Sommertragödie

Im Ferienland Frankreich ist heute wieder fliegender Bettenwechsel. Vielleicht hängt die Tragödie, die ich gestern erlebte, damit zusammen. Irgendwann am späten Nachmittag, zu völlig unüblicher Zeit, fiel mir ein, dass ich noch nicht in meinen Briefkasten geschaut hatte. Und plötzlich schaut mich etwas von der Straße aus an. Ein trauriges Häufchen von Hund, zitternd, wie festgefroren - kein Mensch weit und breit. Also habe ich mich erst einmal vorsichtig genähert - und als er Berührung zuließ, versucht, ihn von der Straße weg zu bekommen. Unwahrscheinlich, wie fest so ein verängstigtes Tier stehen kann.

Nun hatte ich also plötzlich einen Hund, offensichtlich einen Golden Retriever, das Halsband viel zu groß und am Haken verrostet, die Tätowierung im Ohr keine echte Nummer, nur irgendein Scheinmerkmal. Mit der Tätowierung kann man in Frankreich sofort den Besitzer feststellen, ein Anruf in der Hundezentrale genügt. Mir sind schon öfter Hunde zugelaufen. In einem Dorf streunen die Kerls herum, wenn Hündinnen läufig sind, andere reißen aus, weil ihnen ihr Mensch mal wieder nicht gefällt ... Mein Nachbar war sich sicher, im Nachbardorf habe jemand seinen Hund gesucht. Also habe ich gemacht, was man in solchen Fällen immer tut - den Hund sicher verwahrt und mit Fressen und Wasser versorgt. Und dann bin ich auf Tour gefahren - zwei Dörfer an beiden Enden der Straße abklappern ...

Es war eine seltsame Tour. In zwei Stunden habe ich mehr Menschen kennengelernt als sonst in einem Jahr. Vor allem aber habe ich Menschenschicksale kennengelernt. Beim Thema Hund tauen die sonst recht verschlossenen Leute hier auf. Viele haben sofort ihr Handy gezückt und alle möglichen Leute angerufen, die einen beigen Hund hatten, der auch nur annähernd auf die Beschreibung passte. Es gab Leute im Dorf, die jeden einzelnen Hund zu kennen meinten und Ratschläge fürs Suchen hatten. Und dabei kamen die Geschichten hoch. Von der verstorbenen alten Frau ohne Nachkommen, deren Hund sich erst vom Müll und Dingen aus dem Garten ernährte, bis er halb verhungert ausriss und man ihn fand. Keiner hatte gewusst, dass die Frau einen Hund besaß, nie hatte man ihn im Garten gesehen.

Dann der Mann, dem ein Kettenhund nach dem anderen entfloh, weil er die Tiere malträtierte - bei dem bleibt doch kein Hund, aber der schlägt sogar die Frau. Aber auch die witzigen Geschichten kamen zutage, wie die vom vierbeinigen Filou, der jeden Abend seine Gespielinnen im ganzen Dorf abklappern musste. Von der Hündin, die abgeht, wenn ein Reh kommt, und dann drei Dörfer weit rennt. Und da war eine wunderbare Frau mit großem Herz, die den Findling wenigstens für eine Nacht genommen hätte, weil sie immer solche Hunde gehabt hatte - bis die Tochter rief, nicht noch ein Hund!

Eine Frau hatte eine besonders schlimme Geschichte zu erzählen, weil sie beruflich Menschen in Ausnahmezuständen hilft. Da war die Geschichte von der alten, völlig verwahrlosten Frau, der sie nach und nach ihre Katzen aus dem vermüllten Haus hatten nehmen müssen. Über vierzig Stück an der Zahl, keine kastriert oder geimpft, in jämmerlichem Zustand, im gleichen Zustand wie die Frau. Sie hätten es nicht fertig gebracht, sofort alle Tiere auf einmal abzutransportieren, die Frau wäre zusammengebrochen, vielleicht daran gestorben, sagte sie. Sie wusste, wohin mit einem Hund, der nicht zu identifizieren war, nicht zum eigenen Hund konnte - zu einer Uhrzeit, in der das Tierheim die Schotten dicht gemacht hatte und kein Tierarzt nach einem Chip suchen würde. Dein Freund und Helfer - die Feuerwehr!

Inzwischen hatte sich mein Findling als Weibchen entpuppt, das dicke Zeug zwischen den Beinen war schlicht völlig verfilzter Pelz, der durch die starken Regenfälle entsetzlich stank. Das Tier war dem Hunger und der Nässe nach schon länger unterwegs. Es konnte kaum laufen - die Krallen waren menschenfingerlang, noch nie verschnitten worden. Wahrscheinlich ein Hüftschaden dadurch. Seine Zähne in einem Zustand, wie ich ihn nur von Horrorfotos beim Tierarzt kenne, dick von altem Zahnstein belegt und völlig verfault, zwei faulten bereits aus dem Kiefer heraus. Das zitternde, völlig geschwächte Tier hatte ein Gewächs am Hinterkopf und wahrscheinlich noch jede Menge anderer unsichtbarer Probleme. Trotzdem ein Gesicht wie ein junger Hund und ein jammervoller Blick, der einem ins Gebein fuhr - als würde er zum ersten Mal im Leben umsorgt und überhaupt gestreichelt. Wollte ich diesen miesen Besitzer wirklich finden?

Ich bin dann mit der Hündin zur Feuerwehrbereitschaft in die nächste Stadt. Das hatte ich nun gelernt: Auch wenn das Tierheim für Otto Normalverbraucher geschlossen ist, hat die Feuerwehr eine Hotline zu den Betreuern - und einen Schlüssel für die Boxen - gerade für Notfälle in der Nacht und am Wochenende. Die Feuerwehrleute vermuteten, was ich bereits befürchtete. Da hatte nicht nur jemand mal wieder am fröhlichen Tieraussetzen im Sommer teilgenommen. Da hatte jemand gezielt seinen alten und kranken Hund entsorgt!

So schlimm das Tierheim für ein Tier ist, in einem solchen Fall kann es ein Segen sein. Der Hund würde vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben einen Tierarzt zu Gesicht bekommen. Er hat ein Dach über dem Kopf und wird versorgt. Von Menschen, die Tiere lieben. Die sich nicht einen Hund anschaffen, weil er fürs Auge zum Haus gehört, weil man eine billige Alarmanlage möchte, weil das Kind nach einem Kuscheltier quengelt, weil man den Nachbarn mit einem tollen Exemplar ausstechen will, weil man seine Machtgelüste ausleben muss, weil es nicht reicht, nur die Frau zu schlagen ... und was so alles hinter diesen Hundeschicksalen stecken mag. Dem Besitzer dieses armen Viechs möchte ich gar nicht begegnen. Ich weiß nicht, ob ich mich im Griff hätte. Die Pest habe ich ihm bereits an den Hals gewünscht.

Wie bei allen echten Tragödien war es dann am Ende auch irgendwie zum Lachen. Drei gestandene Feuerwehrleute in Uniform machten das richtig große Feuerwehrauto zur Abfahrt fertig. Ein Junger versuchte, den Transportkäfig aufzubauen, zum ersten Mal in seinem Leben. Aber das mit der Technik wollte nicht so. Also sollte die Hündin, lammfromm, schier unbeweglich und völlig verängstigt, hinten mitfahren. Das würde sie auch nicht so schrecken wie der Käfig. Ich hob sie also in den Zwischenraum vor den Rücksitz auf den Lastwagen und musste tüchtig schieben. So ein Feuerwehrauto sieht ein Tier ja nicht alle Tage. Dann die Preisfrage bei drei Leuten - wer sitzt hinten beim Hund?

Es war köstlich. Den zwei Männern flatterte das Hemd. Ich setz mich doch nicht neben einen fremden Hund, der Angst hat! Und was mach ich mit dem, wenn er mich nicht mag!? Es war die toughe Feuerwehrfrau, die mir und dem Hund zuliebe ihren Feierabend verschob. Todesmutig setzte sie sich zu dem Tier und streichelte es, während sich die männlichen Weicheier nach vorn verdrückten. Und dann wurde das kleine Häufchen von Hund vom ganz großen Feuerwehrauto ins Tierheim in die nächste größere Stadt gefahren. Mit Blaulicht!!! Standesgemäß, wie es sich für ein Tier gehört, dem wahrscheinlich noch nie im Leben Ehre wiederfahren war.

Falls sich mal wieder jemand wundern sollte, warum Tierheim oder Feuerwehr Geld sammeln und ständig Unterstützung brauchen: unter anderem wegen solcher Fälle. Wegen der Menschen. Spenden darf man aber das ganze Jahr, vor allem jetzt in der Sommerzeit, wo sich so viele miese Zweibeiner ihrer angeblich heißgeliebten Freunde entledigen, als wären sie ein Stück Müll.

Und noch ein nützlicher Tipp: Bestialischen Gestank, der selbst für Hundebesitzernasen schlimm ist, bekommt man ganz leicht aus dem Auto, wenn man über Nacht ein offenes Schälchen gemahlenen Kaffees ins Auto stellt!

3 Kommentare:

  1. Tommy (Labradormischling - http://s11server.de/lchf/tommy3.jpg ) und Heinrich (Mensch, aber auch tierlieb wie PvC) sagen danke!

    Wir sind glücklich, dass es Menschen wie Petra van Cronenburg gibt!

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  2. Ist Tommy süß! Und gut gepflegt!
    Herzlichst,
    Petra

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  3. Eine der schöneren Tragödien dieses Wochenendes und mal wieder wunderschön erzählt.

    Genau das Richtige für Montage. :-)

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