Das ewige Machwerk

Veröffentlichen ist hipp. Veröffentlichen funktioniert dank E-Book-Technik sogar kinderleicht und ultraschnell. Man kann heutzutage jeden Text, abgesehen von aller Qualität, mit ein paar Mausklicks unters Volk werfen. So geschehen mit diesem, den ich in einer Kaffeepause herunterratze, um die Menschheit mit meinem Gelaber zeitnah zu beglücken. Tut es aber wirklich jedem Text gut, zu schnell veröffentlicht zu werden? Oder anders gefragt, wann ist ein Text reif?


Auf meiner Festplatte gärt mal wieder mein ewiges Machwerk. Es trägt den bezeichnenden Arbeitstitel "Fluchten" und existiert in einer ersten vorzeigbaren Ausformung von ein paar Kapiteln nebst Exposé seit 2004, wird also bald zehn Jahre alt werden. Im Jahr 2006 war ich einmal verrückt genug, mich damit bei einem hehren Literaturstipendium zu bewerben, vergebens natürlich. Ich erröte heute noch verschämt angesichts meines Größenwahns. Die Texte waren sprachlich geschliffen, aber der Entwurf alles andere als rund. Drei Jahre später wagte ich es mit einer Beurteilung durch die Cheflektorin eines Edelhauses. Agenten können manchmal so etwas abfragen, um wichtige Hinweise zu erhalten. Die Cheflektorin ging auf meinen Inhalt überhaupt nicht ein. Sie regte sich zwei Seiten lang (!) darüber auf, dass meine Hauptfigur Ikonen fälscht, so etwas könnten sie absolut unmöglich einkaufen, denn da habe es gerade erst diesen Roman über eine Kunstfälscherin gegeben. Und viel zu wenig Historie und pralles Leben in dem Text.

Brav und lernbegierig schlug ich den von ihr genannten Titel nach, der mir den Hals gebrochen hatte ... und entdeckte einen historischen Roman. Mein Entwurf spielte aber deutlich erkennbar in den 1990er Jahren und war kein Genre. Woher sollte da Historie kommen? Was, wenn schon solche Leute in solchen Verlagen nur durch Scheuklappen auf einen Text schauten? Ich war wütend, ich war trotzig ... und so verzweifelt, dass ich meinen Text für immer begraben wollte. Kennt man ja aus Anfängerzeiten, dieses Klagen: Die böse, böse Lektorin hat meine Qualitäten nicht erkannt, hubuuuuh, Verlage sind dumm!" Heutzutage, wenn ich denn wirklich so naiv wäre, hätte ich das Ganze aus Trotz im Affenzahn selbst veröffentlichen können. Stattdessen gehe ich jedoch nach Feedback von außen immer in mich. Wenn eine deart erfahrene Cheflektorin meinen Entwurf im Kopf mit einem historischen Roman zusammenbringt, was könnte ich dann falsch gemacht haben, um diese Assoziation auszulösen? Was fehlt dem Text, um als das wahrgenommen zu werden, was er sein soll?

Ich mache es kurz: Ich bin so verrückt, diesen Text immer wieder neu zu schreiben. Mit jahrelanger Pause dazwischen. Meine Hauptfigur fühlt sich schon an wie eine zweite Haut. Und vielleicht gelingt es mir nur darum, mich ihr immer wieder von Neuem anzunähern, weil sie ihr Gedächtnis verloren hat. Sie fühlt sich an wie eine neu formatierte Festplatte, auf die man nach Herzenslust alles aufspielen kann. Die anderen Figuren wechseln. Einer wurde rausgeschmissen und kam Jahre später durch die Hintertür wieder herein. Zwei Figuren spazierten frech in einem bereits veröffentlichten Roman. Eine Figur zwängte sich dazwischen, die ich richtig liebte und schon im ersten Kapitel begraben musste. Zuerst begann die Handlung in Irland, später in Frankreich. Immer wird sie auf der Straße landen, wie in einem Roadmovie, Richtung Osten.


Immer wieder recherchiere ich mit Lust und Begeisterung die urkomischsten Sachen. Eine zweite Hauptfigur forschte über Blutwunder und interessierte sich für virtuelle Räume. Ich nahm ihm seinen Beruf weg, denn das war es wohl, was bei der Cheflektorin damals den Pawlow'schen Reiz ausgelöst hatte? Ich lernte, wie man Gemälde künstlich altert, kaufte das Handbuch eines Kunstfälschers, beschäftigte mich mit Kunstfälscherskandalen. Einzig und allein dafür, dass die Szenen, in denen meine Protagonistin Ikonen malt, authentisch wirken. Ich las Tonnen von Material aus der Psychiatrie über eine seltene Form von Amnesie und ließ die Protagonistin darüber Tagebuch schreiben.

Und irgendwann dachte ich, ich selbst müsse irre sein. Weil ich nicht zu Potte komme. Weil sich dieses verdammte Manuskript ständig um andere Dinge dreht. War es anfangs noch das Zurechtfinden des Menschen in einer Welt, die um eine virtuelle Konstante bereichert wurde, las sich das irgendwann plötzlich so damalig. Das neue Manuskript mit den gleichen Figuren erzählte von Migration, von Identitäten. Aber auch da fehlte der Kick, immer noch klebte ich zu sehr am Denken, was Verlage denn so wünschen. Derweil schrieb ich mindestens drei Romane mit diesem Roman.

Vor kurzem ist mir durch einen Zufall ein Forschungsprotoll über einen Fall in die Hände geraten, der nicht nur meiner Figur gleicht, sondern geradezu nach einer Geschichte schreit. Alles fügt sich zusammen. Ich recherchiere, lese, träume meine Figuren um.

Und dabei habe ich einen seltsamen Gedanken: Was, wenn man als Autorin, als Autor dieses eine ewige Machwerk braucht? Ein Manuskript, dessen Versionen sich umschreiben wie das Leben, das wie die Zeitgeschichte in Fluss bleibt, sich ständig verändert? Könnte es nicht der absolute Luxus sein, in dieser schnelllebigen Zeit, in der alle nach Veröffentlichung drängen, der Veröffentlichung zu entsagen? Nicht nur Depublikation, die ja so schwierig geworden ist im Zeitalter der Datenträger. Nonpublikation! Nonpublikation als letztes Biotop einer wahrhaft freien Autorin, als Übungsraum und Erfahrungsschule, zum Ausleben schreiberischer Verrücktheiten und all dieses unzulänglichen Gestammels, das man sonst viel zu schnell und viel zu oft in die Welt hinausbläst ... Das Nichtmüssen als Freiheit. Ein Text nur für mich ganz allein?

Und schon wieder habe ich einen dieser ekelhaften Zwerge im Kopf, die mich ankreischen, ich wolle mich ja nur herausreden und drücken, bekäme eben nichts richtig auf die Reihe und was eine gute Autorin sei, die schließe auch irgendwann ein Manuskript ab. Die setze sich gefälligst auf den Hosenboden.

Dabei steckt in diesem Fragment schon so viel Herzblut, Energie, Lebenszeit, Engagement. Aber will das Fragment denn wirklich zum Roman werden, zum ganzen Buch? Was bitte ist Schreiben? Ist es das fertige Produkt oder nicht vielmehr ein Prozess? Bisher ist mein ewiges Machwerk etwas ganz Seltsames: Es ist das Buch hinter all meinen Büchern. Es hat sich mit jedem meiner wirklich veröffentlichten Bücher verändert und diesen etwas geschenkt: Figuren, Erkenntnisse, eine Autorenstimme, Sprache, Räume, sogar Zitate. Es ist ein Steinbruch meines Schreibens. Während ich in meinem ewigen Machwerk herumwandere, schreibe ich ganz andere Bücher. Am Anfang war das Wort. Das sagt sich so leicht dahin. Aber welches denn?

Lesetipp:
Interessante Aspekte dazu bei Facebook.

6 Kommentare:

  1. Oh, das ist ein sehr spannender Post! Mir kommen dazu ganz viele Gedanken aus unterschiedlichen Richtungen.

    Vielleicht ist das wirklich Dein Steinbruch, Dein Experimentierfeld, das Deine anderen Projekte befruchtet. Und wahrscheinlich ist dieses Fragment sehr nahe an Deinen Kernthemen, an allem, was Dich im Innersten berührt und aufwühlt, bestürzt und beglückt, ermutigt und begeistert. Sonst sonst hätte es Dich schon längst losgelassen und seinen Einfluss auf Dein Schaffen und Deine anderen Texte aufgegeben.

    Aber vielleicht ist es ja auch einfach noch nicht reif. Vielleicht fehlt noch ein entscheidendes Teil, vielleicht auch noch mehrere Puzzleteile, bis Du den Text wirklich zu Ende schreiben kannst. (Wobei natürlich die Frage ist, was das überhaupt heißt, zu Ende schreiben. Wann ist ein Text fertig, bei dem kein Abgabetermin droht?) Mich erinnert das an Rafik Schamis Vorwort zu seinem Roman „Die dunkle Seite der Liebe“. Er erzählt darin, wie er die erste Idee zu diesem Roman mit Anfang zwanzig hatte, inspiriert von einer wahren Begebenheit, die ihm seine Mutter erzählte. Aber es gelang ihm nicht, die Geschichte zu schreiben oder zu Ende zu schreiben, die ihm im Kopf herumspukte. Über dreieinhalb Jahrzehnte, in denen er Texte und Bücher veröffentlichte und sich als Schriftsteller etablierte, ließ ihn diese Geschichte nicht los, bis er den Einfall hatte, sie wie ein orientalisches Mosaik zu gestalten.

    Auch ich kenne das, dass mir eine Idee über Jahre im Kopf hängt, dass Fragment um Fragment entsteht, ich aber jedes Mal erkennen muss: Nein, das funktioniert nicht. Nach einer Weile kommt plötzlich ein Impuls, eine Idee, eine Inspiration von ganz unerwarteter Seite und ich gerate erneut in Flammen, beginne wieder von vorne, schreibe drauf los und merke: Nein, auch so geht es nicht. Vielleicht ist das ja der unerlässliche Weg via trial and error. Vielleicht kann ich es aber auch gar nicht und sollte es einfach lassen. Das sind die Fragen, um die ich immer wieder kreise.

    Ganz abgesehen davon ist ein Fragment an sich noch nichts Schlechtes, man bedenke nur, dass die Literatur aus allen Epochen Fragmente – zum Glück! – bewahrt hat, auf die wir heute unter keinen Umständen verzichten möchten. Darunter nicht nur Fragmente wider Willen, gerade in den letzten zwei Jahrhunderten, von der Frühromantik bis zur Postmoderne. Ich weiß gar nicht, ob das hierher passt, aber ich muss dauernd an die Radiosendung denken, von der ich gestern nur ein Fragment beim Kochen mitkriegte und die ich unbedingt noch mal ganz anhören muss. Es ging um Navid Kermanis Roman „Mein Name“ und Verfremdung bei Jean Paul (http://www.br.de/radio/bayern2/programmkalender/sendung502690.html).

    Aber vielleicht kommt Dir auch irgendwann eine Idee, wie Du das Fragment mit etwas anderem kombinieren oder zusammensetzen könntest, ach, was weiß ich. Ich denke an so was wie Calvinos „Wenn ein Reisender in einer Wintersnacht“.

    Eins aber möchte ich Dir ans Herz legen: Wenn Du den Text wirklich zu Lebzeiten nicht mehr vollenden willst oder kannst, solltest Du dafür sorgen, dass später mal ein Max Brod Zugang zu Deiner Festplatte kriegt ;-).

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  2. Hochinspirierend, liebe Lydia - das muss ich mal eine Weile mit mir herumtragen.
    Wenn ich deinen Text lese, habe ich das Gefühl, dass ich dich bereits real life kenne. Falls nicht, warum eigentlich nicht? ;-)

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  3. Um nichts auszuplaudern; aber um welches Thema steckt das Wort fest? …gut wenn es um Malerei geht. Wenn, dann, solle man das Gefühl der Besessenheit mit seinen Vervielfältigungen, bis hin, in seinen eigenen Sprüngen verstehen wollen. Malerei ist immer das Fälschen. Eine Erinnerung in Gegenwart oder ein Gedanke zukünftig, dargebracht. Was vom Traum am Tag, zum Erlebnis zeichnen nachbleibt, wie bei den unausschreibbaren, aufsehen. Einmischung mit einschleichenden, bis zu Inspirationen mir irren gegenwärtigen und zu, unrealen Gedankenfertigkeiten. Alles wirkt nur Bildlich, wenn´s fertig ist. Wörtlich! Auch wenn´s, unter kein gutes Licht steh. Nur zu Unruhe hin hängt. Selbst keine Beweglichkeit in der Farbe erlebt und zu Rahmentätigkeit, eben kein Schatten von Dauer aushält…wo das unbewusste…licht gewährt, denn es zieht sich der Pinsel den Strich durch die Leinwand… die Spuren der Farbe sie mit Effekt gestaltet, wo die sich Farbe mit den Gedanken vermischen - und hinterlässt, doch nur Anschauungen… Ablichtungen, Abzüge mit Druck und spielt, mit farblichen Glyphen, auf Kapitäle … eben noch…steht das letzte Wort drüber; hier sind es Fahnen; droon oben im Auge. Was sich doch vom Einwand entblättern an Farben auflesen lässt… Das Erste und letzte Wort – „Ikonografie“!

    Nur eine Nuance… in gedämpfter alter Ölfarbe

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  4. Liebe Petra, dieses Gefühl, Dich schon lange zu kennen, habe ich, seit ich hier mitlese. Und das mit dem real life kann ja noch werden. Ich hoffe, dass ich es schaffe zu kommen, wenn Du mal wieder eine Lesung machst! :-)

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  5. Danke für diese Nuance, Born - solche Überlegungen sind immer inspirierend, vor allem die Ikonographie zu den Ikonen. Eigentlich spielt Malerei in dem Manuskript gar keine große Rolle, aber die Art, wie die Protagonistin die Ikonen fälscht, das Symbol des Ikonostas ... das ist eine Metapher. Da passen die obigen Worte gut dazu.

    Lydia,
    das wäre fantastisch! Ich hatte schon einen Freund und Kollegen verdächigt, sich hier Lydia zu nennen ;-) Ich wäre ja zu neugierig auf deine Bücher!

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  6. Übrigens haben zwei Texte aus dem "Ewigen Machwerk" nun in einen Kurzgeschichtenband gefunden: "Blaue Fluchten" - die Ikonenfälscherin ist einer davon.

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