Synästhesie
Als Kind habe ich nicht bemerkt, dass ich "anders" war. Ich wollte nur dringend aufschreiben, was mir Tulpen und Heuschrecken erzählten. Und dazu musste ich erst mal eine Schrift erfinden (noch war ich Analphabet) und das richtige Handwerkszeug dafür suchen. Das waren, alte Fotos beweisen es, bunte Stifte, die unbedingt in einer Osramschachtel zu wohnen hatten. Ganz klar, denn jede Stimme in einer Geschichte hatte ihre eigene Farbe - und die wiederum mehr oder weniger Licht. Dieses Licht sollten die Stifte wohl aus der Glühbirnenschachtel saugen. Etwas unzulänglich, um die eigenen Wahrnehmungen wirklich auf Papier bringen zu können, aber ich war ja erst blutige Anfängerin. Schreiben allein hat mir jedenfalls nie gereicht - weil es mich sinnlich beschränkt. Noch heute habe ich das Gefühl, ein Text-Vakuum zusätzlich ausfüllen zu müssen.
Irgendwann lernte ich, dass die meisten Erwachsenen doof und irgendwie gestört waren. Wenn ich Erdbeeren aß, verlangten sie von mir, dass ich Worte wie "süß", "fruchtig" oder "wässrig" benutzte. Und natürlich hatte die Erdbeere rot zu sein. Als Kind passt man sich schnell an. Ich lernte solche Sachen auswendig, ahmte die im Kopf verarmten Leutchen nach. Fast mitleidig, denn offensichtlich wünschten sie sich nichts sehnlicher, als dass ich ihre dünnwandige Welt in Ordnung ließ. Ich konnte mir nicht erklären, warum ich nicht laut sagen durfte, dass Erdbeeren wie tanzende Dirndl klingen, auf denen sich Katzen wälzen. Und dass sich süße Erdbeeren wie Abendlicht anfühlen, auf das man Karminrot kleckst. Ich habe leider nie Klavierspielen gelernt. Aber als ich als Kind zum ersten Mal in meinem Leben an einem Flügel wild herumklimpern konnte, fand ich sogar den Erdbeerton.
Leider passieren auch dem angepasstesten Synästhesisten Ausrutscher, wenn er mal wieder hört, was andere nur sehen. Mein Biologielehrer nahm mich daraufhin beiseite und tröstete mich. Jedenfalls hielt er seine Rede für Trost. Ich solle mir keine Sorgen machen, das sei wie ein böser LSD-Trip, von dem man nicht runter käme. Aber ich würde sehen, in wenigen Jahren schon wisse man, welche Hirnteile man lahmlegen könne, um solche Leute wie mich zu heilen. Ja, das war die Zeit, als einige Klassenkameraden wirklich LSD nahmen und "Einer flog übers Kuckucksnest" noch Klinikwirklichkeit war. Es war die Zeit, in der ich in innere Emigration ging mit meiner Wahrnehmung. Wenn die Leute Synästhesie für eine schwere Geisteskrankheit hielten, sollte man seine Perlen nicht vor die Säue werfen....
Etwa 30 Jahre später hat man zum Glück erkannt, dass es sich lediglich um eine Begabung handelt. Unsere Hirne sind den durchgeknallten Lobotomie-Jüngern der frühen Siebziger entgangen. Und fast schon muss man sich wieder verstecken, weil Synästhesie "hip" ist. Die Medien haben dafür gesorgt, dass sie plötzlich jeder hat und jeder haben will. Natürlich ohne die Reizüberflutung, mit der man manchmal fertig werden muss. Es will auch kaum einer wissen, dass die Musik in Supermärkten schier unerträglich gallegrün im Unterarm schmerzen kann und für einen Synästhetiker eigentlich Körperverletzung darstellt. Denn Synästhesie findet nicht nur vor einem "dritten" Auge statt, bei einigen ist sie auch fühlbar, etwa in den Extremitäten.
Ey, irre, du fühlst Rechtschreibfehler königsblau im Ellenbogen? Was, der Bordeaux schmeckt dir nicht, weil zu viel Brokat im Samtvorhang ist? Warum hälst du dir die Ohren zu? Nur, weil der Kandinsky falsch gehängt ist? Wieso bitte verträgt sich mein toller Champagner nicht mit Gustav Mahlers Kindertotenliedern? Er hüpft falsch?
Tja... so ein Exot ist niedlich für Partys, macht was her bei Vernissagen und gibt immer ein gutes Witzlein her: "Ich glaub', ich hab das auch, meine Schwiegermutter ist mir so giftgrün!"
Mein Kindheitstraum ist, einmal im Leben das Kunstmedium zu finden, in dem ich meine wirklichen Wahrnehmungen nicht nur zeigen, sondern für andere nacherlebbar machen könnte. Deshalb mein Faible für alle Künste und für alles, was mit Sinnen zu tun hat. Leider scheitern auch die spektakulärsten Multimediaversuche an den technischen Grenzen - die Maschine kann dem Menschen nicht folgen.
Dabei hat es in den 1920er Jahren schon einmal vermehrt "synästhetische" Kunst gegeben. Vor allem der Maler Wassily Kandinsky dürfte sie spätestens 1926 in öffentliche Aufmerksamkeit gerückt haben, als er in seinen kunsttheoretischen Schriften auch eine Art synästhetischer Formen- und Farbengrammatik veröffentlichte. Im Jahr davor hatte die "Novembergruppe" in Berlin den "absoluten Film" uraufgeführt. Und 2008, 83 Jahre danach, hat ARTE die mühsam rekonstruierten Stummfilme zur Fernsehuraufführung gebracht.
Ich war schon lang nicht mehr so in meinem - synästhetischen - Element. Hier wurde der Film einmal nicht zum Geschichtenerzählen benutzt, sondern in seinen Möglichkeiten als neues Kunstmedium ausgelotet, das die Eigenschaften von Bewegung und Zeit beisteuerte. Streifen wie "Rhythmus" von Hans Richter oder "Opus III." von Walter Ruttmann mit der Originalmusik von Hans Eisler machten nachvollziehbar, warum man beispielsweise Kandinskys Bilder eigentlich hören und fühlen könnte. "Die reflektorischen Farbenlichtspiele" von Ludwig Hirschfeld-Mack nahmen in der Zeit des Stummfilms und Zelluloids vorweg, was in den Anfängen der 3-D-Multimedia-Animation am Computer mühevoll errechnet wurde.
Plötzlich wurde das Medium Film zur Schnittstelle zwischen bildender Kunst, Musik, Tanz, Architektur. Die Töne moderner Kunst wurden hörbar, Geschwindigkeiten und Rhythmen von Bildern erlebbar. "Entr'acte" mit der Originalmusik von Eric Satie ging mit seinen Bildcollagen und einem rasenden Feuerwerk technischer Tricks noch ein Stück weiter. Der Kurzfilm von 1924 ließ in einem Kaleidoskop von Assoziationen plötzlich erleben, wie sehr die Menschen damals von der Maschinenwelt erschrocken waren, aber auch wie süchtig danach.
Maschinenwelten, Serien von Bildern, Klängen, Lichtern, Formen, Bewegungen - und immer wieder Geschwindigkeit, Bewegung, die Musik von Hektik, die Schönheit der Gleichförmigkeit...
Wer sich diese Stummfilme ansieht, muss nicht mehr neidisch sein, dass er kein Synästhesist ist. Es gibt ein Medium, in dem wir alle unsere Sinne überlisten lassen dürfen, sie immer wieder neu erfinden - egal, wie sie genormt sein mögen. Ein Medium kann diese Normen brechen: die Kunst.
Irgendwann lernte ich, dass die meisten Erwachsenen doof und irgendwie gestört waren. Wenn ich Erdbeeren aß, verlangten sie von mir, dass ich Worte wie "süß", "fruchtig" oder "wässrig" benutzte. Und natürlich hatte die Erdbeere rot zu sein. Als Kind passt man sich schnell an. Ich lernte solche Sachen auswendig, ahmte die im Kopf verarmten Leutchen nach. Fast mitleidig, denn offensichtlich wünschten sie sich nichts sehnlicher, als dass ich ihre dünnwandige Welt in Ordnung ließ. Ich konnte mir nicht erklären, warum ich nicht laut sagen durfte, dass Erdbeeren wie tanzende Dirndl klingen, auf denen sich Katzen wälzen. Und dass sich süße Erdbeeren wie Abendlicht anfühlen, auf das man Karminrot kleckst. Ich habe leider nie Klavierspielen gelernt. Aber als ich als Kind zum ersten Mal in meinem Leben an einem Flügel wild herumklimpern konnte, fand ich sogar den Erdbeerton.
Leider passieren auch dem angepasstesten Synästhesisten Ausrutscher, wenn er mal wieder hört, was andere nur sehen. Mein Biologielehrer nahm mich daraufhin beiseite und tröstete mich. Jedenfalls hielt er seine Rede für Trost. Ich solle mir keine Sorgen machen, das sei wie ein böser LSD-Trip, von dem man nicht runter käme. Aber ich würde sehen, in wenigen Jahren schon wisse man, welche Hirnteile man lahmlegen könne, um solche Leute wie mich zu heilen. Ja, das war die Zeit, als einige Klassenkameraden wirklich LSD nahmen und "Einer flog übers Kuckucksnest" noch Klinikwirklichkeit war. Es war die Zeit, in der ich in innere Emigration ging mit meiner Wahrnehmung. Wenn die Leute Synästhesie für eine schwere Geisteskrankheit hielten, sollte man seine Perlen nicht vor die Säue werfen....
Etwa 30 Jahre später hat man zum Glück erkannt, dass es sich lediglich um eine Begabung handelt. Unsere Hirne sind den durchgeknallten Lobotomie-Jüngern der frühen Siebziger entgangen. Und fast schon muss man sich wieder verstecken, weil Synästhesie "hip" ist. Die Medien haben dafür gesorgt, dass sie plötzlich jeder hat und jeder haben will. Natürlich ohne die Reizüberflutung, mit der man manchmal fertig werden muss. Es will auch kaum einer wissen, dass die Musik in Supermärkten schier unerträglich gallegrün im Unterarm schmerzen kann und für einen Synästhetiker eigentlich Körperverletzung darstellt. Denn Synästhesie findet nicht nur vor einem "dritten" Auge statt, bei einigen ist sie auch fühlbar, etwa in den Extremitäten.
Ey, irre, du fühlst Rechtschreibfehler königsblau im Ellenbogen? Was, der Bordeaux schmeckt dir nicht, weil zu viel Brokat im Samtvorhang ist? Warum hälst du dir die Ohren zu? Nur, weil der Kandinsky falsch gehängt ist? Wieso bitte verträgt sich mein toller Champagner nicht mit Gustav Mahlers Kindertotenliedern? Er hüpft falsch?
Tja... so ein Exot ist niedlich für Partys, macht was her bei Vernissagen und gibt immer ein gutes Witzlein her: "Ich glaub', ich hab das auch, meine Schwiegermutter ist mir so giftgrün!"
Mein Kindheitstraum ist, einmal im Leben das Kunstmedium zu finden, in dem ich meine wirklichen Wahrnehmungen nicht nur zeigen, sondern für andere nacherlebbar machen könnte. Deshalb mein Faible für alle Künste und für alles, was mit Sinnen zu tun hat. Leider scheitern auch die spektakulärsten Multimediaversuche an den technischen Grenzen - die Maschine kann dem Menschen nicht folgen.
Dabei hat es in den 1920er Jahren schon einmal vermehrt "synästhetische" Kunst gegeben. Vor allem der Maler Wassily Kandinsky dürfte sie spätestens 1926 in öffentliche Aufmerksamkeit gerückt haben, als er in seinen kunsttheoretischen Schriften auch eine Art synästhetischer Formen- und Farbengrammatik veröffentlichte. Im Jahr davor hatte die "Novembergruppe" in Berlin den "absoluten Film" uraufgeführt. Und 2008, 83 Jahre danach, hat ARTE die mühsam rekonstruierten Stummfilme zur Fernsehuraufführung gebracht.
Ich war schon lang nicht mehr so in meinem - synästhetischen - Element. Hier wurde der Film einmal nicht zum Geschichtenerzählen benutzt, sondern in seinen Möglichkeiten als neues Kunstmedium ausgelotet, das die Eigenschaften von Bewegung und Zeit beisteuerte. Streifen wie "Rhythmus" von Hans Richter oder "Opus III." von Walter Ruttmann mit der Originalmusik von Hans Eisler machten nachvollziehbar, warum man beispielsweise Kandinskys Bilder eigentlich hören und fühlen könnte. "Die reflektorischen Farbenlichtspiele" von Ludwig Hirschfeld-Mack nahmen in der Zeit des Stummfilms und Zelluloids vorweg, was in den Anfängen der 3-D-Multimedia-Animation am Computer mühevoll errechnet wurde.
Plötzlich wurde das Medium Film zur Schnittstelle zwischen bildender Kunst, Musik, Tanz, Architektur. Die Töne moderner Kunst wurden hörbar, Geschwindigkeiten und Rhythmen von Bildern erlebbar. "Entr'acte" mit der Originalmusik von Eric Satie ging mit seinen Bildcollagen und einem rasenden Feuerwerk technischer Tricks noch ein Stück weiter. Der Kurzfilm von 1924 ließ in einem Kaleidoskop von Assoziationen plötzlich erleben, wie sehr die Menschen damals von der Maschinenwelt erschrocken waren, aber auch wie süchtig danach.
Maschinenwelten, Serien von Bildern, Klängen, Lichtern, Formen, Bewegungen - und immer wieder Geschwindigkeit, Bewegung, die Musik von Hektik, die Schönheit der Gleichförmigkeit...
Wer sich diese Stummfilme ansieht, muss nicht mehr neidisch sein, dass er kein Synästhesist ist. Es gibt ein Medium, in dem wir alle unsere Sinne überlisten lassen dürfen, sie immer wieder neu erfinden - egal, wie sie genormt sein mögen. Ein Medium kann diese Normen brechen: die Kunst.
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