Aus der Zeit fallen
Ich mache das erst das zweite Jahr, weiß aber jetzt schon: Der Übergang zwischen August und September wird auch 2012 wieder ein willkommener Punkt für mich sein, um aus der Zeit zu fallen. Frankreich erwacht meist um diese Zeit aus einer zweimonatigen Sommerstarre, die für mich als Freiberuflerin der blanke Horror ist. Während bei den Lehrern um mich herum acht Wochen Dauerparty angesagt ist, versuche ich, Ruhe zum Arbeiten zu finden und die Menschen ans Telefon zu bekommen, die man zum Arbeiten und Funktionieren so braucht. Keine Chance. Ob Handwerker, Kunde, Bäcker oder Arzt: Rien ne va plus. Nur die Einbrecherbanden, die in dieser Zeit die Häuser leeren, scheinen noch ein Arbeitsethos zu besitzen.
Wenn dann - wie jetzt am Samstag - die letzte Ferienabschieds-Party gefeiert wird, weil am Montag die Schule wieder beginnt, laufe ich zu Hochform auf und werfe mich in Schale. Jetzt gehe ich feiern, ätsch! Zwei Wochen lang Kammermusik pur beim Internationalen Musikfestival Wissembourg - die letzte Woche ist nun angebrochen. Auch Freunde haben festgestellt, dass die Atmosphäre einzigartig familiär und bezaubernd ist - man erkennt mit der Zeit die "Stammkunden" und trifft alte Bekannte wieder. Und trotzdem ist man ganz nah an Perlen, die sonst in großen Konzerthäusern auftreten und dort sehr viel teurer zu haben sind.
Diese Zeit ist nicht nur ein Baden in guter Musik, sondern auch in Emotionen. Gestern war das Petersburger Quartett wieder da, mit dem ich vor einem Jahr nach dem Konzert speisen durfte und hin und weg war, wie sie mir von Nijinsky erzählten. Das war jener bewusste Abend, an dem mein Trotz geweckt wurde: jetzt erst recht! Und dann sitzen sie wieder auf der Bühne ... Beschrieben habe ich bereits die Überraschung durch das Szymanowski-Quartett, deren zweites Konzert ich leider verpasst habe. Bekannte erzählten, es sei gigantisch gewesen, die Hälfte des Publikums habe geweint und ein aus Belgien angereister Musikkritiker habe gemeint, das sei seit zehn Jahren das beste Kammerkonzert für ihn gewesen. Wissembourg, die kleine unbekannte Perle - ich habe jetzt schon innerlich für das nächste Konzert dieses Quartetts 2012 vorgebucht.
Es geschieht aber noch etwas anderes durch diesen Konzertzyklus. Tage und Nächte verschieben sich. Man freut sich während des Arbeitens auf den Abend, macht sich schön und fängt mit der eigentlichen Hauptsache an, während rundherum alle vor der Glotze sitzen. Man kommt heim, wenn andere schlafen. Manchmal nimmt man sich drumherum mehr Zeit, trifft sich mit Freunden, isst gemeinsam vorher oder nachher. Und manchmal erlebe ich auch das internationale Gemisch, das plötzlich einen Hauch Welt zwischen die Fachwerkfassaden weht. Nervt die Motorsense vor dem Fenster beim Schreiben, habe ich als Trost die Aussichten auf Schostakowitsch oder Brahms, Prokovieff oder Mahler im Kopf. Und manchmal habe ich jetzt eine herrliche Ausrede für Termine: Geht nicht, an dem Tag mus ich ins Konzert!
Man zählt die Woche nicht mehr nach Wochentagen, sondern nach Konzert - nicht Konzert - Tag zum Ausschlafen - Tag mit frühem Feierabend. Kein Urlaub, die Arbeit läuft ja weiter. Aber ein Gefühl wie Urlaub, weil Teile der Tage in einer anderen Wirklichkeit stattfinden, weil sich abends die Zeit anders zu drehen scheint. Dienstag, wann war das letzte Mal Dienstag? War das nicht dieser Tag, an dem jenes wunderbare Gefühl ...?
Wenn es mir gelingt, derart aus der Zeit zu fallen, so hat das üble Nachwirkungen. Es scheint nämlich eine imaginäre Kreativitätsdrüse zu geben, die in solchen Zeiten den Körper mit ihrem Hormon vollkommen überschwemmt. Äußerlich funktioniere ich scheinbar normal. Tippe im Internet herum, nehme das Internet aber gar nicht ernst. Höre Nachrichten und schmunzle, wenn die altvertrauten Superkatastrophen und Superskandale immr noch Quote bringen, weil sie als angeblich "neu" aufgepeppt werden. Formular XY sollte endlich auf der Mairie beantragt werden. Formular XY kommt auch eine Woche später noch richtig. Und warum bitte sollte ein normal denkender Mensch seinen Briefkasten täglich leeren, wenn heutzutage alles Wichtige per Mail erledigt wird? So vieles verblasst, wird unwichtig.
Und dann stehen sie plötzlich im Raum: die Problemlösungen, die nächsten Arbeitsschritte, die Ideen. Vor allem die ganz verrückten Ideen, die man im Alltag nicht hochkommen lässt. Frech stemmen sie die noch dünnen Ärmchen in die Hüften und trotzen: "Letztes Jahr um diese Zeit hast du auch auf eine von uns gehört!" Ich lasse Formular XY also noch ein Weilchen liegen. In diesen zwei Wochen haben die Ideen Vorfahrt. Und wenn dann in die Stille zwischen der Musik das Telefon klingelt und die Ideenumsetzung sich meldet, dann gehört auch das zur Magie dieser Zeit. Nur keine Formulare. Formulare sind tödlich für das Funktionieren der Kreativitätsdrüse. Dann doch eher einen Happen Schostakowitsch nach dem Frühstück ... von der CD aus Russland, die einer der Pianisten immer aus Petersburg mitbringt.
Für Formulare ist die nächste Woche noch gut genug. Dann nämlich ist der ganze Zauber für ein Jahr vorbei und Disziplin angesagt. Eiserne Arbeitsdisziplin. Ideen wollen ja nicht nur ausgedacht, sondern auch in die Wirklichkeit geholt werden. Man kann ein Musikstück noch so wunderbar im Kopf komponieren, wenn man es nicht aufschreibt und nicht zur Aufführung bringt, wird die Musik nicht Fleisch.
Wenn dann - wie jetzt am Samstag - die letzte Ferienabschieds-Party gefeiert wird, weil am Montag die Schule wieder beginnt, laufe ich zu Hochform auf und werfe mich in Schale. Jetzt gehe ich feiern, ätsch! Zwei Wochen lang Kammermusik pur beim Internationalen Musikfestival Wissembourg - die letzte Woche ist nun angebrochen. Auch Freunde haben festgestellt, dass die Atmosphäre einzigartig familiär und bezaubernd ist - man erkennt mit der Zeit die "Stammkunden" und trifft alte Bekannte wieder. Und trotzdem ist man ganz nah an Perlen, die sonst in großen Konzerthäusern auftreten und dort sehr viel teurer zu haben sind.
Diese Zeit ist nicht nur ein Baden in guter Musik, sondern auch in Emotionen. Gestern war das Petersburger Quartett wieder da, mit dem ich vor einem Jahr nach dem Konzert speisen durfte und hin und weg war, wie sie mir von Nijinsky erzählten. Das war jener bewusste Abend, an dem mein Trotz geweckt wurde: jetzt erst recht! Und dann sitzen sie wieder auf der Bühne ... Beschrieben habe ich bereits die Überraschung durch das Szymanowski-Quartett, deren zweites Konzert ich leider verpasst habe. Bekannte erzählten, es sei gigantisch gewesen, die Hälfte des Publikums habe geweint und ein aus Belgien angereister Musikkritiker habe gemeint, das sei seit zehn Jahren das beste Kammerkonzert für ihn gewesen. Wissembourg, die kleine unbekannte Perle - ich habe jetzt schon innerlich für das nächste Konzert dieses Quartetts 2012 vorgebucht.
Es geschieht aber noch etwas anderes durch diesen Konzertzyklus. Tage und Nächte verschieben sich. Man freut sich während des Arbeitens auf den Abend, macht sich schön und fängt mit der eigentlichen Hauptsache an, während rundherum alle vor der Glotze sitzen. Man kommt heim, wenn andere schlafen. Manchmal nimmt man sich drumherum mehr Zeit, trifft sich mit Freunden, isst gemeinsam vorher oder nachher. Und manchmal erlebe ich auch das internationale Gemisch, das plötzlich einen Hauch Welt zwischen die Fachwerkfassaden weht. Nervt die Motorsense vor dem Fenster beim Schreiben, habe ich als Trost die Aussichten auf Schostakowitsch oder Brahms, Prokovieff oder Mahler im Kopf. Und manchmal habe ich jetzt eine herrliche Ausrede für Termine: Geht nicht, an dem Tag mus ich ins Konzert!
Man zählt die Woche nicht mehr nach Wochentagen, sondern nach Konzert - nicht Konzert - Tag zum Ausschlafen - Tag mit frühem Feierabend. Kein Urlaub, die Arbeit läuft ja weiter. Aber ein Gefühl wie Urlaub, weil Teile der Tage in einer anderen Wirklichkeit stattfinden, weil sich abends die Zeit anders zu drehen scheint. Dienstag, wann war das letzte Mal Dienstag? War das nicht dieser Tag, an dem jenes wunderbare Gefühl ...?
Wenn es mir gelingt, derart aus der Zeit zu fallen, so hat das üble Nachwirkungen. Es scheint nämlich eine imaginäre Kreativitätsdrüse zu geben, die in solchen Zeiten den Körper mit ihrem Hormon vollkommen überschwemmt. Äußerlich funktioniere ich scheinbar normal. Tippe im Internet herum, nehme das Internet aber gar nicht ernst. Höre Nachrichten und schmunzle, wenn die altvertrauten Superkatastrophen und Superskandale immr noch Quote bringen, weil sie als angeblich "neu" aufgepeppt werden. Formular XY sollte endlich auf der Mairie beantragt werden. Formular XY kommt auch eine Woche später noch richtig. Und warum bitte sollte ein normal denkender Mensch seinen Briefkasten täglich leeren, wenn heutzutage alles Wichtige per Mail erledigt wird? So vieles verblasst, wird unwichtig.
Und dann stehen sie plötzlich im Raum: die Problemlösungen, die nächsten Arbeitsschritte, die Ideen. Vor allem die ganz verrückten Ideen, die man im Alltag nicht hochkommen lässt. Frech stemmen sie die noch dünnen Ärmchen in die Hüften und trotzen: "Letztes Jahr um diese Zeit hast du auch auf eine von uns gehört!" Ich lasse Formular XY also noch ein Weilchen liegen. In diesen zwei Wochen haben die Ideen Vorfahrt. Und wenn dann in die Stille zwischen der Musik das Telefon klingelt und die Ideenumsetzung sich meldet, dann gehört auch das zur Magie dieser Zeit. Nur keine Formulare. Formulare sind tödlich für das Funktionieren der Kreativitätsdrüse. Dann doch eher einen Happen Schostakowitsch nach dem Frühstück ... von der CD aus Russland, die einer der Pianisten immer aus Petersburg mitbringt.
Für Formulare ist die nächste Woche noch gut genug. Dann nämlich ist der ganze Zauber für ein Jahr vorbei und Disziplin angesagt. Eiserne Arbeitsdisziplin. Ideen wollen ja nicht nur ausgedacht, sondern auch in die Wirklichkeit geholt werden. Man kann ein Musikstück noch so wunderbar im Kopf komponieren, wenn man es nicht aufschreibt und nicht zur Aufführung bringt, wird die Musik nicht Fleisch.
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