Wie kommt man ins Konstruktive?
Ich habe es seit der Pandemie nicht so mit Kalendern. Nicht nur, dass ich seit 2019 alle Jahre durcheinander werfe. Als ich gestern meine Terminaufzeichnungen seit Anfang 2020 durchgehen musste, bin ich richtig erschrocken: Absolut aberwitzig, was ich in dieser kurzen Zeit alles erlebt, durchgemacht und ausgehalten habe, um in meinem Alter nochmal "völlig neu" durchzustarten (gleichaltrige Bekannte reden derweil davon, dass sie ihre Rentenzeit nicht erwarten können). Und das wird jetzt sehr konkret, wobei es nicht wirklich völlig neu ist: Menschen bauen ja auf Erfahrungen auf. Viele fragen mich, wie das funktioniere, was ich vorhabe. Es hat damit zu tun, was mir beim Durchforsten meiner Terminkalender mit tagebuchartigen Notizen auffiel - und das möchte ich gern teilen. Ich glaube nämlich, es ist die wichtigste Fähigkeit für uns alle, um die Zukunft zu bewältigen: Wie kommt man ins Konstruktive?
"In die Puschen kommen" - das funktioniert manchmal am besten dadurch, dass man seine Schuhe mal auszieht, in denen von anderen läuft, öfter wechselt - oder noch besser barfuß auf der Erde steht. |
Vor vielleicht 20 Jahren habe ich mir ein Zitat von Max Frisch aufgeschrieben, ohne zu ahnen, wie aktuell es noch einmal werden würde:
Krise ist ein produktiver Zustand. man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.
Leicht gesagt. Wie schafft man das in einer Zeit, in der die Katastrophennachrichten aus aller Welt in Echtzeit einschlagen? Während wir*** in Social Media, oft Tag und Nacht eingebunden wie in einem süchtig machenden Spiel, in Empörungswogen untergehen zu drohen, gegen Hass und Gewalt kämpfen ... und schon wieder schlägt eine Welle über uns zusammen, wo wir am liebsten spontan kotzen würden, schreien, schimpfen, uns erregen. Weil es spontan gut tut, befreiend wirkt. Aber bei Wiederholung verändert es uns. Irgendwann schmecken wir nur noch Kotze im Mund. Japsen nach Luft, denn das haben wir ganz schlimm vergessen: das Luftholen. Wir können jedoch nur schwimmen, wenn wir tief atmen. Zuerst einmal geht es darum, aus dieser Welle herauszukommen, den Kopf nach oben zu recken, zu überleben ...
Und dann? Wo schwimmen wir hin? Können wir uns noch orientieren oder schwimmen wir einfach gedankenlos anderen nach? Wohin wollen wir selbst eigentlich?
Genau das ist der Punkt, der so kinderleicht klingt und doch am schwersten zu erreichen ist: Wir können in dieser Welt etwas anders machen und wahrscheinlich auch bewirken, wenn wir nicht kopflos riesigen bequemen Grüppchen nachschwimmen, die einfachste, ja verdächtig einfache Lösungen versprechen, nur weil sie die eigene Angst nicht zugeben wollen oder schlicht machtgeil sind. Wir brauchen erst mal eine eigene Karte im Kopf!
Es ist wie beim Erschaffen eines Kunstwerks, bei dem man bekanntlich auch sehr allein ist: Es hilft, sich ruhig und abgeschirmt auf eine einsame Insel zu setzen, den Wellen zu lauschen und der Brise in den Blättern eines Baums. Blöd an der Sache ist nur, dass man die nirgends buchen kann und auch nicht kaufen. Die muss man nämlich in sich drinnen bauen. Und das bei all dem Lärm drumherum? Wie habe ich das eigentlich geschafft, zu dieser Karte im Kopf zu kommen?
Ich möchte konkret werden: Bei meiner künftigen Arbeit wird es um Klimakrise und Artensterben gehen - oder positiv ausgedrückt: um Klimaaktion und Artenschutz. Noch positiver ausgedrückt: Um diese leidenschaftliche Faszination und Liebe, die wir für diesen Planeten empfinden können, so tief, dass wir einfach handeln müssen, dass es normal wird, sich für das zu engagieren, was man liebt. Ich möchte auch Inspirationen und Hilfen geben, wie man die eigene Perspektive dahingehend verändern kann. Knallharte Sache: Von Doom & Gloom und "die Welt / Menschheit geht eh unter" hin zum Konstruktiven: "Ich nehme die katastrophalen Zustände wahr, sehe aber die Möglichkeit zu handeln. Und ich muss das nicht allein tun, weil das niemand allein schafft." Eine lebbare Zukunft schaffen wir, wie es uns andere Lebewesen vormachen: gemeinsam, vernetzt, solidarisch, miteinander teilend. Da kann man sogar Social Media gewinnbringend dafür nutzen. Und vielleicht hilft euch der ein oder andere Tipp?
Schafft euch reale Inseln zum Durchschnaufen. Mediale Dauerbeschallung tut genauso wenig gut wie alles monomane Tun. Es ist der berühmte Ausschaltknopf, das Abschalten von der Arbeit oder vom Alltag. Sich einmal aus der Tretmühle herausnehmen und schauen, was passiert, wenn man eine Weile nicht teilnahm: Genau genommen nichts. Man lebt immer noch.
Wie man das erreicht, ist individuell absolut verschieden. Diese Pflege der eigenen Psychohygiene funktioniert dann am besten, wenn sie regelmäßig ist und man sich in belasteten Situationen auch mal mehr gönnt. Zehn Minuten regelmäßiger Komplettentspannung helfen also mehr als ein einmaliges, wochenlanges Social-Media-Fasten. Die einen werden es brauchen, alle Kanäle komplett abzuschalten, für immer. Wenn aber die Nachteile überwögen, ist es besser, so lange abstinent zu sein oder feste Zeiten einzuhalten, bis man wieder die eigene Mitte gefunden hat und weiß, was man damit machen will. Man muss nichts abschaffen, aber wissen, wie man damit umgehen möchte. Medienkompetenz.
Ballert euch nicht nur mit Katastrophennachrichten zu. Selbst wenn die Welt in 30 Minuten unterginge, habt ihr das Recht dazu, euch wieder zu erholen, wieder Atem zu schöpfen. Ihr habt das Recht dazu, selten dämliche und schnulzige Filme anzuschauen oder laut die Musik zu hören, die eure Eltern schon immer in die Flucht geschlagen hätte. Menschen brauchen Ausgleich - holt euch den. Und vermeidet besonders alarmistisch-polarisierende Quellen, denen es nicht um Sachlichkeit geht, sondern um Quote und Likes. Was viele selbsternannte Prediger:innen vordergründig in Social Media nicht mehr verstehen: Die ganze Bandbreite des Menschseins gibt uns erst Kraft, zu handeln.
Ja, wir müssen trauern und wütend sein und sollten es tatsächlich kaum noch aushalten, wie wir mit diesem Planeten umgehen. Das ist so wichtig für die Aktion! Wir müssen aber auch miteinander lachen, genießen, das Leben lieben, Quatsch machen, herumdödeln, spielen. Das brauchen wir, um nicht durchzudrehen und nicht zu resignieren. Und das wiederum brauchen wir, um nachhaltiger Aktivist:in zu sein, nicht zu früh in den Burn Out zu geraten. Wer auf sich achtet, wird irgendwann ein Gleichgewicht finden zwischen seriösen, wissenschaftlich untermauerten Fakten, dem Blick in einen möglichen Abgrund - und der Kraft des Handelns, der Sicht auf Möglichkeiten und Lösungswege.
Arbeitet an eurer Erregungsspirale. Ist verdammt schwer. Ich habe für mich den Spruch drauf, dass ich mich bei bestimmten Themen in Social Media oder wenn mich etwas zu sehr antriggert, am besten erst einmal auf meine Hände setze, damit ich sie nicht zur Tastatur bringe. Aber du schreibst ja dann doch über diese Themen, sagen dann manche. Ja, mache ich, weil mir bestimmte Themen wichtig sind. Aber tatsächlich setze ich mich zuerst auf meine Hände, ganz real. Und während mein Hinterteil dann so unbequem auf dem Stuhl herumwackelt, zwinge ich mich zum Nachdenken:
Was erreiche ich, wenn ich jetzt diesen Erregungspost absetze? Wessen Stimme verstärke ich? Agiere ich wirklich von mir aus - oder re-agiere ich nur? Hat mich das, was mich erregt, vielleicht sogar schon instrumentalisiert? Muss die Welt zigtausendfach erfahren, was Vollpfosten XY abgesondert hat? Und da ist eine Frage, die man sich eher seltener stellt, die mMn aber am wichtigsten ist:
Wieviel Aufmerksamkeit ziehe ich jetzt wieder von der "guten Seite" ab, von den Menschen, die wirklich etwas besser machen, bewirken wollen? Wieviel Energie und Text schenke ich dem Vollpfosten anstatt einer leiseren Stimme? Genau darum polarisieren die Vollpfosten ja, damit sie Lautstärke erreichen. Seriöse und integre Menschen schreien eher seltener. Wessen Stimme aber will ich verstärken?
Auch hier sind die Wege individuell verschieden und der Situation angepasst. Aber gerade in Social Media gibt es viele Tricks, sich nicht zum Propagandainstrument machen zu lassen. Etwa, indem man nicht retweetet, sondern nur Screenshots zeigt, damit der andere nicht durch Klicks in den Algorithmen steigt und damit noch mehr Aufmerksamkeit bekommt. Oder man dreht die Sache radikal um: Jemand greift z.B. mit einem Satz die Demokratie an. - Ich zitiere den jetzt gar nicht. Sondern denke nach. Wie kann ich positiv genau das verteidigen, was dieser Mensch angreift? Dann texte ich aktiv das meine und kann den anderen nonchalant nur erwähnen, als Vollpfosten oder armes Hascherl. Alle anderen werden wissen, worauf ich mich beziehe. Aber da ist jetzt eine konstruktive Aussage, die das stärkt, was der Vollpfosten einreißen will. Die man wiederum verstärken kann (was leider nicht oft passiert, weil die meisten wie das Pawlow'sche Hündchen eher auf Hetze reagieren und weil die Systeme der Plattformen so gebaut sind, dass sie das verstärken, was am meisten "Kommunikation" erntet).
Vernetzt euch mit den "Guten", den Inspirierenden, denen, die etwas weiterbringen und bewegen. Das war für mich am Schwierigsten, weil ich dazu Social Media völlig verquer benutzen musste. Normalerweise ist das ja so gebaut, dass man Leuten folgt, mit denen man nette Worte wechselte, die vielleicht den gleichen Beruf haben oder tolle Hobbies. Leuten, die einem die Algorithen ständig anspülen oder denen der Freund von der Freundin folgt. Manche folgen sogar automatisch. So entstehen Bubbles. So ist das Funktionssystem aufgebaut, so ist es bequem.
Eine Eigenstrategie baute ich auf, als Trump die Welt terrorisierte und immer gefährlicher wurde. Ich legte mir bei Twitter eine Liste an, für die ich aktiv zuerst einmal all die Medien suchte, die ich als absolut seriöse und vielseitige Quelle nutzen wollte. Da beobachtete ich, welche Journalist:innen mir besonders auffielen, weil sie am besten zum Thema beizutragen hatten, mir den Horizont weiteten. Ich habe also ganz aktiv über Twittersuche Namen eingegeben und nachgeschaut, ob die dort sind. Ob ihr Profil auch hält, was ihr Name verspricht. Und denen folgte ich dann. Ein hoher Prozentsatz an Menschen, denen ich folge, fällt mir außerhalb von Social Media auf.
Das Vernetzen. Von da aus machte ich weiter. Und darum mag ich meine Twitterlisten, weil ich so thematisch lesen kann und mir die Algorithmen nicht kreuz und quer Müll reinballern. So gibt es inzwischen eine Liste für ökologische Themen, für faszinierende Wissenschaftler:innen und Wissenschaftsthemen, eine für Künstler:innen, die mich zum Lächeln bringen oder inspirieren, eine für Zukunftsthemen. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt: Man kann auch die Liste anlegen "Menschen, mit denen ich dringend quasseln will" oder "Herzschmalz", Podcasts oder Strickmuster.
Inzwischen durchdringen sich die Bereiche, wo ich solche Menschen wahrnehme. Es reicht bis auf meinen Nachttisch, wo sich die Bücher stapeln. Ich erlebe manche in Zoom-Events oder bei virtuellen Konferenzen, wo ich etwas lerne. Schaue bei Zeitmangel später auf Youtube nach oder höre sie in einem Podcast. Und ganz genau so kann ich Menschen bis in mein Leben vor Ort bringen. Ich bin nicht allein da draußen und kann mich austauschen. Weltweit und jederzeit. Wer hat schon im eigenen Dorf so viele Menschen auf einmal, mit denen man über die eigenen Themen wirklich sprechen kann? Und manchmal helfen einem die Digitalkontakte sogar dabei, analog Menschen auf eine neue Weise anzusprechen.
Das alles ist der Grund, warum ich mit dem Blog abgetaucht war. Ich habe die Zeit intensiv genutzt.
Eine Amtsangestellte hat sich kürzlich gewundert, wie ich ihr erzählt habe, wie und wo ich mich in den letzten Monaten weitergebildet habe. Sie bekam regelrecht ungläubige Kugelaugen.
In Frankreich zahlen wir nämlich als Freiberufler:innen eine Fortbildungsabgabe auf die Honorare (bei Angestellten zahlen die Arbeiteger:innen). Dafür hat dann jede/r ein Fortbildungskonto mit Geld drauf - und das kann man dann aktiv nutzen. Blöd nur, dass die Fortbildungsfirmen vom Staat ausgesucht und zertifiziert sind und dementsprechend meist recht altbacken. Da gibt's dann den herkömmlichen Englischkurs zum Pauken. Zum Glück bin ich in einem Alter, wo ich renitent nicht mehr auf die Schulbank muss. Im letzten halben Jahr habe ich so viel gelernt wie schon lange nicht mehr. Und zwar von Menschen, die irgendwo auf diesem Globus sitzen und mir und anderen Dinge erzählen können, die sie einfach am besten beherrschen und nicht, weil sie auf einer Behördenliste stehen. Und es ist wie beim Reden über Bücher: Manchmal findet man vor Ort Menschen, die plötzlich fragen: Was, du warst auch bei dem Zoom-Meeting!? Schon ist man miteinander im Gespräch.
Das ist der andere Punkt: Ich habe endlich wieder massiv und viel Bücher gelesen, die mich inspirieren, wobei ich da leider nicht so viel schaffe, wie ich gern wollte. Auf Twitter werde ich dazu immer wieder Empfehlungen los und vielleicht mal später auch im Podcast, denn ich lese fast nur noch englisch.
Es hat gut getan, sich auszuklinken, gewisse Medienformen völlig gegen den Strich zu bürsten und neben den Algorithmen auch den eigenen Kopf sprechen zu lassen. Spannende Zeiten. Sicher katastrophale Zeiten, aber Menschen können Probleme lösen, wenn sie nur wollen und den Hintern hochkriegen. Und zwar plötzlich!
*** wir als Gattungsbegriff, nicht allgemeingültig.
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