Schönhören : Musica
Heute Kontrastprogramm Großstadt: Europahauptstadt Strasbourg. Nach den gestrigen Bergstraßen Boxauto fahren, sich in nicht existente Spuren einfädeln und bei den Trambaustellen wie Dagobert Duck intensiv "Heu-wä-gel-chen" sprechen, nur nicht dem dicken Touristenbenz folgen. Denn der landet - wie alle - IN der Baustelle, weil er brav uralten Markierungen folgt. Überall am Bahnhof grüßen die "Musica"-Plakate, die jungen Leute reden in allen möglichen Sprachen über Komponisten und über ihre Dirigenten. Wenn man sie denn hört.
Bahnhof, Großbaustelle und Verkehr bilden das, was Provinzmusikkritiker gern einen Klangteppich nennen. Ein Flokati ist nichts dagegen. Für Lärmjunkies habe ich auch gleich eine Empfehlung der besonderen Art, Klaustrophobe sollten sich aber wohlweislich fernhalten. Das Spassvergnügen auf den Ohren, das den ganzen Körper mitnimmt, kostet 50 Cent Eintritt, dann öffnet sich eine Zaubertür und man, pardon, frau nimmt Platz in der Loge der Damentoilette im Hauptbahnhof, am besten in der Rush Hour (für die Logen in der Herrentoilette kann ich nicht bürgen). Zuerst hört man nur die Züge anfahren. Das ist normal, wenn man sich unter den Gleisen befindet. Dann aber kommt der TGV, immerhin in extrem verminderter Kraft - und die Musik geht los.
Pattapong, pattapamm, pattapuff. Schöne Dröhnung auf den Ohren. Die Bässe erfassen die Schultern, den Oberkörper, ein tiefes, erdbebenartiges Röhren gesellt sich dazu. Manche Töne hat man bei Fernsehberichten vom 11. September schon gehört. Das ist aber nur die Ouvertüre. Molto vivace fangen die Wände an zu schwingen, dann setzt die Decke mit Paukenpochen und tiefen Streichertönen ein. War da nicht ein Tritonus in den tragenden Pfeilern? Egal, das Tutti kann man nicht nur hören, man spürt es bis in die Zehenspitzen - und zumindest ich ertappe mich bei einem Blick zur Decke und einem geflüsterten "bleib bitte oben". Wer je diese Erlebnissymphonie für lumpige 50 Cents präsentiert bekam, wird beim Verlassen des Theaters nicht "Heu-wä-gel-chen" murmeln, sondern die nächste Fachzeitschrift für Baustatiker erstehen.
Nach solchem Genuss wollte ich dann einmal wie all die anderen meinen Walkman ausprobieren. Sämtliche Nijinsky-Ballette sind noch gespeichert. Rimsky-Korsakoff gegen Großstadtstress? Keine Chance. Und wenn sich Strawinskys Jungfrau in Le Sacre zu Tode tanzte? Normalerweise hilft jener letzte Akt als wirksame Therapie gegen laute Nachbarn. Tötet selbst Trash Metal. Und in Strasbourg? Nichts zu hören, auch nicht bei voller Lautstärke, die einem die Ohren wegpustet.
Also weitersuchen. Irgendwo gab es krachendere Musik auf der Festplatte. Zufallsklicken, etwas müsste doch durchkommen. Ungefähr am Faubourg National war es dann soweit. Alles wie leergefegt, nicht einmal die Tageshure, die sonst immer am Kondomautomat des türkischen Reisebüros (Badeferien im Schleier) steht, war zu sehen. Drei Schwarze stritten sich um Körbe mit Minze. Das machen sie immer, wenn ich vorbeikomme. Manchmal fehlt einer, manchmal kommt einer dazu und lacht, aber immer wird die Minze unter ihrem Streit schlapp. Ich frage mich, ob es eine Minzzeit gibt in dieser Straße. Und in meinem Walkman geht's los, unüberhörbar.
Zbigniew Preisners Musik zum Kieslowski-Film "Das doppelte Leben der Veronika". Plötzlich wirkt der Staub auf den Fassaden polnisch, Bilder vom geschwärzten Jugenstil in Lodz kommen mir in den Sinn, der kreolische Laden hat verblasste Waren wie vom Russenmarkt im Fenster und die polnische Weronika singt sich in ihren Sterbeton, hält, hält... neben mir hält ein Bus aus Oppole, ungelogen - die Stadt kippt in ihr Spiegelbild, in ihr heimliches Doppelwesen und dann kommt die Musik für die französische Veronique und der Straßenlärm verblasst wie die uralten Werbeplakate und die Stadt atmet ihr heimliches, ihr uraltes Ich, aus Kellerlöchern unter zerborstenen Treppen.
Das Festival Musica ist noch bis zum 3. Oktober zu erleben.
Bahnhof, Großbaustelle und Verkehr bilden das, was Provinzmusikkritiker gern einen Klangteppich nennen. Ein Flokati ist nichts dagegen. Für Lärmjunkies habe ich auch gleich eine Empfehlung der besonderen Art, Klaustrophobe sollten sich aber wohlweislich fernhalten. Das Spassvergnügen auf den Ohren, das den ganzen Körper mitnimmt, kostet 50 Cent Eintritt, dann öffnet sich eine Zaubertür und man, pardon, frau nimmt Platz in der Loge der Damentoilette im Hauptbahnhof, am besten in der Rush Hour (für die Logen in der Herrentoilette kann ich nicht bürgen). Zuerst hört man nur die Züge anfahren. Das ist normal, wenn man sich unter den Gleisen befindet. Dann aber kommt der TGV, immerhin in extrem verminderter Kraft - und die Musik geht los.
Pattapong, pattapamm, pattapuff. Schöne Dröhnung auf den Ohren. Die Bässe erfassen die Schultern, den Oberkörper, ein tiefes, erdbebenartiges Röhren gesellt sich dazu. Manche Töne hat man bei Fernsehberichten vom 11. September schon gehört. Das ist aber nur die Ouvertüre. Molto vivace fangen die Wände an zu schwingen, dann setzt die Decke mit Paukenpochen und tiefen Streichertönen ein. War da nicht ein Tritonus in den tragenden Pfeilern? Egal, das Tutti kann man nicht nur hören, man spürt es bis in die Zehenspitzen - und zumindest ich ertappe mich bei einem Blick zur Decke und einem geflüsterten "bleib bitte oben". Wer je diese Erlebnissymphonie für lumpige 50 Cents präsentiert bekam, wird beim Verlassen des Theaters nicht "Heu-wä-gel-chen" murmeln, sondern die nächste Fachzeitschrift für Baustatiker erstehen.
Nach solchem Genuss wollte ich dann einmal wie all die anderen meinen Walkman ausprobieren. Sämtliche Nijinsky-Ballette sind noch gespeichert. Rimsky-Korsakoff gegen Großstadtstress? Keine Chance. Und wenn sich Strawinskys Jungfrau in Le Sacre zu Tode tanzte? Normalerweise hilft jener letzte Akt als wirksame Therapie gegen laute Nachbarn. Tötet selbst Trash Metal. Und in Strasbourg? Nichts zu hören, auch nicht bei voller Lautstärke, die einem die Ohren wegpustet.
Also weitersuchen. Irgendwo gab es krachendere Musik auf der Festplatte. Zufallsklicken, etwas müsste doch durchkommen. Ungefähr am Faubourg National war es dann soweit. Alles wie leergefegt, nicht einmal die Tageshure, die sonst immer am Kondomautomat des türkischen Reisebüros (Badeferien im Schleier) steht, war zu sehen. Drei Schwarze stritten sich um Körbe mit Minze. Das machen sie immer, wenn ich vorbeikomme. Manchmal fehlt einer, manchmal kommt einer dazu und lacht, aber immer wird die Minze unter ihrem Streit schlapp. Ich frage mich, ob es eine Minzzeit gibt in dieser Straße. Und in meinem Walkman geht's los, unüberhörbar.
Zbigniew Preisners Musik zum Kieslowski-Film "Das doppelte Leben der Veronika". Plötzlich wirkt der Staub auf den Fassaden polnisch, Bilder vom geschwärzten Jugenstil in Lodz kommen mir in den Sinn, der kreolische Laden hat verblasste Waren wie vom Russenmarkt im Fenster und die polnische Weronika singt sich in ihren Sterbeton, hält, hält... neben mir hält ein Bus aus Oppole, ungelogen - die Stadt kippt in ihr Spiegelbild, in ihr heimliches Doppelwesen und dann kommt die Musik für die französische Veronique und der Straßenlärm verblasst wie die uralten Werbeplakate und die Stadt atmet ihr heimliches, ihr uraltes Ich, aus Kellerlöchern unter zerborstenen Treppen.
Das Festival Musica ist noch bis zum 3. Oktober zu erleben.
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