Ein Buch öffnet Türen

Einmal im Jahr feiern das Außenministerium und die Botschaft der Russischen Föderation in Deutschland ein großes internationales Festival. Das Festival "Aus Russland mit Liebe", das jedes Mal in einer anderen deutschen Stadt ausgerichtet wird, soll den Menschen die Russische Föderation näherbringen und für Annäherung unter den Völkern sorgen. Festivalort in diesem Jahr war "die heimliche Kulturhauptstadt Russlands in Deutschland", wie es in den Grußworten hieß: Baden-Baden. Im prächtigen Palais Biron, einer riesigen Jugendstilvilla mit ausgedehntem Park an der Oos, die als Tagungszentrum dient, war der würdige Rahmen garantiert.

Palais Biron in Baden-Baden (alle Fotos per Klick zu vergrößern)

Wie war ich eigentlich als Gast dorthin geraten? Wenn ich das nur so genau wüsste ... Vordergründig war mir durch mein Buch über Nijinsky eine Einladung vermittelt worden. Aber als dann vor der Rede des Generalkonsuls der Russischen Föderation, Herrn R. Karsanov, die Stuttgarter Choristen die beiden Nationalhymnen intonierten, bekam ich tatsächlich Gänsehaut und schaute auf ein seltsamens Quirlen und Rühren in meinem Leben zurück. Hatte alles begonnen, als ich etwa mit sieben oder acht Jahren von meiner Mutter eine herrlich praktische "Geheimschrift" lernte, nämlich kyrillische Buchstaben? Wir verwendeten sie als Umschrift fürs Deutsche und schrieben uns Zettelchen, die keiner außer uns lesen konnte. Oder waren meine Bilderbücher schuld, welche die Oma aus dem Osten schickte, und in denen es von Bären wimmelte, die Mischa hießen, und von Hunden mit dem Kosenamen Bobik?

In meiner Teeniezeit herrschte der sogenannte Kalte Krieg. Die wirklichen Bedrohungen bekamen wir gar nicht mit, wir schauten uns im Kino James Bond an und betrachteten die Sache als exotisches Abenteuer. In der Nachbarstadt Baden-Baden gab es irgendeine russische Militärvertretung, die einzige auf westdeutschem Boden; wir nannten sie die "Botschaft" und ich weiß bis heute nicht, was es wirklich war. Etwa einmal im Monat tauchten in unseren Straßen fremdartige Limousinen mit Fähnchen auf und strengst bewachte Personen durften einkaufen gehen. Das reizte uns - ihre Sprache klang so melodiös und irgendwie war das alles ziemlich gruslig und aufregend. Sie durften nämlich mit niemandem sprechen. Sofort waren diese seltsam ausgepolsterten Kerls zur Stelle. Die bewachten Männer sahen aus, als seien sie wichtig, aber eigentlich waren sie Gefangene ihrer Entourage.

Was, wenn einer von denen flüchten wollte, wie sie es im Fernsehen zeigten? Wie romantische Mädchen in dem Alter damals waren, arbeiteten wir einen Schlachtplan aus, wie wir die Leute verstecken und heimlich verköstigen würden. Dumm nur: Für dieses Abenteuer mussten wir sie erst einmal verstehen! Wir hatten schließlich kein Synchronstudio wie James Bond. Als wir hörten, dass einer der Französischlehrer Russisch konnte, war die Sache beschlossen. Wie beknieten ihn, eine Russisch-AG einzurichten. Schade nur, dass es im Westen keine richtigen Lehrbücher gab und Sprache von uralten Schallplatten kam. So habe ich mich durch den Assimil gequält und nie sprechen üben können. Wirkliches Russisch habe ich erst gehört, als die Russen in den Neunzigern nach Baden-Baden kamen.

Die Solisten der "Petersburger Virtuosen" spielten vor der märchenhaften Kulisse des Parks und des Schwarzwalds

Da stand ich nun gestern, das fragmentartige Schulrussisch ist irgendwo im Hinterkopf tief vergraben. Zusammen mit dem Polnischen reicht es immerhin, nebulös den Reden folgen zu können. Der üble Kalte Krieg, der meine ganze Kindheit und Jugend begleitet hat, ist endlich und zum Glück Geschichte. Nie hätte ich mir damals zu träumen gewagt, dass es eines Tages möglich würde, sich zu besuchen, wieder gemeinsam zu feiern und beide Sprachen zu hören. Aber wie viel ist noch zu tun, um sich wirklich zu verstehen! Auch in Baden-Baden ist nicht alles eitel Sonnenschein. Ich werde dort immer wieder mit übelsten Klischees konfrontiert, es gibt auch tatsächlich einzelne Menschen, die solche Klischees immer wieder massiv vorleben - aber wie viel wird eigentlich unternommen, um die anderen wahrzunehmen und sich wirklich zu begegnen?

Wie schwierig Völkerverständigung wirklich ist, erlebe ich bei meiner Arbeit tagtäglich zwischen Deutschland und Frankreich. Offiziell Nachbarn, angeblich gute Freunde, man isst im anderen Land, macht Urlaub und kauft ein - hat womöglich persönliche Freunde auf der anderen Seite der Grenze. Und trotzdem kracht es oft auf der einfachsten zwischenmenschlichen Ebene. Und zwar immer dann, wenn es an Empathie fehlt, wenn sich Menschen nicht vorstellen können, dass Menschen in einer anderen Kultur eben manche Sachen anders denken und tun. Schlimmer noch als Vorurteile setzen sich Klischees fest, Postkartenidyllen, die an der Wirklichkeit scheitern müssen. Aber wer mag hinter die Postkartenfotos blicken? Manchmal komme ich mir vor wie eine Löwenbändigerin, wenn ich zwischen zwei klischeebeladenen sturen Eseln für wirkliche Verständigung werben will. Und allzu oft frage ich mich, warum es so schwer ist, in die Haut des anderen zu schlüpfen. Vielleicht einfach einmal zu versuchen, die eigene Kultur und Mentalität wie ein Alien zu betrachten und festzustellen: Wir sind alle irgendwie komisch für Außenstehende - und alle nur Menschen.

Nun kann man Deutschen und Franzosen eine einfache Hausaufgabe geben: Sie können sich auf ARTE "Karambolage" anschauen und dadurch lernen, wie der jeweils andere "tickt". Völkerverständigung hat viel damit zu tun, sich selbst relativieren zu können, ohne den Stolz zu verlieren, einfach man selbst sein zu dürfen und den anderen er / sie selbst sein zu lassen. Wie aber bringt man die Angehörigen zweier Staaten zusammen, die sich noch nicht so lange besuchen können, zwischen denen auch geographisch mehr Entfernung liegt? Wie vermittelt man Kultur an einem einzigen Tag, in einem einzigen Haus?

Detailansicht des Palais Biron, das trotz der Modernisierung auch innen wunderschöne Jugendstil-Details aufweist

Seit meinen Zeiten in Polen habe ich bei offiziellen Ansprachen nicht mehr so oft zwei Wörter in absoluter Wertschätzung gehört: Kultur und Künste. Politiker sollten sich öfter einmal klarmachen, dass ihr Geschwätz zwar Unheil anrichten kann oder welches verhindern - aber Kunst und Kultur eigentlich staatstragende Bestandteile sind. Hier findet die internationale Kommunikation auf Menschenebene statt. Wo Menschen wirklich und wahrhaftig miteinander interagieren - das ist auf der Ebene von Kunst und Kultur. Was wollte ein Staat eines Tages präsentieren, wenn er Kunst und Kultur kaputt sparte und niedrig schätzte?

Das war auf dem russischen Festival absolut nicht der Fall. Und ich muss zugeben, ich war wieder einmal neidisch auf all die anderen Künste, die keine Übersetzer brauchen und direkt ins Herz hinein wirken: die Musik, die Bildende Kunst, die Kochkunst, das Ballett (war alles da) ... Die Reden der hochstehenden Persönlichkeiten konnte man nur verstehen, wenn man die Sprache verstand und weil sie übersetzt wurden. Für alles andere braucht man keine Übersetzungen. Liebe geht bekanntlich durch den Magen und Kunst wirkt auch direkt. Wenn wir das doch einfach öfter in den Alltag hinüberretten könnten. Uns gegenseitig öfter in die Kochtöpfe schauen, miteinander Musik hören, die ersten ungelenken Worte wagen. Ich erlebe so viele Hemmungen bei Leuten, die Sprachkenntnisse haben und trotzdem nicht zu sprechen wagen - aus Angst vor Fehlern. Als ob es aufs Perfekte ankäme! Hände und Füße reichen doch auch im Urlaub! Es gibt ein Verstehen jenseits der Vokabeln - die Vokabeln kommen mit der Zeit von selbst. Auf der anderen Seite: Sind das eigentlich nur Probleme der Völkerverständigung? Wann haben wir das letzte Mal tatsächlich mit unserem Nachbarn zuhause geredet, uns wirklich ausgetauscht?

Noch etwas ist mir gestern aufgefallen. Ich musste immer schmunzeln, wenn ich als "richtige" Schriftstellerin vorgestellt wurde. (Offenbar muss man das heutzutage dazusagen). Das Echo war erstaunlich. Die meiste Zeit komme ich mir eher wie ein gesellschaftlicher Paria vor und höre nicht selten so dumme Sprüche wie "hammse denn auch einen richtigen Beruf?" oder "hättse nicht was Anständiges lernen können?" oder "was arbeitet so eine denn den ganzen Tag?" Bei den Russen ganz anders. Da scheint es ein äußerst ehrenvoller Beruf zu sein und die erste Frage richtet sich aufs letzte Buch. In dem Moment, in dem der Name Nijinsky fällt, beginnen die Augen zu leuchten. Den kennen und verehren sie alle. Keiner muss heimlich bei Wikipedia nachschlagen. Und schon ist man miteinander im Gespräch.

Der gestrige Tag war ein Kontakteknüpfen und Kennenlernen. Weil man ja, wenn man sich einen verrückten Traum erfüllt hat, wieder einen neuen träumen darf, wünsche ich mir einfach mal ganz frech eines Tages eine Übersetzung ins Russische. Mein kleiner Finger sagt mir, dass das eine dieser verrückten Visionen ist, die sich irgendwie verwirklichen lassen müssten.

Der weitläufige Park mit seinen uralten seltenen Bäumen grenzt direkt ans Oosufer, wo auf der anderen Seite der Dahliengarten liegt. Das Auge sieht bis zum Schwarzwald nur Grün - mitten in der Stadt
Ganz besonders hingerissen bin ich aber in Bezug auf ein neues Sachbuchprojekt, das ich zusammen mit der Deutsch-Russischen-Kulturgesellschaft auf den Weg bringen will. "Das ist ja dein Lebensthema, die Grenzgängerei", meinte kürzlich ein Freund und Kollege dazu. Aber wie sollte ich armer kleiner Wicht all das allein recherchieren können, noch dazu mit rudimentären Russischkenntnissen!

Seit gestern bin ich einfach nur überwältigt und tief berührt von der spontanen Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft, mit der ich nicht gerechnet hätte. Irgendwelche Menschen, die ich noch nicht einmal persönlich kenne, würden für mich in russischen Archiven und Bibliotheken suchen, andere übersetzen, wieder andere besondere Bücher beschaffen, wenn es nötig wäre. Und ich habe in Baden-Baden nicht nur die Neureichs, die allein die Schlagzeilen machen, sondern hochgelehrte Menschen von Universitäten, Übersetzer, Gebildete, die ich alles fragen kann. Nicht einmal die Genehmigung fürs Stadtarchiv muss ich selbst beantragen, das macht meine russische Übersetzerkollegin für mich.

Unter solchen Bedingungen habe ich noch nie ein Buch vorbereitet. Es fasziniert mich, bevor ich auch nur ein Exposée ganz durchdacht hätte. Für "Faszination Nijinsky" habe ich mir mühsam Quellenfragmente in Übersetzungen aus allen möglichen Ländern zusammensuchen müssen, weil nicht einmal per Internet alles zugänglich war. So viel gemeinsame Geschichte und Kultur wurde nie ins Deutsche übersetzt. Wie oft habe ich in einsamen Stunden gebangt, irgendein Rechercheloch nicht stopfen zu können! Und auf einmal geht der Schlagbaum an dieser Recherchegrenze hoch. Ich kann fragen, nach Herzenslust wühlen. Schöner können die Bedingungen fürs Sachbuchschreiben doch nicht sein, oder?

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