Alle Jahre wieder

Kennt jemand das Phänomen: Man sucht nach einem ganz bestimmten Geschmack aus der Kindheit und kocht sich dumm und dusslig - das Zeug will einfach nicht so schmecken wie früher? Das liegt zum einen daran, dass uns Erinnerungen trügen, vor allem, wenn sie mit starken Emotionen verbunden wurden. Das menschliche Hirn ist nämlich sogar fähig, Erinnerungen zu fälschen, ohne dass einem das bewusst wird. Der leckere Grießbrei von Tante Agatha wird deshalb angeblich schauderhaft geschmeckt haben, wenn man dort einen Zwangsurlaub ohne Freunde verbringen musste. Und der wirklich scheußliche Grießbrei von der Oma wird uns zuckersüß in Erinnerung bleiben, wenn damit eine Weihnachtsbescherung verbunden war.

Und dann ist es auch gar nicht so einfach, sich all die Retro-Zutaten zu besorgen, zumal im Zeitalter von Convenience Food, Zuckerersatzstoffen und künstlichen Aromen! Wer einmal Ahoi-Brausetütchen in den 1960ern gekauft hat, wird wie ich gespuckt haben, als die Dinger plötzlich mit künstlichem Farbstoff und Süßstoff auf den Markt kamen. Die Sendung Karambolage auf ARTE widmete sich einmal in einem Beitrag dem Phänomen des deutschen Nudelsalats, der in den 1970ern bei keiner Party fehlen durfte. Warum aber war das Zeug so lecker und begehrt? ARTE hat probegekocht - immer war das Ergebnis abscheulich. Bis die Redaktion auf die Idee kam, genau die gleichen, heute als "ungesund" verpönten Zutaten zu nehmen wie früher: Die Erbsen müssen aus der Dose kommen, die Mayonnaise muss vollfett und echt sein. Und die gefüllten Eier bitte immer mit falschem Kaviar von Meeresschnecken und mit Streifen von grellorangefarbenem Lachsersatz dazu! Auch wenn wir uns heutzutage das Echte vielleicht leisten könnten, echter Lachs schmeckt einfach nicht wie dieses Kindheitserlebnis.

Und so geht es mir mit Mutterns Rumkugeln. Leider war ich zu klein, um sie probieren zu dürfen - heimlich habe ich unten von den Dingern etwas abgekratzt und sie wieder aufs Papier gesetzt. Ich war außerdem zu klein, um mir ein Rezept zu merken. Nur an die herrliche Stauberei mit dem Kakaopulver erinnere ich mich. Später hat sie die Rumkugeln nie wieder machen wollen. Seither probiere ich alle Jahre wieder, den Originalgeschmack aus den 1960ern zu rekonstruieren. Mit brutal weißem Zucker, Primitiv-Rum ... und ... dann fängt es an - es schmeckt nicht "richtig". Die Rezepte, die ich habe, klingen sehr nach heute, vor allem, wenn Sahne oder gar Crème Fraiche auftauchen. Letztes Jahr habe ich mit der Sahne experimentiert und war fast, aber nur fast dran. Dieses Jahr werde ich mutig sein. Mir ist nämlich eingefallen, dass dort, wo meine Eltern herkommen, nicht mit Sahne gekocht wurde, sondern mit Sauerrahm. Und jetzt habe ich im Kühlschrank sogar Sauerrahm aus dem Osten, der viel milder und feiner schmeckt. Ob man Rumkugeln mit Sauerrahm machen kann? Morgen werde ich es wissen.

Zu diesem Reenactment in der Küche brachte mich übrigens eine wunderbare Bettlektüre. Marieke van der Pol: Brautflug (verfilmt mit Rutger Hauer). Ein aufregendes, anrührendes und vielschichtiges Buch über das Schicksal dreier Emigrantinnen, die sich von Holland nach Neuseeland ins Unbekannte aufmachen, als Bräute irgendwelchen Männern versprochen, die sie nicht wirklich kennen, und die alle mit einem geheimnisvollen Mann konfrontiert werden. Schon der Flug ist abenteuerlich - es handelt sich um einen transatlantischen Wettflug, der übrigens tatsächlich stattfand. Zum Glück keine übliche Liebesgeschichte, sondern ein Roman um Emigrantenleben und um die Frage, wie viel Neuanfang möglich ist und wie man mit grundlegenden Entscheidungen im Leben umgehen kann.

Eine der drei Frauen fängt in späteren Jahren aus einem bestimmten Grund plötzlich an, Lattkes zu backen. Und obwohl sie im Stress steht, eine Modenschau vorbereiten zu müssen, verschwindet sie fast manisch in ihrer Küche, backt wie besessen Lattkes, um endlich den Geschmack aus der Küche ihrer Großmutter zu treffen. Die Geschichte um diese Lattkes ist eine der eindrücklichsten Szenen, die ich seit langem in einem Buch gelesen haben - und dieses Bild erzählt so viel mehr als der vordergründige Vorgang, es geht unter die Haut. Denn Geschmäcker und Erinnerungen sind am dichtesten von allem miteinander gekoppelt, noch mehr als Erinnerungen und etwa das Hören bestimmter Lieder. Essen kann Erinnerung bedeuten. In diesem Roman macht das Essen sogar wieder lebendig ...

Lesetipp: Marieke van der Pol: Brautflug, Krüger Verlag
Gucktipp: "Brautflug" - der Film
Schmecktipp: Rumkugeln

PS: Eine ideale Überleitung zum morgigen Thema - da geht es nämlich um Rumi (nicht Rum!) und Baklava. Oder so ähnlich.

8 Kommentare:

  1. Hast Du es schon mal mit dem Rumaroma aus den kleinen Fläschchen versucht, die früher immer den "richtigen" Geschmack für Glasur & Co geliefert haben? Und Kondensmilch statt Sahne?

    Bei mir waren es keine Rumkugeln, aber selbst gemachter Eierlikör und die Zitronenherzen aus dem Oetkerkochbuch! Dem alten!

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  2. Kondensmilch ist eine Idee, das war damals ja "in". Allerdings weiß ich, dass meine Mutter ratzfatzstarken Rum benutzt hat, deshalb durfte ich armes Würstchen die Dinger ja nie essen. ;-)

    Zum Eierlikör hätte ich ein echt umwerfendes polnisches Rezept meiner Oma, die immer frech lachend "Blut und Eiter" serviert hat. Das war selbstgemachter Eierlikör mit einer Lage selbstgemachtem Kirschlikör im Glas.

    Übrigens danke für das Buch - du siehst ja, welchen Effekt es hatte!

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  3. Aaah von dem Buch ist meine Mutter auch begeistert :-)
    Ich wollte nur sagen, Ersatzmayo (beinahe fettfrei) können die Gesundheitsapostel behalten, kein Wunder, dass heute nichts mehr schmeckt.
    Als Kind habe ich furchtbar gern Brausebonbons gegessen, vor wenigen Jahren habe ich mal welche in Dland ergattert. Schmecken absolut fade. Blassgrüne Erbsen aus der Dose oder dem Glas könnte ich heute noch kalt essen :-)Wie ging noch der Werbespruch? Bonduell ist das Famose blabla (vergessen) aus der Dose. Wenn ich mich doch an wichtigere Dinge genauso gut erinnern könnte ...
    Absolut richtig, was du über die Erinnerung sagst. Ich habe eine Bekannte, deren Erinnerungen die einzig richtigen sind, weswegen sie sich über Jahre mit nie gewesenen Situationen quält. Naja, jede so, wie sie sich peinigen will.

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  4. Ich ärgere mich gerade über "cubes d'or", DIE Brühwürfel in Frankreich. "Jetzt mit noch mehr Geschmack", was bedeutet, dass neuerdings neben zwei anderen chemischen Geschmacksverstärkern auch noch Glutamat reingehauen wird.

    Das mit den "gefälschten" Erinnerungen sollte man allerdings nicht immer auf die leichte Schulter nehmen. Dahinter können auch Traumata und andere Probleme stecken. Auch erstaunlich, aber wahr: Die Folgen grundlegender Familienlügen oder Familiengeheimnisse "vererben" sich in ihren Auswirkungen oft bis in die Enkelgeneration.

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  5. Ja, ich weiß das wohl, dass es sich auch um etwas Ernsteres handeln könnte - mein Hobby ist Psychologie :-) - aber ich meinte auch nicht Situationen, die so nicht stattgefunden haben, sondern Erinnerungen, die mit starken Emotionen gekoppelt waren, aber trotzdem nicht 100 Prozent korrekt waren bzw. sind - eben weil, wenn man von Emotionen beherrscht wird, die Wahrnehmung eine andere ist, als - in diesem Fall meine - die ich in der Situation dabei war - aber nicht in der Psyche eines Menschen stecke. Was u. U. erst viel später heraus kommt, weil vorher nicht drüber gesprochen worden ist. Stichwort: Verärgerung herunter schlucken. Was eben auch auf Familien"lügen" zutrifft. Wenn man nie redet, nie rechtzeitig Fragen stellt, dann gibt es verquirrlte Erinnerungen.

    Erschreckend finde ich grundsätzlich, dass oft diejenigen mit den meisten Problemen Berufe ergreifen, in denen sie anderen Leuten "helfen" - und das Helfen mal absichtlich in "" gesetzt. Ich mache einen großen Bogen um "Helfer" und frage mich als erstes, was den Menschen antreibt. Selbstlos ist in meinen Augen kein Mensch.

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  6. Ha, das kenne ich auch, Petra!
    Seit Jahren probiere ich, so einen "Kindheitsgeschmack" nachzukochen, aber so richtig ist es nie...

    Übrigens - wer ist denn nun DER Nachwuchsautor 2011? Das wolltest du gestern verraten... oder hab ich's übersehen?

    Herzliche Sonntagsgrüße!

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  7. RCN, deshalb habe ich einen Helferberuf abgebrochen und bin Autorin geworden, da kann ich rücksichtslos um mich selbst kreisen ;-)))

    Jan, der neueste Beitrag im Blog, der stand theoretisch schon um 16:48 Uhr drin ;-)

    Wünsche allen einen schönen Sonntagabend - und übrigens, die Rumkugeln, die eigentlich Rumtrüffel sind, habe ich jetzt raus. Wie vermutet, darf man an keiner einzigen Kalorie sparen...

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  8. ... und Jan, nicht übertreiben mit dem perfekten Nachkochen. Ich operierte gerade mit Ommas Heringssalat herum, der dank einer Sauermilch vorzüglich schmeckt, wahrscheinlich besser als bei der Oma. Aber frag mich bitte nicht, wie viele Kilometer ich ins Ausland fahren muss, um Sauermilch zu bekommen! :-)

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