Zeit zu emigrieren?

In regelmäßigen Abständen bekomme ich Anfälle, unbedingt wieder einmal irgendwohin zu emigrieren. Was in der Realität meist daran scheitert, dass ich mich nicht entscheiden kann, wohin (kochen ja alle nur mit Wasser), und auch das Geld für einen Umzug fehlt. Stattdessen beantrage ich also lieber wieder die dämliche Aufenthaltsgenehmigung namens Carte Séjour, die man als EU-Bürger angeblich nicht braucht und trotzdem haben muss. In letzter Zeit brodelt das Gefühl wieder massiv hoch, wegen der grausamen Lebenshaltungskosten, wegen der Politik der Regierung und wegen der drohenden Nachregierung. Ein Viertel meiner Mitmenschen würde derzeit Marine Le Pen zur Präsidentin wählen und da macht man sich schon absurde Gedanken, was sich hinter den freundlichen Mienen der Nachbarn für Charaktere verbergen mögen.

Heute hätte mich beinahe die französische Gastronomie aus dem Land getrieben. Vielmehr das auffällige Fehlen einer solchen. Aus Zeitmangel war ich in der nächsten Stadt im örtlichen Supermarkt, der nach Fußball klingt. Inzwischen herrscht dort auch am Freitag Nachmittag gähnende Leere. Wer nur irgendwie kann, kauft zu einem Drittel der hiesigen Preise und frischer in Deutschland ein. Nur bei einer hartnäckigen Sorte von Touristen aus Deutschland und der Schweiz scheint sich das noch nicht herumgesprochen zu haben - die kamen heute in Schwärmen und schwärmten donnernd laut von Baguette (Chemiewatte aus der Fabrik), Fromage (eingeschweißte Fertigware aus der Riesenfabrik), Weng Rouge (aus der Massenkellerei fein aromatisiert) und französischer Lebenskunst (convenience und fast food).

Währenddessen verzweifle ich fast am Einkaufszettel. Das auch im Sommer langsam auf übliche Ware und Langweilangebot zusammengeschrumpfte Gemüse kostet so viel wie ein kleines Steak und das kleine Steak war im Sonderangebot immerhin zu 19.90 Euro zu haben. Früher hat der Durchschnittselsässer am Wochenende einen handgefütterten Hahn aus dem Dorfgarten gegrillt, heute lässt Papa bei den T-Bone-Steaks das Tagesgehalt auf dem Barbecue. Was heißt früher - als ich nach Frankreich zog! Als das kunstvolle Baguette nach altem Rezept noch aus dem Holzkohleofen kam, die tausend Käsesorten noch von echten Bauern und kleinen Käsereien - und Marmelade noch nach echten Früchten schmeckte. Frische Ware kaufen, Lebensmittel ohne Zusatzstoffe und künstliche Aromen - inzwischen fast ein Unding in meiner Region. Selbst der Dill im Gurkenglas ist nur noch Attrappe, die Aromastoffe stehen im Kleingedruckten.

Ich wurde ziemlich oft von Touristen angesprochen, vielleicht weil ich als einzige zielstrebig durch die Regalreihen rannte. Ob ich denn Deutsch spräche. "Oui." Ich weiß nicht warum, aber wenn mich jemand das fragt, antworte ich immer rückwärts und mit einem schauderhaften Akzent. Es kommt mir dann selbst wie eine Fremdsprache vor. Feigenmarmelade suchte eine deutsche Bikerin. Ich erklärte ihr, in welchen Laden sie dafür fahren müsse und dass die auch nicht immer vorrätig sei. - "Aber Sie essen doch immer Feigenmarmelade in Frankreich?" Würde mich mal interessieren, wer diesen Mythos verbreitet hat. Die meistverkauften Marmeladen dürften Erdbeer, rote Früchte und Mirabelle sein. Und außerdem machen die Landfrauen ja noch selbst ein. Feigen? Die wachsen nebenan in der Pfalz ...

Ein anderer beklagte sich bei mir über das Baguette. Ich erklärte ihm, dass es da zwar noch einen Biobäcker gäbe, der einigermaßen empfehlenswert sei, aber auch der verwende inzwischen Fertigbackmischungen. Wer wirklich feines Baguette möchte, so wie früher oder im Film, der backe selbst. Fast jeder elsässische Haushalt verfügt inzwischen über eine Brotbackmaschine, weil unsere Bäcker ihre Qualität gedrosselt haben. Ob er wirklich ganz tolles Brot wolle, wie früher, mit Liebe gebacken, auch Baguette? Da würde ich einen Bäcker in der Pfalz kennen ... bei dem stehen die Franzosen inzwischen Schlange. Ein toller Gemüsebauer sei da auch.

Irgendwie kann es das nicht sein, dachte ich. Wenn ich ständig Grenzgänge empfehle und selbst unternehme, um Qualität auf den Tisch zu bringen, was soll ich dann noch in diesem Land? Muffelig kaufte ich ein herrlich frisches Lachsfilet (billiger als Fleisch). Sah frisches Salicorne daneben liegen - lange nicht mehr gesehen. Das wollte ich natürlich haben! Der schielende, etwas bäurische Fischhändler mit Extremakzent im Französischen blühte plötzlich auf und lächelte breit. Machte mir das Kompliment, ob ich das denn kennen würde, wüsste, wie man das zubereiten könne! Herrlich. Auftakt zu einem Schwätzchen. Na, eigentlich kenne ich es ja nur roh, eben so, ob er denn ein paar Tipps für mich hätte? Ich bin mit mindestens vier Rezepten versorgt worden, der Mann erzählte so, dass mir das Wasser im Munde zusammenlief und ich beinahe für all die Rezepte die vierfache Dosis gekauft hätte. Und wie er vor Spaß und Leidenschaft immer mehr schielte und dann noch die Verkäuferin einbezog, die über die in guter Butter gedünstete Version an Schalotten staunte, das sei dann ja fast wie bei grünen Bohnen!

Da würde ich den Lachs doch gleich mit den Salicorne zusammen servieren, ganz einfach und schlicht, sagte ich. Und trinken sie einen guten Sylvaner dazu, der ist weicher als der Riesling, so ein Lachs verträgt aber auch etwas Kräftigeres, sagte er. Ein deutscher Tourist, der gar nicht anstand, sagte zu seinem Begleiter: "Dass die immer so viel schwätzen müssen beim Einkaufen, die Franzosen, als ob sie alle Zeit der Welt hätten." Haben wir, hätte ich beinahe gesagt. Hoppla, habe ich "wir" gedacht?

Keine Frage, Fisch bekomme ich überall und überall den gleichen. Aber nicht diesen Verkäufer. Ich werde wiederkommen und neugierig nach Rezepten fragen und mich schon beim Einkaufen aufs Kochen freuen. Als ich dann an der Fleischtheke vorbeischlich, war es um mich geschehen. Grillhühnchen. Und ein beinahe auch schielender Metzger mit Schnauzbart fing meinen Blick auf und meinte: "Die sind eben erst aus dem Ofen gekommen, Madame, ganz frisch!" Grillhühnchen, Fast-Food vom Lande, sind die Freude der gestressten elsässischen Hausfrau, die nach der Einkaufstour dazu gerade noch einen frischen Salat mit Knoblauchvinaigrette zuwege bringt. Kleiner Wein dazu, ein paar frische Früchte, etwas Käse, fertig ist das Himmelsmahl.

Dann im Wolkenbruch Fisch und Salicorne und Hühnchen ins Auto verfrachtet, und wie der Sturm meinen Schirm umdreht, hilft mir ein altes Bäuerchen beim Wageneinschieben und lacht sich mit nur noch zwei Zähnen im Mund schier krumm; ich solle aufpassen, dass es mich nicht auch noch wegblase, das sei ja ein lustiges Wetterchen heute, das bringe die Leute zum Tanzen. Ich solle am besten gleich, wenn ich zu Hause sei, einen warmen Schnaps trinken.

Der Laden war schauderhaft, viel zu teuer mit viel zu viel Dreckware. Aber ich weiß jetzt wieder, warum ich so gern in Frankreich lebe.

2 Kommentare:

  1. Liebe Petra,
    ein wundervoller Bericht, der mir wieder einmal einen Blick über die Grenzen meiner kleinen Welt hinaus erlaubt!

    Plötzlich erstrahlt mein kleines niedersächsisches Dorf und mein Lebensgefühl in neuem Glanz.

    So ein altes Bäuerchen haben wir hier auch und eine tausendjährige Linde. Ob das immer die Emigrationswünsche unterdrücken wird, weiß ich auch nicht, aber solange ich mich bei einer "Flucht" selbst mitnehme, kann ich auch hier bleiben. ;)

    Gruß Heinrich

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  2. Lieber Heinrich, Sie bringen das Dilemma wunderbar auf den Punkt: Sich selbst kann man nie entgehen. Wahrscheinlich geben deshalb so viele Aussteiger vorzeitig auf ;-)
    Schöne Grüße,
    Petra

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