Newcomer des Jahres 2011

Er macht eigentlich alles anders, als es die wohlfeile Ratgeberliteratur Nachwuchsautoren aufschwatzen will: Sein Buchtrailer hypnotisiert, seinen Namen kann man sich nur mit Mühe merken, seine Website lässt sich besser nachts entziffern als im Sonnenlicht - und seine Texte fordern die Leser bis unter die Haut. Wahrscheinlich habe ich Jonas Navid Mehrabanian Al-Nemri genau deshalb entdeckt: weil er wohltuend anders, neu und unverbraucht schreibt.

Irgendwo in den Social Media begegnete mir zufällig der Link zu seinem Buchtrailer mit der wunderbaren, fast hypnotischen Musik von Äl Jawala und der Botschaft "dieses Buch erwartet dich ... es wird all deine Seiten lesen". Mir ist das wirklich noch nie passiert: Kaum hatte ich die kurze Textpassage im Trailer gesehen, bestellte ich auch sofort das Buch. Kaum hatte ich das liebevoll gestaltete Buch angefangen, bekam ich auch schon Gänsehaut.

Man muss sich allerdings bewusst einlassen auf diese schillernde Welt facettenhafter Einblicke und auf Al-Nemris Sprache, die nirgends Halt macht und darum überall zuhause scheint. Seine Erzählungen sind keine Plot-Buster, sondern poetische Kleinode nahe einer Prosalyrik. Unwillkürlich wurde ich erinnert an die große persische Dichtung alter Zeiten, an die inneren Bilder eines Hafiz oder Rumi. Und doch lotet der Autor nicht die persische, sondern die deutsche Sprache aus wie kein zweiter, zieht einen in den Sog seiner zutiefst musikalischen Sätze, bis man die Wörter mit ihm atmet, zerkaut und auf der Zunge zergehen lässt. Das ist keine Fastfoodliteratur, das ist wie Baklava, und will darum sachte und aufmerksam, in kleinen Stücken, verkostet werden.

Wer sich vom angestrengten Denken freimachen kann, hat wahrscheinlich am meisten von Al-Nemris Kleinoden. Die Geschichten wirken über den Klang und das Gefühl, über freie Assoziationen. In wenigen Sätzen verbirgt sich eine ganze Welt, wenn es etwa heißt:
"Die letzten Rufe treffen ihn nicht mehr, jedes geliebte und gelebte Wort hält inne, bis alles steht. Küssende, überall, unterbrechen ihren Kuss, Schreiber verlieren ihre Zeile."
Und dann liegt darin wieder Geheimnis, Bildhaftigkeit voll offener Interpretationsmöglichkeiten:
"Seine Stimme färbte alles dunkel ein, ein Violett im Safrangelb, ein Getrocknetes in meinem Augenblau. Vielleicht, weil ich zusah, mit meinem Gehör."

Worum geht es in "Umm Nur" (was so viel heißt wie "Mutter des Lichts" - wobei das Licht, Nur, als Name männlich wie weiblich sein kann)? Titel wie "Lucifer", "Harem", "Amor und Psyche" oder "Lilith" verweisen auf uralte Mythen. Tatsächlich könnten manche Passagen in uralten Schriften vorkommen, so zeitlos scheinen sie. Obwohl alle Erzählungen in einem kompositorischen Zusammenhang stehen, werfen sie mehr Fragen auf, als sie klären: Wer ist dieser Mann, der da liebt - und ist er vielleicht doch eher eine Frau? Und die Liebe, ist sie nicht eher ein Leiden? Schauen wir jemandem zu, der in einer Ruine des Irakkriegs steht, oder befinden wir uns eher in biblischen Zeiten? Kaum hat man sich auf eine Version festgelegt, bricht sie der Autor wieder. Und im schlimmsten Moment, in dem wir uns gegen die Figur am meisten wehren mögen, stehen wir plötzlich selbst da und schauen mit ihren Augen, unseren Augen in diese seltsam ungreifbare, ständig oszillierende Welt.

Der Band von Jonas Navid Mehrabanian Al-Nemri führt seine Leser in Zwischenwelten, die ständig in Bewegung sind. Es gibt kein klar erkennbares "Orientalisch" oder "Westlich", kein "Jetzt" oder "Damals", sondern nur ein Amalgam oder ein blitzschnelles Wechseln. Die Geschichten erzählen vom Unbehaustsein in der Welt und von einer Ruhe, die nur im Fließen liegen mag. Nichts bleibt, und genau darum lebt alles, lebt sogar die Steinmauer. Das Erleben im Jetzt versteinert zum Mythos und gleichzeitig brechen Ahnungen aus alten Mythen die versteinerte Gegenwart auf - wie etwa beim "Bierdeckelwort", das ein Adam seiner Geliebten in einer Kneipe über den Tisch schiebt.

Kann ein Mensch so viel lieben, so intensiv lieben, dass sich Tod und Vergänglichkeit einschleichen, die manchen Erzählungen eine eigenartig süße Melancholie verleihen? Auch diese Extreme scheinen eins. Der "Er" im Buch ist ein glücklicher, weil leidensfähiger Mensch. Oder ist er ein Leidender, weil er so intensiv glücklich sein kann? Eines jedenfalls ist der Autor, der von diesem "Er" erzählt, nicht: ängstlich.

Al-Nemri stellt sich auch sprachlich den tiefsten Abgründen, seine Sprache ist hocherotisch wie brutal, umhüllend wie entlarvend, und dann wieder ganz zart. Etwa wenn der Schreiber in der letzten Erzählung unbeschriebene Blätter vom Boden aufnimmt und an die Wand heftet, "behutsam mit nur einem Stich, sie sollen nicht ausbluten." Er ist ein Getriebener, jener Dichter in der Geschichte, ein Besessener:
"Deshalb schreibt er, schreibt alles, alles aus sich heraus, Zeilen, Blätter, ganze Wände voll, deshalb schreibt er, damit niemand ihn, niemand ihn selbst lesen kann."
Dem jungen Dichter jenes Dichters wünsche ich von ganzem Herzen, dass ihm nie das Blut ausgehe auf jenem steinigen Weg zum Sha'er, zum Dichter. Möge er sich nicht von Türhütern des Buchmarkts schleifen lassen, sondern vom Wind des Lebens. Oder prosaischer gesagt: Ich habe lange nicht mehr ein derart beeindruckendes literarisches Debut von solcher Tiefe in Händen gehabt. Auch wenn ich mir den langen Namen erst nach einiger Zeit merken konnte, wünsche ich mir, dass man von Jonas Navid Mehrabanian Al-Nemri noch mehr lesen wird.

1 Kommentar:

  1. Vielen Dank für den wertvollen Tip über Jonas Navid Mehrabanian Al-Nemri´s Buch. Das ist gekauft, aber sowas von ... :-)

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