Das Futuristische Manifest und die Avantgarde
Juebs Kommentar unten zu Strawinsky, dessen Sacre 1913 uraufgeführt wurde, erinnert mich an eine Notiz auf meinem Schreibtisch: "Montag Arte Kultur anschauen!" Da kommt nämlich ein Beitrag über ein Jahrhundertereignis. Gestern war es so weit: 100 Jahre futuristisches Manifest. Was um Himmels Willen ist das? Wahrscheinlich wissen es alle längst, denn ich hinke der feuilletonistischen Ejaculatio praecox übel hinterher. Future war dort längst. Nur Arte kommt langsam.
Also machen wir's kurz und gewaltig: Die Übersicht für die Schule gibt's auf Wikipedia. Das gesamte Manifest des Futurismus auf Deutsch liest man hier. Bei Heise kann man sich durch einen mehrseitigen Artikel arbeiten, der vielleicht dafür sorgen wird, dass demnächst die italienischen 20-Cent-Münzen knapp werden. Das Feuilleton hat, wie gesagt, längst abgefeiert und findet sich via Suchmaschinen und Perlentaucher.
Es lohnt sich durchaus auch für zu spät Geborene, in dieses vor hundert Jahren revolutionäre Manifest hineinzulesen und kritisch darüber nachzudenken. Und es lohnt sich nicht nur für bildende Künstler, nicht nur für Künstler überhaupt, sondern auch für Menschen, die sich Gedanken um die Gegenwart machen und dem Feeling einer vergangenen Zeit nachspüren wollen. Dass Leben und Zeit sich beschleunigen können und alte Sicherheiten plötzlich verschwinden, ist keine allzu moderne Erfindung. Die Technisierung nach der Jahrhundertwende, die Erfindung der bewegten Bilder des Films und das Herangrollen dessen, was zum Ersten Weltkrieg werden würde, warf die Menschen aus der gewohnten Bahn, zwang Künstler, sich mit den neuen Bewegungen im wahrsten Sinn des Wortes auseinanderzusetzen.
Aber welche Unterschiede zum Krisengejammer vergleichsweise fetter und friedvoller Zeiten! "Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen, die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit." So lautet der erste Satz des Künstlers Filippo Tommaso Marinetti. Und schon der zweite lässt moderne Schriftsteller wie Schnarchnasen daherkommen: "Mut, Kühnheit und Auflehnung werden die Wesenselemente unserer Dichtung sein."
Wie das bei einem ordentlichen Manifest zu sein hat, hat der Autor des Futuristischen Manifests natürlich gehörig übertrieben und provoziert tüchtig. Und er hat sich außerdem keineswegs mit Ruhm bekleckert, als er sich verblendet von seinem Geschwindigkeitsrausch und Kampfeswahn zum Propagandawerkzeug Mussolinis machte.
Trotz alledem - ohne die Futuristen und vor allem die nicht immer genau unterscheidbaren Kubisten jener Zeit, überhaupt ohne die Avantgarde in der bildenden Kunst, die sich aus russischen (Wassily Kandinsky mit dem ersten abstrakten Bild um 1910) und europäischen Quellen speiste, ist unsere eigene Zeit mit ihrer Kunst nur bruchstückhaft zu verstehen.
Was ich allerdings überhaupt nicht verstehe, ist der Hype und der Lobhudel um "Le Figaro", der das Futuristische Manifest am 20. Februar 1909 veröffentlichte. Dieses ach so fortschrittliche und bahnbrechende Pariser Blatt schaffte es nämlich drei Jahre später, im Mai 1912, einen der größten Skandale der Ballettgeschichte vom Zaun zu brechen. In völlig revolutionärer Weise, angelehnt an kubistisches Gedankengut, wurde in jenem Jahr Claude Debussys "L'Aprés-midi d'un faune" aufgeführt, diese Vertonung des gleichnamigen Gedichts von Mallarmé, der ein Freund von Marinetti gewesen sein soll.
Ausgerechnet "Le Figaro" war der rückständige Haupttreiber der moralisch empörten Gegner, die solch "modernes Zeug" von den Bühnen verbannen wollten! Pech, dass das Blatt seiner Zeit hinterher hinkte. Unter Führung eines Bildhauers namens Rodin bekam die Zeitung von der Konkurrenz Saures und so tobte drei Jahre nach dem futuristischen Manifest in Paris der Kampf um die Moderne. Das hatte durchaus Tradition, denn die Avantgarde-Künstler aus aller Welt tranken und aßen in den Kneipen an der Seine.
Geheim(?)tipp: Die Avantgarde der 1910er bis 1920er wird wiederentdeckt!
Derzeit kann man die Futuristen vermehrt in Museen sehen und auch von der Avantgarde wird in diesem Jahr noch viel zu hören sein.
Berlin plant im Oktober im Martin-Gropius-Bau eine große Futuristenausstellung. Im Pariser Musée Maillol läuft bereits eine große Ausstellung über die russische Avantgarde (bis 2.3.2009). Die Kandinsky-Ausstellung "Kandinsky - Absolut. Abstrakt" in München wird wegen des großen Zulaufs bis 8. März verlängert. Währenddessen ist die Sammlung des Blauen Reiters zum letzten Mal vor 2012 öffentlich zu sehen! Von April bis August zieht die Kandinsky-Ausstellung dann ins Pariser Centre Georges Pompidou und von September ab bis Januar 2010 ins Guggenheim-Museum New York.
Die Moskauer Ausstellung über die Avantgarde-Architektur in Zusammenarbeit mit Berlin und Petersburg ist eben zu Ende gegangen und soll nun nach Jekaterinburg und Samara ziehen.
Hamburg, das bereits im vergangenen Jahr im Rahmen des Petersburger Dialogs die Ausstellung "Avantgarde - Diffamierung - Welterbe" zum gleichen Thema zeigte, ist in diesem Jahr in der Kunsthalle mit einer weiteren Avantgarde-Ausstellung vertreten. Unter dem Titel "Nijinskys Auge und die Abstraktion" zeigt das Hubertus Wald Forum von Mai bis August Werke des Tänzers und Choreographen Vaslav Nijinsky und russischer Avantgardisten der 1920er. Sammlern von Kunstkatalogen sei empfohlen, per Suchmaschine zu suchen, denn die Kataloge der zahlreichen Avantgarde-Ausstellungen von 2008 sind meist noch zu haben.
Und woher ich das alles weiß? Ich bin unheilbare, süchtige Kandinsky-Verehrerin, zumal ich seine Bilder hören kann - schwärme für Sonia Delaunay-Terk (Ausstellung in Bielefeld leider morgen zu Ende) und die Kleider von Paul Poiret - und bin unendlich traurig, dass die Zeitmaschine immer noch nicht erfunden ist. Da haben die Futuristen geschlampt. Beam me up, Scotty!
Also machen wir's kurz und gewaltig: Die Übersicht für die Schule gibt's auf Wikipedia. Das gesamte Manifest des Futurismus auf Deutsch liest man hier. Bei Heise kann man sich durch einen mehrseitigen Artikel arbeiten, der vielleicht dafür sorgen wird, dass demnächst die italienischen 20-Cent-Münzen knapp werden. Das Feuilleton hat, wie gesagt, längst abgefeiert und findet sich via Suchmaschinen und Perlentaucher.
Es lohnt sich durchaus auch für zu spät Geborene, in dieses vor hundert Jahren revolutionäre Manifest hineinzulesen und kritisch darüber nachzudenken. Und es lohnt sich nicht nur für bildende Künstler, nicht nur für Künstler überhaupt, sondern auch für Menschen, die sich Gedanken um die Gegenwart machen und dem Feeling einer vergangenen Zeit nachspüren wollen. Dass Leben und Zeit sich beschleunigen können und alte Sicherheiten plötzlich verschwinden, ist keine allzu moderne Erfindung. Die Technisierung nach der Jahrhundertwende, die Erfindung der bewegten Bilder des Films und das Herangrollen dessen, was zum Ersten Weltkrieg werden würde, warf die Menschen aus der gewohnten Bahn, zwang Künstler, sich mit den neuen Bewegungen im wahrsten Sinn des Wortes auseinanderzusetzen.
Aber welche Unterschiede zum Krisengejammer vergleichsweise fetter und friedvoller Zeiten! "Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen, die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit." So lautet der erste Satz des Künstlers Filippo Tommaso Marinetti. Und schon der zweite lässt moderne Schriftsteller wie Schnarchnasen daherkommen: "Mut, Kühnheit und Auflehnung werden die Wesenselemente unserer Dichtung sein."
Wie das bei einem ordentlichen Manifest zu sein hat, hat der Autor des Futuristischen Manifests natürlich gehörig übertrieben und provoziert tüchtig. Und er hat sich außerdem keineswegs mit Ruhm bekleckert, als er sich verblendet von seinem Geschwindigkeitsrausch und Kampfeswahn zum Propagandawerkzeug Mussolinis machte.
Trotz alledem - ohne die Futuristen und vor allem die nicht immer genau unterscheidbaren Kubisten jener Zeit, überhaupt ohne die Avantgarde in der bildenden Kunst, die sich aus russischen (Wassily Kandinsky mit dem ersten abstrakten Bild um 1910) und europäischen Quellen speiste, ist unsere eigene Zeit mit ihrer Kunst nur bruchstückhaft zu verstehen.
Was ich allerdings überhaupt nicht verstehe, ist der Hype und der Lobhudel um "Le Figaro", der das Futuristische Manifest am 20. Februar 1909 veröffentlichte. Dieses ach so fortschrittliche und bahnbrechende Pariser Blatt schaffte es nämlich drei Jahre später, im Mai 1912, einen der größten Skandale der Ballettgeschichte vom Zaun zu brechen. In völlig revolutionärer Weise, angelehnt an kubistisches Gedankengut, wurde in jenem Jahr Claude Debussys "L'Aprés-midi d'un faune" aufgeführt, diese Vertonung des gleichnamigen Gedichts von Mallarmé, der ein Freund von Marinetti gewesen sein soll.
Ausgerechnet "Le Figaro" war der rückständige Haupttreiber der moralisch empörten Gegner, die solch "modernes Zeug" von den Bühnen verbannen wollten! Pech, dass das Blatt seiner Zeit hinterher hinkte. Unter Führung eines Bildhauers namens Rodin bekam die Zeitung von der Konkurrenz Saures und so tobte drei Jahre nach dem futuristischen Manifest in Paris der Kampf um die Moderne. Das hatte durchaus Tradition, denn die Avantgarde-Künstler aus aller Welt tranken und aßen in den Kneipen an der Seine.
Geheim(?)tipp: Die Avantgarde der 1910er bis 1920er wird wiederentdeckt!
Derzeit kann man die Futuristen vermehrt in Museen sehen und auch von der Avantgarde wird in diesem Jahr noch viel zu hören sein.
Berlin plant im Oktober im Martin-Gropius-Bau eine große Futuristenausstellung. Im Pariser Musée Maillol läuft bereits eine große Ausstellung über die russische Avantgarde (bis 2.3.2009). Die Kandinsky-Ausstellung "Kandinsky - Absolut. Abstrakt" in München wird wegen des großen Zulaufs bis 8. März verlängert. Währenddessen ist die Sammlung des Blauen Reiters zum letzten Mal vor 2012 öffentlich zu sehen! Von April bis August zieht die Kandinsky-Ausstellung dann ins Pariser Centre Georges Pompidou und von September ab bis Januar 2010 ins Guggenheim-Museum New York.
Die Moskauer Ausstellung über die Avantgarde-Architektur in Zusammenarbeit mit Berlin und Petersburg ist eben zu Ende gegangen und soll nun nach Jekaterinburg und Samara ziehen.
Hamburg, das bereits im vergangenen Jahr im Rahmen des Petersburger Dialogs die Ausstellung "Avantgarde - Diffamierung - Welterbe" zum gleichen Thema zeigte, ist in diesem Jahr in der Kunsthalle mit einer weiteren Avantgarde-Ausstellung vertreten. Unter dem Titel "Nijinskys Auge und die Abstraktion" zeigt das Hubertus Wald Forum von Mai bis August Werke des Tänzers und Choreographen Vaslav Nijinsky und russischer Avantgardisten der 1920er. Sammlern von Kunstkatalogen sei empfohlen, per Suchmaschine zu suchen, denn die Kataloge der zahlreichen Avantgarde-Ausstellungen von 2008 sind meist noch zu haben.
Und woher ich das alles weiß? Ich bin unheilbare, süchtige Kandinsky-Verehrerin, zumal ich seine Bilder hören kann - schwärme für Sonia Delaunay-Terk (Ausstellung in Bielefeld leider morgen zu Ende) und die Kleider von Paul Poiret - und bin unendlich traurig, dass die Zeitmaschine immer noch nicht erfunden ist. Da haben die Futuristen geschlampt. Beam me up, Scotty!
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