Wie man Realität biegen kann

Wohl so ziemlich jeder hat gerade Rückschau gehalten und sich für das neue Jahr Vorsätze oder Wünsche zurecht gelegt. Die orientieren sich nicht selten an den Erfahrungen vom Vorjahr. Doch kaum einer realisiert, dass Erinnerungen trügen und der Mensch Realität aktiv zurecht biegt. Der objektiven Wahrheit kommen wir nur nahe, wenn wir die eigene Realität immer wieder an unumstößlichen Fakten überprüfen.

Wer kennt das nicht: Ein menschliches Schwein, ein Unsympathling, einer, der Unglück über andere bringt, ist plötzlich verstorben. Sofort benehmen wir uns wie die alten Römer: De mortuis nil nisi bene - über die Toten nur Gutes (reden). Spätestens nach drei Jahren ist der, für den wir zu Lebzeiten nur die übelsten Schimpfwörter gehabt hätten, geläutert. Ganz so schlecht kann er ja nicht gewesen sein, auch wenn es sich um einen Diktator handelte - irgendwas muss doch gut gewesen sein.

Auch das eigene Leiden verliert mit den Jahren die Übermacht - eine gesunde Überlebensreaktion unseres Bewusstseins. Das Gehirn lernt nur, weil es vergessen kann. Wir halten aus, weil wir zur Hoffnung fähig sind. Und was wir nicht aushalten, wird verdrängt. Bei solch einschneidenden Erlebnissen wird schnell vergessen, dass der Mensch permanent seine Erinnerung zurechtbiegt. Im Extremfall kann es sich umkehren und wie beim Wilkomirski-Syndrom so weit gehen, dass man sich selbst eine völlig erfundene Vergangenheit glaubt.

Das Internet ist ein kurzweiliges Sammelsurium solcher Realitätsverbiegungen. Da erzählt einer etwas und lässt ein Stückchen weg, der nächste schnappt es auf, dichtet ein wenig aus seiner Wahrnehmung hinzu, der dritte verhäckselt beides und beschreibt das Konglomerat als angebliche Tatsache. Stille Post, die vor allem in Foren fröhlich funktioniert. Halbwissen schafft Viertelswissen. Oder wie Adorno sagte: "Das Halbverstandene und Halberfahrene ist nicht die Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind."

Der Hang zum Selbstbelügen ist leicht erklärbar: Jeder Mensch nimmt Realität anders wahr, weil jeder seine Sinne unterschiedlich benutzt und während der Wahrnehmung bereits wertet. Kriminalkommissare können ein Lied davon singen, wenn sie zu ein und demselben Geschehen fünf Augenzeugen vernehmen und fünf Realitäten abzuwägen haben - im Wissen, dass die Wahrheit vielleicht noch ganz woanders zu suchen ist. Nehmen wir unser letztes Jahr einmal als "Tathergang": Ist es wirklich so abgelaufen, wie wir glauben? Wie viele Augenzeugen haben wir befragt? Wo haben wir uns belogen? Wo geschönt, wo verdrängt, wo die Mücke zum Elefanten gemacht?

Mir sind die Augen aufgegangen, als ich meine Jahresmeldungen bei der VG Wort abgeliefert habe. 2008 schien mir im subjektiven Empfinden ein Jahr der Katastrophen, in dem ziemlich viel schief ging und auch das Geld extrem knapp wurde. Zum Schluss war der Blues so stark, dass ich der festen Überzeugung war, nichts richtig geschafft zu haben. Ich fühlte mich wie ein Versager. Krisenjahr eben.

Dann hatte ich die Fakten auf dem Papier. Die sprachen ganz andere Worte. Überraschend andere. An der Ebbe im Geldbeutel waren nicht vornehmlich die Verlage schuld, sondern meine Abhängigkeit vom Heizöl und Auto - gepaart mit den übel hohen Ölpreisen. Ich hatte doppelt so viel arbeiten müssen, um weniger als sonst heizen zu können - das klappt so einfach und plötzlich eben nicht. Den Freiberufler, der schon auf Reserve fährt, trifft der Wegfall eines Kunden oder eine Preiserhöhung doppelt.

Und auch sonst war das Jahr rosiger als ich mir das einreden wollte. Im Herbst zuvor war mein Hörbuch Elsass erschienen, auch für mich ein Kleinod. Im Mai erschien "Das Buch der Rose", auf das ich, im Gegensatz zu manch anderer Arbeit, richtig stolz bin. Ich habe mir damit einen Traum erfüllen können. Weitergehen in die Richtung, die ich bereits mit dem Elsassbuch eingeschlagen hatte: Qualität liefern, Anspruchsvolles lesbar gestalten. Lesungen aus beiden Büchern haben mir in diesem Jahr gezeigt, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Es gibt so viele Menschen, die Stapelware über haben und nach mehr dürsten. Für die ein Sachbuch Wissen und Wissenswertes vermitteln darf.

Beim Eintragen meiner Artikel fiel mir auf, dass ich 2008 wie nie zuvor wunderbare Begegnungen mit Menschen hatte und auch sehr wertvolle Menschen näher kennenlernen durfte, bis hin zur Freundschaft. Und wie von Zauberhand ergaben sich aus solchen Begegnungen wieder neue Ideen, Vernetzungen, ja auch Veranstaltungen.

Und wieder bin ich einem anderen Traum nähergekommen - mit dem Hörprojekt. Das Medium Buch überschreiten, mit anderen Sinnen Text erfahren, sprachlich noch mehr mit Klang und Rhythmus arbeiten, Text komponieren. Da ist immer dieser Traum vom Gesamtkunstwerk...

Einiges ist nicht so gelaufen, wie ich es mir erträumt habe. Ein Projekt, von dem ich dachte, es würde wie die Rakete abgehen, scharcht in Schnarchverlagen herum. Sein Schnarchen ratzte so laut, dass ich Dämlack schon glaubte, vielleicht gar nicht schreiben zu können, vielleicht nicht gut genug zu sein für diese Welt. So sehr empfand ich die Enttäuschung, dass sie alles andere überstrahlte - und mich täuschte. Immerhin kam dann die gesunde kreative Wut und ich packte etwas aus der Schublade aus, mit dem ich mich 2009 frech und überheblich um ein Stipendium bewerben will. Zu verlieren habe ich ja nichts.

Es ist schon komisch, dieses Zusammenlügen von Realität. 2008 fühlte ich mich wie ein Versager. Jetzt, wo ich die Fakten knallhart aufschreiben musste, stelle ich fest, dass irgendwie alles so hat kommen müssen. Hätte es mit meinem Schnarchprojekt geklappt, hätte ich nie mein Schubladenprojekt wiederbelebt. Würde ich nie wagen, mich um ein Stipendium zu kümmern. Hätte ich weniger Zeit für die jetzige Arbeit. Wäre ich schriftstellerisch nie derart über meinen eigenen Schatten gesprungen. Ich hätte vorher abgebremst, mich über einen Vertrag gefreut, mich zufrieden gegeben. Wäre schreibend stillgestanden.
Stattdessen bin ich jetzt im kalten Wasser drin...
Eiskalt war es, das letzte Jahr. Aber was hätte ich mit warmer Brühe angefangen?

Jetzt frage ich mich nur, ob das gut oder schlecht ist mit dem Zurechtbiegen von Realitäten? Was wäre passiert, wenn ich 2008 gleich so gesehen hätte, wie es tatsächlich war? Oder mache ich es jetzt nur wie bei einem Toten - und verkläre nachträglich?

5 Kommentare:

  1. Ich glaube schon, dass du es vollkommen richtig siehst, Petra. Mir fällt dazu das Beispiel ein von dem Mann, der einen wunderbaren und erfolgreichen Tag hatte. Das Wetter war schön, alle Ampeln standen auf Grün, als er zur Arbeit fuhr, sein Job ging ihm gut von der Hand, der Chef lobte ihn und schlug ihm ein neues, interessantes Projekt vor, und so ging es grad weiter. Als er abends nach Hause kam, fragte ihn seine Frau, warum er so ein Gesicht mache.Da brach es aus ihm heraus:
    "Das war ein total beschissener Tag! Alles ging schief! Und dann musste auch noch die Kupplung verrecken ..."

    Herzlichst
    Christa

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  2. Oha!
    Jetzt frage ich mich allerdings, welchen evolutionären Nutzen das eigene Schwarzmalen haben könnte. Macht es vielleicht vorsichtiger, wenn man aus der Höhle hinaus ins Eis stolpert?
    Herzlichst,
    Petra

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  3. Liebe Petra,

    wie passend! Auch ich habe mir eben in meinem Blog Gedanken darüber gemacht, wie gerade "angesagte" Katastrophen als Katalysator für die Entwicklung von Lösungsfähigkeiten dienen können, die wir im Falle einer geruhsamen "das Leben ist eine langer ruhiger Fluss"-Fahrt nicht einmal angedacht hätten.
    In diesem Sinne wünsche ich dir (und uns) im Jahr des Narren viele kreative Ausritte über alle Grenzen hinweg - weil gerade wir als sowieso immer zum Lebenskünstlertum Getretenen bestens dafür gerüstet sind :-)

    Ein narrisch gutes Neues Jahr wünscht dir von Herzen
    Gabi

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  4. "So wie "Männer sind dynamisch, Frauen sind hysterisch". Oder "Männer haben Durchsetzungsvermögen, Frauen sind zickig."
    Du lebst aber in einer komischen Welt! ;-)"

    Antwort 1: Ja.
    Antwort 2: Du nicht?
    Antwort 3: Och nö.
    Antwort 4: Meinst Du?
    Antwort 5: Millionen von Menschen leben in Millionen von Welten.
    Beliebig fortsetzbar.

    Ich empfehle den Film "I love Huckebees" jedem, der sich mit solchen Fragen beschäftigt.

    Evolutionsbiologisch macht Schwarzmalen Sinn, weil man sich damit a) Zuwendung der Gruppe sichert und b) nicht der "Vorkoster" ist - in der Höhle bleibt und sich nicht positiv eingestellt davor wagt, vom Tiger gefressen wurde.

    Stille Grüße,
    Christine

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  5. b) klappt nicht bei mir, Christine - ich bin immer der Vorkoster. Außer bei Käse, der wegrobbt.

    Lieben Dank für die guten Wünsche, Gabi! Ich kann so gut nachfühlen, was du in deinem Blog schreibst, ich bekomme zeitweise immer noch "Heimweh" ins Polen von 1993, als zwei Systeme mit aller Wucht aufeinander prallten und eigentlich nichts richtig funktionierte. Nie wieder habe ich so eine Lebendigkeit der Menschen und so einen Erfindungsreichtum gespürt!

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