vogesenkitsch blüht und Plastikstörche neben Plüschkaninchen und riesigen Muscheln die Fenster zieren. Hier gibt es noch das Frankreich der Klischeefilme, diese seltsamen gemischten Läden, angefüllt mit buntem Chaos und rührend im winzigen Schaufenster verblichene Waren vergangener Zeiten anpreisend.

Doch wenn der ortsansässige Fotograf Handys und Handykarten verkauft und die Besitzerin des Tabac Baguette und süße Teile - dann ist das eher ein Aufbäumen gegen das Ende; nämlich der Versuch, ein nicht mehr funktionierendes Geschäft mit einem neuen Standbein zu retten. Idylle wie auf Postkarten bietet noch das winzige historische Judenviertel. Doch wenn sich die Türen der uralten Fachwerkhäuschen öffnen, präsentiert es sich auch heute als ein Viertel der Ausgestoßenen. Hier scheinen die Alten und die Gebrechlichen zu leben und die Jungen auf Sozialhilfe. Freundlich und hilfsbereit ist man dort, doch zu lachen scheint es wenig zu geben. Von dort ins Stadtzentrum zu laufen, ist irgendwie gruslig. Nie habe ich auf einer so kurzen Strecke so viele abgebrannte Dachstühle und ausgebrannte Häuser gesehen, zu weit verstreut und isoliert, als dass es ein einziger Brand gewesen sein konnte. Praktizieren sie hier den heißen Abriss? Oder Schlimmeres? Ich weiß es nicht.

Ich hatte riesiges Glück, mit meinem viel zu lange nüchternen Magen auf einen typischen "Johrmärik" zu treffen, wie er früher die Bevölkerung ganzer Vogesenketten anzog. Auf jenen regelmäßig, aber nicht allzu oft stattfindenden Krämermärkten versorgten sich die Hochlandbauern früher mit Kleidung, Küchengeschirr, Werkzeug und allen möglichen Nahrungsmitteln, die man selbst nicht anbaute. Man traf die Verwandtschaft aus entlegenen Tälern, in den Restaurants gab es das deftig-feine Kirwe-Essen - und das Feiern und Tratschen musste über den harten Winter reichen, wenn man festsaß im Schnee.

Ich liebe diese Märkte! Nichts macht mehr Spaß, als Köstlichkeiten zu entdecken, die es in den Supermärkten längst nicht mehr gibt. Auch heute drehten sich Hühnchen und Haxen in langen Reihen an Spießen und wetteiferten im Duft mit eingelegten Oliven, fangfrischen Forellen, Landbrot und Würsten und Ziegenkäse vom Bauernhof. Es gibt immer noch den Imker, den Stand mit Wachstischdecken in rustikalem Musterkitsch, den Transporter mit dem Stopfgarn für die Socken und die Wolle für die Schals. Bestimmte typisch französische Haushaltsgeräte kauft man auf diesen Märkten - es gibt sie nicht im Laden, und ich frage mich immer, wer diese Sachen eigentlich eigens produziert. Hier ist noch alles aus Metall statt Plastik, die Bauersfrau will schließlich etwas fürs Leben. Die Gemüseschneidemaschine mit Handkurbel, die Käsereibe aus Inox und die Salatschleuder, an der man so herrlich wild drehen kann.

Auf solchen Märkten kauft man Gewürze beutelweise und Heilkräuter gleich dazu. Hausfrauen lassen sich viel zu teure Wunderputzmittel andrehen. Man feilscht um ein Bund Zwiebeln, die Alten holen sich ihr Rossbiff beim Pferdemetzger und die Jungen ihre Nems bei der Asiatin. Wer mag all diese glimmerbestreuten, nuttig wirkenden Outfits kaufen? Die Jeans riechen tüchtig nach Chemie, aber dafür kosten sie nur zehn Euro. Opa braucht wollene Socken für den Winter und seine Frau verdrückt sich schnell an den Stand mit den BHs in Übergrößen, die es im Laden so nicht gibt.

So kann man den Markt durch die rosarote Brille betrachten. Wenn man genauer hinschaut, ist er nicht mehr so idyllisch. Ich war die einzige "Einheimische", die sich bei der freundlichen Griechin anstellte und köstliche Oliven und gefüllte Weinblätter erstand. Die Elsässer kauften sie abgepackt, in schlechterer Qualität und teurer, aber eben am Elsässer Stand. Wo früher die Bauern von den Höhen Kirschen und anderes Obst herunterbrachten, Gemüse aus dem eigenen Garten und vom Acker, gibt es heute nur noch die türkischen Stände wie überall im Land. Immerhin kommen wir so wieder an eine richtige Gemüse- und Salatauswahl - angebaut wird weit und breit nichts mehr. Aber die Menschen gingen nicht freudig an die bunte Pracht. Wieder nur Ausländer an den Ständen, ein paar Hausfrauen und viel böse Bemerkungen, viel böses Blut, das aus den Gesichtern sprach.

Der Gang über diesen Markt war im Gegensatz zu dem in meinem Städtchen wie ein Sprung ins kalte Wasser. Wo ich lebe, trifft man sich zum Schwätzchen, quatscht die Händler an, kennt viele, die von weit her kommen, vom letzten Jahr und den Jahren davor. Man schaut weniger auf die Hautfarbe als auf Qualität und Preis. Der Markt bei uns ist bunter, reicher. Hier stellen Frauen ihren selbstgemachten Schmuck aus, andere haben ein Jahr lang für ihren Stand gestrickt und irgendwer bringt längst vergessene Kräutertees. Es geht dreisprachig wild durcheinander. Man muss sich nicht schämen, wenn das Französisch nicht so will - die älteren Elsässer können es ja auch nicht richtig. Der Markt in meinem Städtchen ist bunt und herzlich, hat eine warme Atmosphäre und macht in seiner Urigkeit einfach Spaß.

Der Markt in jenem Städchen hatte eine gestörte Atmosphäre. Nur noch die ganz alten, die Damen am Rollator, schienen das alte Treiben von damals zu leben. Ein Marktschreier war so launig, dass ich bei ihm eine neue Geldbörse kaufte und ein paar Minuten wirklich Spaß hatte an seiner unerschütterlich guten Laune. Dieser Markt war seltsam angeordnet. Zuerst die "einheimischen" Einheimischen und die Luxusfressware, dann die Händler aus der Ebene um Hagenau, die Händler aus dem sonstigen Elsass, die Türken, die Ausländer, die Türken und schließlich die Afrikaner. Dorthin verirrten sich nur noch Leute wie ich und diejenigen, die an diesem Ende des Marktes ankamen.

Als es zwölf schlug, machte ich mich mit meinem Krimskrams auf. Heiß war es inzwischen geworden, doch mich fröstelte. Schwarz verkohlt starrten die Balken von ausgebrannten Dachstühlen. Im Bistro am Platz hatte man die eingeschlagenen Scheiben notdürftig verklebt. Das alte Kirwe-Restaurant, in dem ich in meiner Studentenzeit noch so köstlich gespeist hatte und das so viele Jahre niemand hat übernehmen wollen, ist jetzt ein Dönerrestaurant. Endlich steht das Haus nicht mehr leer. In einem mit Plastikmüll zugestellten Hinterhof waren noch die Schemen einer "Le Pen"-Graffiti zu sehen. Und dann kam wieder das ehemalige Schaufenster mit seiner verblichenen Elsassherrlichkeit: der Plastikstorch mit dem winzigen blonden Häkelpüppchen im Glitzerrock zu seinen Füßen, die ordentlich in Reih und Glied gelegten Muscheln von einem längst vergangenen Strandurlaub, die verstaubten Plüschhäschen...

Lesetipp:
Rita Hampp: Baden-Badener Roulette, Emons Verlag
Auch wenn Rita Hampps Krimis als Regiokrimis laufen und natürlich wunderbar das Lokalkolorit wiederspiegeln, so sind sie doch alles andere als die üblichen unter diesem Label verkauften "verkappten Reiseführer mit Blutanreicherung". Die liebenswerten und starken Charaktere ihres Ermittlertrios wachsen einem schnell ans Herz und die mit feiner Psychologie ausgesponnenen Fälle sind so recht etwas für LeserInnen, die es über haben, in gefoltertem und missbrauchtem Gedärm herumzuwaten. "Baden-Badener Roulette" garantiert Unterhaltung im besten Sinne und ist so spannend, dass ich in der Zeit absichtlich Spaghetti gekocht habe. Da kann man nämlich beim Rühren einfach weiterlesen ...

2 Kommentare:

  1. Schön beschrieben, Petra, kann mir alles bildlich vorstellen. Und es werden Erinnerungn an das alte Elsass wach ...den Regiokrimi setze ic mir mal auf meine Merkliste.

    Herzlichst
    Christa

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  2. Kleiner Tipp: Die Ermittler verbindet natürlich eine private Geschichte, die sich durch die Serie entwickelt. Man muss die Krimis von Rita Hampp nicht in der Reihenfolge lesen, aber es ist schöner. Vor dem Roulette-Krimi sind schon andere erschienen.
    Herzlichst, Petra

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