Aleksandar Hemon: The world goes through me

Eben tauche ich aus einer Übersetzungsarbeit auf und erhole mich beim Perlentaucher; falle über eine Leseprobe, sehe, dass ich wieder die letzte bin, die das Buch zu kennen scheint, und entscheide: das ist seit Column McCanns "Der Tänzer" endlich einmal wieder ein "must have". Falls es jemand ähnlich geht - der Autor heißt Aleksandar Hemon, der Roman "Lazarus" (Knaus) - und der multikulturelle Mensch ist einer dieser in meinen Augen begnadeten Schriftsteller, die in verblüffender Schnelligkeit dazu kommen, Romane in einer Fremdsprache zu schreiben (ich wünschte, ich beherrschte das in der eigenen genügend).

Hängengeblieben bin ich an der Jahreszahl 1908, die faszinierende Zeiten verspricht. Die Zusammenfassung des Inhalts auf der Verlagsseite war schwach, wirr und abstoßend, aber der Text betörend. Es klingt wie ein sehr journalistischer Roman, weil die Sprache selbst wie ein Kunstgriff wirkt: Hier verschwimmt das erzählende Sachbuch völlig ins romanhaft Fiktive, ins Epische. Dazu Witz und Trauer in berührender Mischung und Sätze wie diese:
"Nein, ich bin kein Jude. Mary auch nicht.
Ich bin auch weder Muslim noch Serbe oder Kroate.
Ich bin kompliziert."

Was ich aber eigentlich empfehlen wollte, sind einige Interviews mit Aleksandar Hemon, die (auf Englisch) anregend vermitteln, warum Schriftstellern einer der schönsten und verrücktesten Berufe der Welt ist. Wenn einer Bücher mit Gustav Mahler schreibt und nicht nur mit Figuren spricht, sondern im Geiste auch noch mit berühmten Schriftstellern telefoniert, bis diese nicht mehr abnehmen wollen, dann möchte ich ihn glatt von Strawinsky anrufen lassen, um einen Termin mit Griffith für ein Stummfilmdrehbuch auszumachen.

In obigem Essay schreibt er: "The world goes through me, and some particles of it, for random reasons, unrelated to my will or my mind, stay with me." Schreiben heißt für ihn, "pathologisch offen für Einflüsse" zu sein, in einem immerwährenden Dialog mit der Welt.

In einem Interview zu seinem älteren Kurzgeschichtenband gibt er zu, vorher "some kind of minimalist shit" geschrieben zu haben und in Jahren die neuen Geschichten wahrscheinlich als "babbling" zu empfinden - Schreiben als stetige Selbstentwicklung. Es geht in den Geschichten um verlorene Welten, das Erinnern. Wer sich dafür interessiert, was mit dem Leben und dem Schreiben passiert, wenn es zu "clean" wird, wozu Literatur verkommt, wenn man sie glättet, der sollte unbedingt hineinlesen. Fein auch die Theorie vom Schriftsteller als einer seltsamen Art von Dauerspion: "And there are spies who are in the sight of everyone but they don't know exactly who they are."

Mehr Zeit und Aufmerksamkeit sollte man für das Round Table Gespräch von Random House mitbringen, einen Mailwechsel zwischen Aleksandar Hemon und Myla Goldberg. Es geht um Kinder und kulturelle Modelle in der Literatur, die Rolle der Literatur und der Sprache. Es geht um die eigene Geschichte und die Niederschläge der Welt im Roman, um Figuren und all die drängenden Fragen, die Schriftsteller so oft mit sich auskämpfen müssen - oder sich davor drücken wollen... Es geht um Realität und Imagination, um Synchronizitäten und von Lesern geschaffene Scheinwirklichkeiten (diese ewige Verwechslung von Autor und Figur). Es geht um Beschränkungen und Grenzüberschreitungen... kurzum all diese Dinge, die zusammengefasst unendlich banal klingen und beim Nachdenken umso stärker am Autorenseelchen kratzen. Unbedingt lesen!

Jetzt klinge ich auch schon wie die Heidenreich, aber ich meine es ehrlich, ich drucke mir das jetzt für den Feierabend aus, bevor ich mich morgen wieder an das Faszinosum mache, das unendlich bedeutungsreiche Wort "esprit" richtig ins Deutsche zu übersetzen...

Lesetipps:
Aleksandar Hemon: Lazarus, Knaus Verlag
Myla Goldberg: Die Buchstabenprinzessin, Kindler / rororo
Typisch für den Umgang mit manchen literarischen Talenten in Deutschland: Das Buch erreichte über 30 Auflagen in den USA, ihr Roman "Bee Season" wurde mit Richard Gere und Juliette Binoche verfilmt - aber von Myla Goldberg sind alle deutschsprachigen Übersetzungen längst verramscht oder edel ausgedrückt: vergriffen.
Anm: Wer kein Englisch kann - die Websiteübersetzung von Google ist zwar spaßig, aber man kann dem Text doch einigermaßen folgen.

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