Gas geben in die Mitte
Wer meine freche, vorlaute Klappe kennt, der ahnt vielleicht, dass ich schon weitaus zynischer denke als die beiden: Wer im 21. Jahrhundert noch nicht die gute alte Philosophie begriffen hat, dass Stillstand Tod bedeutet und Leben sich aus Veränderung nährt, der mag scheintot bleiben und die anderen nicht vom Leben abhalten! Wenn es schon eine Postdebattenkultur gäbe, so bewegte ich mich darin. Als Autorin darf ich es mir leisten, die Krokodilstränen um bröselnde Privilegien mit aufgekrempelten Ärmeln abzuwischen. Denn Autoren mussten schon immer schaffen statt schwätzen (wobei das Schwätzen zum Glück Teil des Schaffens ist).
Ich war über Pfingsten "offline". Das sollte man jedoch nicht mit jenem gnädigen Zustand selbsternannter Literateneliten verwechseln, die sich um ihre Stipendien noch auf Papier bewerben können und seltsam konfus Manuskripte als Datei in Verlage schicken, obwohl das Internet doch so böse ist. (In so einem Datenstrom könnte man sich schließlich verlieren oder durch mitmenschliche Kommunikation aus dem Elfenbeinturm herauskatapultiert werden.) Ich bin so etwas wie Erna Normalautorin: Alles andere als bekannt, ohne Orden auf der Brust und wahrscheinlich auch viel zu unterhaltsam.
"Offline" bedeutet bei mir also: Ich blogge nicht. Ich halte mich bei Facebook zurück. Ich mache eine Twitterpause. Ich erledige meine Mails und benutze das Internet "nur" fürs Schreiben eines Buchs. In solchen Phasen stelle ich auch Telefon und Türklingel ab und rede mit Tieren. Eine Kur, die wohltuend entschleunigt. Nicht etwa, weil ich das böse Internet abgeschaltet hätte. Nein, ich habe keine Debatten mehr verfolgt! Es hat mich tagelang nicht mehr interessiert, ob sich irgendwer vor Piraten fürchtet, worüber der Börsenverein in zehn Jahren nachdenken will oder wie und wo wir künftig unseren Lesestoff einkaufen werden. Wie erholsam! Ich habe einfach nur Lesestoff produziert, wohl wissend, dass es mir herzlich egal sein kann, wie die Zeiten aussehen werden, wenn das Buch fertig ist. Ich bin eine Autorin, da draußen sind Leser - und irgendwie werde ich denen schon meine Geschichten erzählen. Die äußere Form ist mir wurscht. Wenn es sein muss, lese ich auf öffentlichen Toiletten und verteile kostenlos Wischpapier. Meine Kollegen Cro Magnon und Neandertaler haben ihre Geschichten erzählt und ich werde damit auch nicht gleich aussterben.
Ziemlich lustig ist das, wenn man sich von all dem zugunsten seiner Geschichte frei macht, nur nicht vom Internet. Über das kamen nämlich viele Mails meiner russischen Freundin, die in irgendwelchen russischen Mailinglisten Fragen für mich stellt oder Material aus einem Forschungsinstitut in Tula herüberbeamte. Dabei sitzt sie nicht einmal in Russland, sondern rechts des Rheins - und ich weiß eigentlich nicht wirklich, wo genau Tula liegt. Und weil ich auch eigentlich kaum Russisch kann, aber viele Seiten sichten muss, gehe ich auf den Google Translator, durch den ich inzwischen ganze Dokumente durchjagen kann. Ein Kollege gibt mir per Internet den Tipp, es ins Englische übersetzen zu lassen, das laufe genauer. Die Sätze, die ich fürs Buch brauche, kann ich dann immer noch übersetzen (lassen).
Ich liebe diese Beschleunigung! Irgend ein toller Professor gräbt im fernen Tula einen Brief eines der größten russischen Dichter aus, von dem Suhrkamp nicht einmal träumen mag - solches Material ist in deutscher Sprache nicht zugänglich. Am anderen Ende der virtuellen Postkette kichere ich mir eins, als Google das Wort Hämorrhoiden auswirft, ich schaue zweimal hin. Tatsächlich, der werte und gefeierte Wassili Schukowskij schreibt dem Herrn Bulgakov, er fände die neuen Protokolle des Frankfurter Parlaments ganz praktisch. Das Papier sei sehr weich und die Debatten der Deutschen seien lang genug, dass ihm das Toilettenpapier nicht ausginge. Doch die neumodische Erfindung abonnierbarer Parlamentsprotokolle birgt ganz offensichtlich die Gefahr schwerer Erkrankungen. Als solche bezeichnet er das, was sein deutscher Arzt Hämorrhoiden nennt. Ich amüsiere mich königlich. RSS-Feed à la 19. Jahrhundert! Und wie viele Debatten und Protokolle unserer Zeit sind nicht mehr als ein feuchter Furz. Vorsicht also vor Hämorrhoiden, ihr hehren Literaten, so ein Elfenbeinstuhl ist hart!
Dann trifft man sich im Offline-Leben, ich halte zum ersten Mal ein echt russisches Smartphone in der Hand, lerne, dass Menu-Kyrillisch wie Englisch klingt - und meine Freundin liest derweil meine deutschsprachige Recherchetextsammlung auf meinem E-Reader. Wir essen Eis, eine begeisterte Leserin meines Nijinsky-Buchs kommt vorbei, kurzfristig herbeitelefoniert, sie entpuppt sich als ehemalige Tänzerin aus Russland, die Geschichten purzeln international und in allen möglichen Sprachfärbungen durcheinander und am Ende ist das Nijinsky-Buch auf einer Reise zu einem berühmten Menschen, der mit einem anderen hochberühmten Tänzer ... die Welt ist klein und Visitenkarten dienen nur noch zum kurzen Halt an Mailadressen, da wird telefoniert, internettiert, Lachen und Daten verknäueln sich in einem lebendigen Strom. Irgendwann hackt die Freundin nebenan auf der Computertastatur herum, eine andere Freundin erscheint auf dem Bildschirm, die beiden skypen mal kurz über die Kontinente hinweg, um eine Frage zu klären.
Entspannt komme ich wieder nach Hause, unendlich viel reicher als vor der Fahrt. Die Packen von Arbeitsmaterial wiegen nur ein paar Gramm in der Elektronik und sind mit einem Zack auf der Festplatte. Durchsuchbar, anklickbar, vernetzt. Menschen, die einen viel schlimmeren und brutaleren Umbruch hinter sich haben, nämlich einen politischen Lebensumbruch, den Umsturz von Weltanschauungen, haben mich wieder das Lachen gelehrt über die westliche Zukunftsangst und die Angst vor der Technik. Müssen wir nicht ganz andere Dinge viel schlimmer fürchten? Wenn so viel über Zensur und Unterdrückung von Schriftstellern debattiert würde wie über E-Books, ja dann ... Wenn endlich herauskäme, dass all unsere Debatten nur eine im Grunde kapitalistische Debatte verschleiern: Wem wir in Zukunft die Macht über uns geben wollen. Wie wir mit Untergängen umgehen. Wie wir es schaffen, uns auf eine freie, absolut freie und kreative Literatur zu konzentrieren, bereit, neue Ausdrucksformen und Zeitzeichen zu finden.
Hören wir auf, uns entschleunigen zu wollen. Geben wir endlich Gas, um in unsere Mitte zu kommen! Denken wir allen altgewohnten Bombast einfach mal weg: Börsenverein, Buchhandel, Verlage, Verwertungsgesellschaften, Papier und Pappe, Metall und Bytes. Stellen wir uns vor, da sind nur drei Dinge: Ein Erzähler, eine Geschichte, ein Zuhörerguckerleser. Was haben wir dem zu sagen? Haben wir überhaupt noch etwas zu sagen? Wo sind die Geschichten unserer Zeit, denen Stofflichkeit, Übertragungsformen, Vermarktungsmethoden zunächst einmal so herzlich egal sein können, dass sie wieder Literatur sein können? Können wir vor lauter Branchengedöns denn noch wirklich ungewöhnlich und individuell schreiben - oder pflegen wir nur unsere künstlerischen Hämorrhoiden? Mir jedenfalls waren diese paar Tage in der mit neuen Medien gefüllten Realität zwischen drei Ländern wie eine Salbe gegen diesselben.
Nöööö, ich will nicht Gas geben, ich will entschleunigen. Und ich gehe immer mal wieder tagelang offline. Ganz und gar. Ich habe ein Leben lang Vollgas gegeben. Mir reicht's. Ich nehm's jetzt gemütlicher. In den Phasen ohne Internet verabschiede ich mich auch vom Multitasking. Mittlerweile hängt mir nämlich dieses Wort zu den Ohren raus. Als Hausfrau, Mutter, selbständig Erwerbstätige und nebenamtliche Autorin habe ich jahrelang gemultitaskt, dass die Fetzen geflogen sind. Das brauche ich nicht mehr. In einem Punkt bin ich mit dir einig: Ich schreibe und irgendwie werden meine Geschichten ihren Weg zu den Lesern finden. Und sonst halt nicht. Das finde ich das Wunderbare. Dass ich absolut nichts mehr muss. Sondern alles darf. Und ganz vieles kann.
AntwortenLöschenWeißt du, was lustig ist, liebe Alice? Dass deine "Entschleunigung" ziemlich viel mit meiner "Beschleunigung in die Mitte" zu tun hat. ;-) Ich lasse nämlich auch jede Menge Dinge liegen oder bin nicht zu sprechen, aber ich konzentriere mich ganz stark auf das, was ich wirklich möchte. Ich glaube nur diesen ollen Humbug nicht mehr, dass der Mensch rein durch Abschalten von Technik und Internet schon zur inneren Ruhe kommt (Das Wort "Entschleunigen" mag ich persönlich nicht mehr, weil's aus dieser angestaubten Psychoecke kommt). Ich glaube auch nicht, dass sich unsere Welt beschleunigt und früher alles besser war wie in dem Artikel - das haben schon die alten Griechen gejammert und bei der Erfindung der Dampflok und der Elektrizität jammerten die Leute das auch. Das ist ein Problem des historischen Abstands zum Eigenerleben ...
AntwortenLöschenWenn ich mit meinem Handschmeichler von Reader im Bett lese, schlüpfe ich genauso schnell weg in andere Welten als wenn das Ding aus Plüsch, Gurkenfleisch oder Gummi wäre. Und es sind nicht absichtlich von mir im Internet geführte Gespräche, die mich von mir und meiner Arbeit entfernen, sondern oft ganz andere Dinge.
Allerdings bin ich auch ein Mensch, der ziemlich zuerst das Handy zur Bergwanderung einpackt. Nicht zum Telefonieren, sondern weil es die beste Erfindung zur Ortung ist, wenn man mal ganz allein in eine Schlucht fällt.
Und deshalb kann ich deine drei letzten Sätze ganz dick unterschreiben!
Feiner Buchtipp von Matthias Brömmelhaus bei FB:
AntwortenLöschenHartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Suhrkamp.
[zitat]gleichen im Moment einer Hühner-Massenzuchtanlage, in der man sein eigenes Wort kaum noch verstehen kann. Überall gackert und kräht jemand. Die einen glucken kurz vor dem Schlachthof noch einmal über den Untergang des Abendlandes und irgendwelche abstrusen Eliten, [/zitat]
AntwortenLöschenScheinbar muss das Abendland erst einmal untergehen - scheinbar muss etwas zerstört werden, bevor etwas Neues aufgebaut werden kann. Einen einfachen Wandel können die Menschen wohl nicht?!
Wenn ich mit Menschen spreche, die ununterbrochen "jammern", nicht zur Mitte finden und auf Wunder warten, stelle ich einen riesigen Unterschied fest zwischen denen, die den 2. Weltkrieg und die Zeit kurz danach noch selbst erlebt haben und denen, die nur Wirtschaftskrisen, aber keine Wirtschaftswunder kennen.
Ist es ein Generationenproblem, oder muss man notgedrungen gezwungen werden, Pionier zu sein, wenn es irgendwo "zu eng" wird.
Arbeitslosigkeit und Finanzkrisen (und Kriege außerhalb des eigenen Landes) scheinen uns nicht genug zu erschrecken, um selbst in die Hände zu spucken.
Nur gut, dass Menschen gibt, die sich vom Gackern und Jammern nicht stören lassen. ;)
Lieber Heinrich,
AntwortenLöschenich glaube nicht, dass es einfache Antworten auf diese Fragen gibt. wir haben z.B. gestern erst darüber diskutiert, warum ausgerechnet die ganz jungen Leute in Frankreich am meisten extrem rechts gewählt haben und absolut keine Furcht mehr vor faschistischem Gedankengut haben. Ihre Eltern haben ihnen nichts mitgegeben. Dabei geht es ihnen vergleichsweise blühend, Zukunft wird da oft an der Anzahl der elektronischen geräte gemessen, die man sich leisten kann oder an der Dicke des Motorrads.
Ich fürchte also schon, dass neben jedem Pionier auch immer ein Reaktionär steht und das Zünglein an der Waage in die ein oder andere Richtung ausschlagen kann. Manchmal wünschte ich mir schon, die Menschheit würde dazulernen ...
Schöne Grüße, Petra