Sinnesreisen: Formspiele

Heute geht es im Sommerspecial um das Sehen - den in unserer überladenen Bilderwelt offensichtlich am weitesten entwickelten Sinn. Aufgrund der Reizüberflutung wird er aber auch gern mal müde - oder wir schalten ihn einfach aus. Sehen wir richtig hin?

Fangen wir mal wieder beim Schreiben an, weil es aus immer gleichen Buchstaben besteht, wo der in seine Fantasiewelten versunkene Autor manchmal den Wald vor lauter Kommata nicht mehr sieht. Wenn ich nun ein neckisches Verslein schmiede über einen Frosch, der auf einer Bank eine Prinzessin erbeutet, die sich nach dem Kuss in güldenen Glibber verwandelt, so ist das doch, egal wie oft kopiert, immer der gleiche Text? Ist er das wirklich? Ich könnte den Text mit niedlich gemalten Bildern auf einer Website für Kinder veröffentlichen. Ich könnte ihn bei einem ehrwürdigen Literaturwettbewerb einreichen, sagen wir mal zum Thema Menschenrechte. Ich könnte den Text an Nachbars Tür nageln, bei dem Kerl mit den drei stinkenden Tümpeln im Garten und einem Hausdrachen von Gattin. Jedes Mal der gleiche Text - aber dadurch, dass sich der Kontext ändert, liest man ihn anders.

Nun gehe ich her und mache den Text unterschiedlich auf. Ich schreibe ihn in Times New Roman, schwarz, Normseite für Manuskripte. Oder ich schreibe ihn in bunten hüpfenden Buchstaben in Eiskremfarben. Ich könnte den Text auf Mauern sprühen oder im Internet als giftgrüne Laufschrift installieren. Es ist immer noch der gleiche Text, vielleicht immer im gleichen Kontext, aber unterschiedlich anzusehen. Habe ich beim Literaturwettbewerb die gleichen Chancen in Schwarz oder Eiskremfarben? Lese ich jedes Mal die gleiche Geschichte?

Das Auge isst mit, nicht nur beim Essen. Mit dem, was ich einem Betrachter fürs Auge liefere, beeinflusse ich ihn unterschwelliger und schneller als mit komplizierten Inhalten. Verändere ich dabei das Medium der Darstellung, verändert sich die Wahrnehmung. Ein und dasselbe Ding wird völlig unterschiedlich "gelesen", also gesehen - gewinnt neue Bedeutungsebenen.

Es darf fröhlich experimentiert werden. Der dreckige Gummistiefel, der sonst vor der Haustür steht, gewinnt völlig neue Bedeutungen, wenn man ihn zum Frühstück auf den Küchentisch stellt oder im Aquarium ersäuft. Man könnte aber auch einen Gipsabdruck von ihm fertigen, ihn malen ... vielleicht sogar vertonen?

Kunst ist so ein wunderbares Spielfeld, um die eigenen Sehgewohnheiten aufzubrechen und zu lernen, welche Rolle Form und Kontext spielen können. Am besten gelingt das, wenn sich unterschiedliche Künste vernetzen. Und dazu habe ich den absoluten Sommertipp: Den Dialog zwischen Malerei und Skulptur! Hier gelingt es, uns Bildmenschen aus der Zweidimensionalität ins Dreidimensionale zu führen. Dürften wir in Museen Dinge ertasten, käme zum Gesichtssinn der Tastsinn hinzu. Bilder werden körperlich, Körper werden zu Farben und Linien.

Zu sehen ist die einmalige Ausstellung im Museum Frieder Burda in Baden-Baden (neben der Kunsthalle im Zentrum), das sich für seine Sommerexponate ja längst als Geheimtipp etabliert hat. "Die Skulpturen der Maler" zeigt bis 26. Oktober eine erlesene Auswahl von Werken berühmter Künstler, denen ein Medium nicht genug war: sie schufen Malerei und Skulpturen. Namen wie Beckmann, Chagall, Daumier, Gauguin, Lüpertz, Miro, Modigliani, Picasso und Twombly machen die Ausstellung zu einem Muss. Und vielleicht regt sie auch dazu an, das, was wir üblicherweise zu sehen glauben, einfach einmal in einen anderen Kontext zu stellen oder mit seinen Formen zu spielen? Wir könnten nämlich noch viel mehr sehen, wenn wir wollen...

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