Figurennähe und Blind Dates
Jeder Leser kennt das: Es gibt Romane, die ziehen einen innerhalb des ersten Absatzes in eine andere Welt, nehmen einen gefangen. Das sind die Bücher, die ich auch noch während des Kochens lese, in der einen Hand das Buch, in der anderen den Löffel zum Umrühren. Und dann sind da Romane, die sind perfekt geschrieben, handwerklich vielleicht sogar brillant, aber irgendwie hat man keine Lust, mit der Hauptfigur sein Leben zu vertrödeln. Mit denen werde ich nicht warm.
Schlaue Ratgeber haben wahrscheinlich schlaue Antworten und Formeln, wie man den Unterschied produziert - ich habe keine Ahnung. Ich lerne oft durch ganz blödsinnige Begebenheiten. Eine erlebte ich unlängst, als ich platt vom Arbeiten einfach nur einen "schönen Film" auf mich einrieseln lassen wollte. Das Fernsehprogramm war grausam wie eh und je. Ich blieb an irgendetwas hängen, von dem ich sogar den Titel vergaß. In der Hauptrolle Thekla Carola Wied.
Nun sind Filme mit dieser Schauspielerin nicht mein Ding. Sie sieht für mich nicht nur aus wie die ewige Menschheits-besorgte Nonne - sie spielt auch immer in einem Typus von "Familienfilm", den ich nicht ertrage. Normalerweise hätte ich sofort weitergezappt. Dann sah ich im Vorspann, dass Jürgen Tarrach vorkommen sollte. Der Abend war gemacht. Ein Film kann gar nicht schlecht genug sein, ich schau ihn mir trotzdem an, weil ich Jürgen Tarrach für einen wunderbaren und vielseitigen Schauspieler halte. So war es dann auch. Ich habe mich herrlich entspannt und die weibliche Hauptfigur einfach vergessen können. Es gibt also Figuren, denen folgt man überall hin, sogar in mittelmäßige Filme.
Ein Buch ist nicht 1:1 mit einem Film zu vergleichen. Zu viel Bild spielt eine Rolle im Film, sehr viel mehr Äußerliches. Gibt es vielleicht doch Gemeinsamkeiten? Ich sehe Jürgen Tarrach gern, weil er in meinen Augen seine Rollen lebt. Ich vergesse, dass ich eine fiktive Figur vor mir habe und einen, dessen Arbeit es ist, sie zu verkörpern. Ich rutsche derart in den Film hinein, dass ich währenddessen in einer anderen Welt lebe - in der Welt der Figur.
Daraufhin habe ich mir die Bücher angeschaut, die mich so "reinziehen". Spannung und suspense war es selten - die hielten eher später am Lesen. Es war die Figur, die als erste auftritt. Unbewusst entscheide ich sofort: Die ist interessant genug, um mit ihr Lebenszeit zu verbringen. Die Figur fasziniert mich. Es ist wie bei einem Zufallstreffen im Leben. Man weiß ganz schnell, ob man sich riechen kann und Lust auf einen zweiten Abend hätte. Manchmal wird man zwar auch von Romanfiguren enttäuscht, aber ich liebe sie, wenn ich gespannt bin, mehr von diesem facettenreichen Menschen zu erfahren.
Noch ein Aha-Effekt: Diese packenden, mir besonders nahen Figuren ähneln den Rollen Jürgen Tarrachs, zumindest was meinen Geschmack betrifft. Es sind keine Superhelden, keine blendenden Schönheiten, keine Gutmenschen und schon gar nicht Klischees ihrer selbst (siehe Thekla Carola Wied). Ich stehe auch nicht auf Superweiber, die den Haushalt neben exzessivem Schuhkauf und Designerjob mit Links schmeißen und dann trotz Männerenttäuschungen den absoluten Märchenprinz in der Nobelkarosse abstauben. Gerade wieder bei der Bettlektüre eine Frau kennen gelernt, die ich spontan zum Wein einladen würde: Kate Brannigan, fehlerbehaftete, frauenklischeebefreite, manchmal rotzige Ermittlerin bei Val McDermid. Wahrscheinlich nicht schön wie Frauenzeitschriften das wünschen, aber zum Verlieben.
Was ist das Geheimnis dieser Figuren? Die Story ist es nicht. Sie leben. Sie sind lebensecht. Nicht nach irgendwelchen abstrusen Zielgruppen-Panels zurechtgestylt. Sie haben komplexe, vielschichtige Charaktere und geben nicht gleich alles von sich preis. Drei-Minuten-Dating wie in der Schreibsoftware à la Hollywood geht bei den interessanten Typen nicht. Die wollen langsam, manchmal sogar mit Lesearbeit entdeckt werden. Ja oft muss man fast ein wenig um sie buhlen, sich Mühe geben, sie zu verstehen, weil sie nicht mit dem Abhakschema übereinstimmen, das manche Leute als Checklist zum Blind Dating mitbringen.
Diese Figuren zeigen die gesamte Bandbreite des Menschseins, auch die unbequemen Seiten. Sie haben eine perfekte Mischung aus Vertrautem und Fremdem an sich. Einzelne Facetten erkenne ich in meiner eigenen Welt, vielleicht sogar an mir selbst. Aber zu vertraute Figuren werden schnell langweilig. Fremdes, Ungewohntes erhöhen den Reiz. Angenehm müssen die fremden Eigenschaften auch nicht sein. Figuren, die einen auf die Palme bringen, kommen einem ebenso nah.
Damit habe ich auch endlich erkannt, wie ich eine große Schwäche beseitigen kann. Ich habe immer das Problem, dass mir zwar alle meine Figuren lebendig und vertraut sind, aber die Hauptfigur, einmal zu Papier gebracht, seltsam glatt und uninteressant wirkt. Dagegen brauche ich nur eine Nebenfigur mit zwei drei Sätzen umreißen, schon verlieben sich die Leser in sie. Meine Madame Dinde im "Lavendelblues" war so eine. Jürgen Tarrach hat mich jetzt draufgebracht, was ich im neuen Projekt falsch gemacht habe. Und warum ich den Anfang komplett umschreiben muss.
Ich kenne meine Hauptfigur zu gut und habe schon viel zu viele "Listen" über sie angelegt. Ich liebe sie längst innig. Aber völlig betriebsblind werfe ich sie den Lesern in ihrer Ganzheit vor. Nehme all das viel zu selbstverständlich. Ich schreibe, als säße ich beim Minuten-Dating. Und damit nehme ich der Figur ihren Reiz, ihre Geheimnisse. Ich lasse meinem Leser gar nicht die Gelegenheit, diese Figur langsam kennen und lieben zu lernen. Ich überrenne all diese geheimnisvollen, magischen Momente, die man erlebt, wenn man im normalen Leben zufällig und absichtlos einen faszinierenden Menschen kennen lernt. Also werde ich zwanzig Seiten durch die Mangel drehen. Und in Zukunft den Romananfang schon schreiben, wenn ich selbst meine Figur noch nicht ausreichend kenne. Davor hatte ich bisher Angst. Dabei praktiziere ich genau diesen Trick bei meinen Nebenfiguren.
Guck-Hör-Lesetipps:
Schlaue Ratgeber haben wahrscheinlich schlaue Antworten und Formeln, wie man den Unterschied produziert - ich habe keine Ahnung. Ich lerne oft durch ganz blödsinnige Begebenheiten. Eine erlebte ich unlängst, als ich platt vom Arbeiten einfach nur einen "schönen Film" auf mich einrieseln lassen wollte. Das Fernsehprogramm war grausam wie eh und je. Ich blieb an irgendetwas hängen, von dem ich sogar den Titel vergaß. In der Hauptrolle Thekla Carola Wied.
Nun sind Filme mit dieser Schauspielerin nicht mein Ding. Sie sieht für mich nicht nur aus wie die ewige Menschheits-besorgte Nonne - sie spielt auch immer in einem Typus von "Familienfilm", den ich nicht ertrage. Normalerweise hätte ich sofort weitergezappt. Dann sah ich im Vorspann, dass Jürgen Tarrach vorkommen sollte. Der Abend war gemacht. Ein Film kann gar nicht schlecht genug sein, ich schau ihn mir trotzdem an, weil ich Jürgen Tarrach für einen wunderbaren und vielseitigen Schauspieler halte. So war es dann auch. Ich habe mich herrlich entspannt und die weibliche Hauptfigur einfach vergessen können. Es gibt also Figuren, denen folgt man überall hin, sogar in mittelmäßige Filme.
Ein Buch ist nicht 1:1 mit einem Film zu vergleichen. Zu viel Bild spielt eine Rolle im Film, sehr viel mehr Äußerliches. Gibt es vielleicht doch Gemeinsamkeiten? Ich sehe Jürgen Tarrach gern, weil er in meinen Augen seine Rollen lebt. Ich vergesse, dass ich eine fiktive Figur vor mir habe und einen, dessen Arbeit es ist, sie zu verkörpern. Ich rutsche derart in den Film hinein, dass ich währenddessen in einer anderen Welt lebe - in der Welt der Figur.
Daraufhin habe ich mir die Bücher angeschaut, die mich so "reinziehen". Spannung und suspense war es selten - die hielten eher später am Lesen. Es war die Figur, die als erste auftritt. Unbewusst entscheide ich sofort: Die ist interessant genug, um mit ihr Lebenszeit zu verbringen. Die Figur fasziniert mich. Es ist wie bei einem Zufallstreffen im Leben. Man weiß ganz schnell, ob man sich riechen kann und Lust auf einen zweiten Abend hätte. Manchmal wird man zwar auch von Romanfiguren enttäuscht, aber ich liebe sie, wenn ich gespannt bin, mehr von diesem facettenreichen Menschen zu erfahren.
Noch ein Aha-Effekt: Diese packenden, mir besonders nahen Figuren ähneln den Rollen Jürgen Tarrachs, zumindest was meinen Geschmack betrifft. Es sind keine Superhelden, keine blendenden Schönheiten, keine Gutmenschen und schon gar nicht Klischees ihrer selbst (siehe Thekla Carola Wied). Ich stehe auch nicht auf Superweiber, die den Haushalt neben exzessivem Schuhkauf und Designerjob mit Links schmeißen und dann trotz Männerenttäuschungen den absoluten Märchenprinz in der Nobelkarosse abstauben. Gerade wieder bei der Bettlektüre eine Frau kennen gelernt, die ich spontan zum Wein einladen würde: Kate Brannigan, fehlerbehaftete, frauenklischeebefreite, manchmal rotzige Ermittlerin bei Val McDermid. Wahrscheinlich nicht schön wie Frauenzeitschriften das wünschen, aber zum Verlieben.
Was ist das Geheimnis dieser Figuren? Die Story ist es nicht. Sie leben. Sie sind lebensecht. Nicht nach irgendwelchen abstrusen Zielgruppen-Panels zurechtgestylt. Sie haben komplexe, vielschichtige Charaktere und geben nicht gleich alles von sich preis. Drei-Minuten-Dating wie in der Schreibsoftware à la Hollywood geht bei den interessanten Typen nicht. Die wollen langsam, manchmal sogar mit Lesearbeit entdeckt werden. Ja oft muss man fast ein wenig um sie buhlen, sich Mühe geben, sie zu verstehen, weil sie nicht mit dem Abhakschema übereinstimmen, das manche Leute als Checklist zum Blind Dating mitbringen.
Diese Figuren zeigen die gesamte Bandbreite des Menschseins, auch die unbequemen Seiten. Sie haben eine perfekte Mischung aus Vertrautem und Fremdem an sich. Einzelne Facetten erkenne ich in meiner eigenen Welt, vielleicht sogar an mir selbst. Aber zu vertraute Figuren werden schnell langweilig. Fremdes, Ungewohntes erhöhen den Reiz. Angenehm müssen die fremden Eigenschaften auch nicht sein. Figuren, die einen auf die Palme bringen, kommen einem ebenso nah.
Damit habe ich auch endlich erkannt, wie ich eine große Schwäche beseitigen kann. Ich habe immer das Problem, dass mir zwar alle meine Figuren lebendig und vertraut sind, aber die Hauptfigur, einmal zu Papier gebracht, seltsam glatt und uninteressant wirkt. Dagegen brauche ich nur eine Nebenfigur mit zwei drei Sätzen umreißen, schon verlieben sich die Leser in sie. Meine Madame Dinde im "Lavendelblues" war so eine. Jürgen Tarrach hat mich jetzt draufgebracht, was ich im neuen Projekt falsch gemacht habe. Und warum ich den Anfang komplett umschreiben muss.
Ich kenne meine Hauptfigur zu gut und habe schon viel zu viele "Listen" über sie angelegt. Ich liebe sie längst innig. Aber völlig betriebsblind werfe ich sie den Lesern in ihrer Ganzheit vor. Nehme all das viel zu selbstverständlich. Ich schreibe, als säße ich beim Minuten-Dating. Und damit nehme ich der Figur ihren Reiz, ihre Geheimnisse. Ich lasse meinem Leser gar nicht die Gelegenheit, diese Figur langsam kennen und lieben zu lernen. Ich überrenne all diese geheimnisvollen, magischen Momente, die man erlebt, wenn man im normalen Leben zufällig und absichtlos einen faszinierenden Menschen kennen lernt. Also werde ich zwanzig Seiten durch die Mangel drehen. Und in Zukunft den Romananfang schon schreiben, wenn ich selbst meine Figur noch nicht ausreichend kenne. Davor hatte ich bisher Angst. Dabei praktiziere ich genau diesen Trick bei meinen Nebenfiguren.
Guck-Hör-Lesetipps:
- Film: Die Musterknaben (hier spielt noch ein Lieblingsschauspieler mit: Oliver Korittke)
- Hörbuch: Jürgen Tarrach liest Martin Gülich - Die Umarmung
- Buch: Val McDermid: Kate-Brannagan Krimis bei Ariadne im Argument Verlag, z.B.: Das Gesetz der Serie
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