Rückblickeritis

Sag niemals nie. Das könnte ein erster Vorsatz fürs neue Jahr sein. Denn kaum habe ich gesagt, dass ich bis 6. Januar völlig ins Schreiben abtauche, schneit eine Speedübersetzung ins Haus, die mich einen Monat lang völlig anders an den Schreibtisch fesseln wird als gedacht. Der Schreiburlaub ist also abgebrochen, aber natürlich darf es "brotberuflich" gern so erfreulich weitergehen.

Allüberall hagelt es Jahresrückblicke, so viele, dass ich denke, ich ergreife die Gelegenheit und langweile in dieser Hinsicht auch ein wenig. Das Jahr 2011 ist schnell erzählt. Wirtschaftlich war es ein Desaster: Ein ganz wichtiger Dauerkunde ist pleite und ein anderer wichtiger Kunde hat nur nach aufwändigem Heckmeck mit Anwalt seine Rechnungen bezahlt. "Trau, schau, wem" kann man gar nicht mehr sagen, denn die mangelnde Zahlungsmoral greift inzwischen selbst bei Leuten um sich, von denen man das nie zu glauben wagte. Das Freiberuflerdasein macht nicht wirklich Spaß, wenn man es bei Miete, Strom und Wasser nicht genauso halten kann.

Trotz alledem war es eins der erfolgreichsten Jahre seit langem. Der Wahnsinn, ganz schnell mal ein Manuskript zu retten, indem ich es selbst herausbringe, hat sich gelohnt. Schon lange nicht mehr habe ich so viel Mut gebraucht und so viel Neues gelernt. Als im Sommer "Faszination Nijinsky" erschien, konnte ich es kaum glauben - vor allem konnte ich kaum glauben, dass ich das Buch auch an Publikum würde bringen können: ohne die Unterstützung des Buchhandels (mit winzigen Ausnahmen, die mich persönlich kennen) oder des Feuilletons, ohne die Maschinerie eines Verlags an meiner Seite. Zwar werden die Abrechnungen erst im neuen Jahr kommen, aber ich kann jetzt schon stolz behaupten, dass ich die Verkaufszahlen eines Verlags wie Parthas bei meinem Sachbuch "Das Buch der Rose" geschafft habe. Ganz allein - und mit Unterstützung begeisterter LeserInnen, die das Buch fleißig weiterempfehlen. Das lässt mich natürlich über die Buchbranche nachdenken.

Völlig anders als bei all meinen Büchern zuvor war das Feedback von Leserinnen und Lesern, denen ich dank Social Media (seit 2011 auch Facebook) plötzlich sehr nahe bin - die mich aber auch aus dem "echten Leben" fleißiger anschreiben als früher. Ich bin immer noch völlig benommen von der Wirkung von "Faszination Nijinsky". Das sehr hilfreiche und konstruktive Feedback bestärkt mich in meinen stilistischen wie inhaltlichen Wagnissen. Offensichtlich ist die Zeit reif dafür, dass man LeserInnen durchaus (heraus)fordern kann: Mit unüblichen Themen, raren Geschichten und sorgfältig komponierter Sprache. Vor allem aber sehe ich im sogenannten "erzählenden Sachbuch" eine große Zukunft. Die angelsächsischen Länder und Frankreich haben darin eine starke Tradition und wahrhafte Könner, in Deutschland tut man sich oft noch ein wenig schwer damit, harte Fakten so zu erzählen, als sei man in einem Film oder in einem Roman. Wissen und Bildung können durchaus zum sinnlichen Erlebnis werden und die Neugier beflügeln. Und Sachbücher können durchaus literarisch werden.

Auf diesem Weg will ich unbedingt weitermachen, weil sich hier alles vereint, was ich gelernt habe und wo meine Stärken liegen - ob das journalistische Formen wie Feature oder Essay sind, grenzgängerische Themen oder Geschichte und Kultur. Ich bin offener geworden, was den Weg zu solchen Büchern betrifft, warte nicht mehr ewig, sondern suche mir Partner, die mit mir im Team ein Projekt umsetzen. Das können wieder gute Verlage sein oder wie im Fall meines nächsten Projekts freie Geldgeber und Mitarbeiter. Ein erzählendes Sachbuch über die russischen Spuren in Baden-Baden ist für Verlage zu "eng" angelegt, da muss ich mich gar nicht erst bewerben. Dass es relativ zeitgleich ins Russische übersetzt werden soll, ist ein absolutes Novum für mich - sprich, ich muss 2012 wieder eine Menge Neues lernen - etwa über Lizenzgeschäfte ohne Zwischenhändler.

Hier kann man bereits erkennen, dass "Nijinsky" ziemlich heftig in meinem Leben herumgerührt hat. Ich durfte in diesem Jahr nämlich durch das Buch auch wunderbare Menschen kennenlernen, wobei die meisten davon - wie praktisch - in meiner Lieblingsstadt wohnen. Sie haben mir dort bisher völlig unbekannte neue Welten erschlossen und mir einen kulturellen Reichtum gezeigt, von dem ich seit Jahren träumte. Das hat nicht nur meine Arbeit verändert, sondern auch mein Privatleben. Auf längere Sicht denke ich ernsthaft darüber nach, die ständigen Fahrten in diese Stadt künftig kürzer zu gestalten. Aber dazu muss ich mein Leben dann derart heftig umkrempeln, dass ich das lieber langsam angehe.

Denn ich habe 2012 noch so viel vor, dass ich für den angedrohten Weltuntergang einfach keine Zeit haben werde (ich werde aber live von diesem Ereignis twittern!). Für einen Kunden in England muss ich dringend mein Englisch wieder aufpolieren und dreisprachig denken - und so "ganz nebenbei" möchte ich unbedingt Russisch lernen. So viel zur typischen Schriftstellerdiskussion über Lebensthemen. Ich fürchte inzwischen, es ist umgekehrt als vermutet: Die Lebensthemen suchen sich ihre Schriftsteller. Die Kategorie "Grenzgängerei" hier im Blog war ursprünglich als Gag entstanden, weil ich für vieles einfach keine passende, glatte Schublade fand. Bis mir immer klarer wurde, dass genau das mein Lebensthema ist. Dass es in all meinen Büchern darum geht. Dass man daraus auch einen Beruf machen kann, ist mir allerdings erst vor zwei Jahren klar geworden. So betriebsblind kann man sein.

Drum habe ich nur drei gute Vorsätze fürs neue Jahr - und die sind jedes Jahr die gleichen:
  • nach allen Seiten offen bleiben
  • neugierig bleiben
  • egal, was kommt, es als spannende Herausforderung begreifen ...
... und damit wünsche ich allen Freundinnen und Freunden, Leserinnen und Lesern
... ein glückliches neues Jahr!
... une heureuse nouvelle année!
... a happy New Year!
... С наступающим Новым годом!
... Szczęśliwego Nowego Roku

Die Sonne geht im Osten auf - ein Blick von den Vogesen Richtung Schwarzwald

6 Kommentare:

  1. Happy New Year, aus dem fast tropischem Canterbury, von einem guten Rutsch kann hier wahrhaftig nicht die Rede sein. Doch viele Wege sind mit Glatteis versehen, von den Fettnaepfchen ganz zu schweigen.

    AntwortenLöschen
  2. Wow, the Canterbury ghost is writing!
    Darf ich mal schrecklich klugeiern? Der "Rutsch" ist wahrscheinlich ein verballhorntes Rosch ha-schana (=Neujahr), das übers Jiddische ins Deutsche kam. Es darf also warm bleiben. Was sowohl meine Heizkostenrechnung wie auch mein Auto freut ;-)))
    Die besten Wünsche über den Ärmel!

    AntwortenLöschen
  3. Wie peinlich, jetzt habe ich doch glatt zwei Bücher verwechselt. Der ghost kam von Canterville. Canterbury war doch das Dorf mit den Mordermittlungen? ;-)

    AntwortenLöschen
  4. Liebe Petra,

    ich bin wirklich beeindruckt von dem, was du dieses Jahr auf die Beine gestellt hast, und auch davon, wie du es präsentierst, ohne jemals durch penetrante Eigenwerbung zu nerven. Deine Themen sind nicht meine Themen, aber ich liebe deinen Stil und lese wahnsinnig gern über deine Abenteuerin als Autorin und Selbstverlegerin. Und als Übersetzerin natürlich. :) (Und mir fällt gerade eine Freundin ein, die Nijinsky sehr wohl interessieren könnte und für die ich ohnehin noch ein Dankeschön brauche. Ha!)

    Ich wünsche dir im nächsten Jahr weiterhin fantastische Erfolge und mach bloß weiter so! Den Mutigen gehört die Welt.

    AntwortenLöschen
  5. Liebe Frenja,
    wenn mir jemand sagt, dass er meine Texte gern liest, obwohl ich nicht gemeinsame Themen treffe, dann ist mir das ein noch viel größeres Kompliment, als würde mich ein Ballettfreak loben - das motiviert mich sehr, danke! Und ich hoffe ja, auch mal wieder andere Themen zu haben, die leider immer öfter dran glauben müssen, weil mich das Brotjobben auffrisst. Du kennst das ja - Übersetzen ist auch irgendwie nicht der Beruf, um sich Freiräume zu schaffen ;-)

    Ich kann den Nijinsky per Nijinsky-Aufkleber übrigens gern "fernsignieren" (einfach ins Buch kleben), wenn du mir hinter den Kulissen eine Adresse zukommen lässt.

    Dir wünsche ich auch kräftiges Durchbeißen und Kraft und gute Aufträge!

    AntwortenLöschen
  6. Übrigens sagen Ballettfreaks erstaunt über mein Buch: "Boah, das ist ja gar nicht nur über Ballett, da geht's ja um einen Künstler und das Leben von Kunst!"

    AntwortenLöschen

Deine Sicherheit:
Mit restriktiven Browsereinstellungen kannst du nur als "Anonym" und mit "Namen / URL" kommentieren. Möchtest du dein Google-Profil verwenden, musst du aktiv im Browser unter "Cookies von Drittanbietern" diejenigen zulassen, die nicht zur Aktivitätenverfolgung benutzt werden. Nur so kann das System dein Profil nach Einloggen erkennen.

Mit der Nutzung dieses Formulars erkläre ich mich mit der Speicherung und Verarbeitung meiner Daten durch Google einverstanden (Infos Datenschutz oben im Menu).
(Du kannst selbstverständlich anonym kommentieren, dann aber aus technischen Gründen kein Kommentarabo per Mail bekommen!)

Spam und gegen die Netiquette verstoßende Beiträge werden nicht freigeschaltet.

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.

Powered by Blogger.