Ich nannte sie Ningas

Abends beim Fernsehen besticke ich Schmetterlingsflügel, mit farbigem Garn, mit Glasperlen. Und wie immer bei meinen künstlerischen Arbeiten quält sich allenfalls die Schöpferin, echte Tiere werden selbstverständlich nicht angefasst. (Die Entscheidung für Schmetterlinge fiel, weil ich bis zum Kunsthandwerkermarkt am 15. August nicht genügend Käfer schaffen würde. Die sind nämlich extrem arbeitsaufwändig.) Aus uralten Stoffresten formte ich also einen Körper und plötzlich schoss mir eine Erinnerung aus meiner Kindheit in den Kopf: Damals hatte ich genau diesen Stoff in Händen gehabt!

Beim Kruschteln auf dem Speicher fiel mir diese Kinderzeichnung in die Hände, die ich mit 13 Jahren angefertigt hatte. Es ist ein Ausschnitt, wo Schmetterlinge nicht fehlen durften. (Gesamtansicht und weitere Teile hier).


Zum ersten Mal habe ich nachvollziehbar die Wege meines Gehirns genau vor Augen. Spannende Sache, so eine Erinnerung, die sich aus Farben, Fühlen und Emotion zusammensetzt, bis man den "Film" vor Augen hat, als sei damals heute.

Diesen Frotteestoff kannte ich von irgendwoher ...


Diesen knubbeligen Schmetterlingskörper habe ich aus einem leichten Frotteestoff gewickelt - quietscheschweinchenrosa ist er. Ein anderer Schmetterling bekommt einen aus einer Textilserviette, die ich aufgesammelt hatte, weil sie so schön grell maiengrün ist. Und wie ich über die Körper der neuen Tierchen streichle, platzt dieses Heureka in meinen Kopf. Ich sehe einen großen Pappschmetterling vor mir, der ganz genau mit diesen Farben beklebt ist. Mehr noch: mit genau diesem schweinchenrosa Frottee! Den hatte ich in einem der ersten Schuljahre gefertigt, ich war also etwa sieben Jahre alt. Ich benutzte damals Stoffreste meiner Mutter, die sich daraus ein Minikleid genäht hatte. Typische Mode der 1960er. Sie hatte auch ein grellgrünes.

Es entstehen Schmetterlinge und Libellen im Atelier Tetebrec.


Leider litt ich damals sehr unter meinem Schmetterling, oder vielmehr unter dem Urteil der anderen. Zuerst fand ich ihn schick, weil seine Vorderflügel eher buchseitenförmig waren. Alle anderen hatten aber perfekte rundliche Flügel geschnitten, sichtlich unter Zuhilfenahme ihrer Eltern und anderer Tricks. Und diese hatten aufgepasst, dass das Ganze auch schon ordentlich und recht natürlich beklebt wurde. Ich war renitent geblieben, hatte mich dagegen gewehrt, dass meine Mutter genauso reagierte wie die anderen Eltern.

Ob diese Schmetterlinge auch psychedelisch wirken? Und ob sie ins Jahr 2019 passen?


Ich wollte partout einen Schmetterling in "Beatlesfarben" und er sah darum äußerst psychedelisch aus. Sind echte Schmetterlinge nicht überhaupt ungeheuer psychedelisch? Das Pappmodell trug also Reste von den Kleidern meiner Mutter, schweinchenrosa, grellgrün, irgendetwas in Kirschrot und etwas mit wildem Muster. Wir Kinder schwärmten für die Optik von Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band und unsere heiß geliebte Band war gerade auf ihrem Indientrip. Dann kamen die Farbexplosionen von Yellow Submarine (Video) und dem Animationsfilm dazu (Video Trailer). Die Lehrerin lobte mich, weil ich mich so angestrengt hatte. Aber insgeheim waren sich alle einig mit meiner Mutter, das fühlte ich: So sehen brave, normale, ordentliche, wohlerzogene Schmetterlinge nicht aus!


Kein braves und wohlerzogenes Tier, aber es klingt im Farbrausch!

Meine Erinnerung reicht noch weiter zurück. In eine Zeit, in der ich noch nicht richtig sprechen konnte. Zum Schlafanzug sagte ich Blaslu, die Waschmaschine hieß Bobbomiese und Schmetterlinge waren Ningas. Faszinierend, wie sich Sprache aus Lautmalerei bildet!

Fröhlich beobachtete ich also die wunderschön bunten "Ningas" auf Blumen und war mir sicher, dass sie mir Geschichten erzählten. Anders als die kleinen Elfchen in den Blütenkelchen (ich schwöre, ich konnte die damals noch sehen) sprachen die Ningas in Farb-Tönen. Ich würde noch viele Jahrzehnte brauchen, um zu entdecken, dass dies meine älteste Erinnerung an die Synästhesie gewesen sein muss, denn ich kann Farben hören und Töne sehen.

Was wäre, wenn Menschen beim Ansehen eines einfachen Kohlweißlings begeistert wären und staunen könnten?


Und wieder bekam ich ein Problem mit den viel zu lahm denkenden Erwachsenen. Weil ich noch nicht schreiben konnte ... erzählte ich alles bereits hier. Kurzum: Schmetterlinge waren für mich immer besonders magische Wesen, weil sie Klang und Farben vereinten. Wenn sie flatterten, erklang die Luft in wunderbaren Schwingungen, die Töne variierten mit dem Schillern ihrer Flügel. Kein Wunder, dass ich dem "Yellow Submarine" leicht folgen konnte: Was, wenn der Mensch sich nur einbildete, so groß und schlau und wichtig zu sein? Was, wenn eben das die Eigenschaften der anderen Spezies waren? Und was würden wir entdecken, wenn wir mit dem gelben U-Boot zum Mond fliegen würden? Alles schien möglich damals - und es war quietschebunt und auch ohne Drogen psychedelisch.

Es ist verrückt, wie man im Kopf zeitreisen kann und wie dieses Gefühl entsteht, dass man plötzlich ganz nah bei sich sei, an einer Art Essenz des eigenen Selbst. Dass man etwas lange Verschollenes wiederfand, sich selbst als Kind wiederfand, mit den Gedanken und Geschichten von damals im Kopf. An solchen Tagen erschrecke ich manchmal, wenn ich in den Spiegel schaue. Ich ahnte ja nicht, dass man als Siebenjährige schon graue Haare haben kann! Es braucht dann einen Moment, um im Jahr 2019 anzukommen.

Legeprobe, ob der Rahmen passt. Noch sind die Einzelteile nicht geformt und montiert.


Und so sitze ich da und forme wieder Schmetterlinge, diesmal aus Papier. Und ich lasse mir von niemandem sagen, dass sie womöglich zu kitschig geraten seien, zu bunt, zu unnatürlich. Sie müssen jetzt einfach schlüpfen. Und das tun sie, ohne mich zu fragen. Ich höre ihnen einfach zu.

PS: Warum mich bei der Gelegenheit das Gehirn und die Fähigkeit zum Erinnern so fasziniert hat? Ich las gleichzeitig einen spannenden Wissenschaftsartikel über Versuche, bestimmte Hirnzellen auch nach dem Tod zu erhalten oder wiederzuerwecken. Mein Sonntagslesetipp:
"If you could restore activity to individual post-mortem brain cells, he reasoned to himself, what was to stop you from restoring activity to entire slices of post-mortem brain?"

5 Kommentare:

  1. Liebe Petra,
    ich liebe deine Schmetterlinge... so müssen sie sein, bunt, fröhlich, schillernd und einzigartig. Lass dir bitte nie wieder erzählen, das es nicht sein darf... heute sind wir zwar "erwachsen", aber innen sind wir immer noch frei und bunt und wild! Wunderschön. <3

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    1. Das hast du fein gesagt, Barbara!
      Und ich werde versuchen, deinen Rat zu beherzigen, denn was damals die Schule kleinhielt, begegnet uns heute oft in den Erwartungen anderer - oder dem, was wir dafür halten.

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  2. Wenn wir zu uns finden und ganz bei uns sind, kommen wir uns gleichzeitig auch miteinander ganz nah. Dankeschön für diese berührenden Einblicke, die ich mitfühlen durfte.

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  3. Die Geschichte von den "Ningas" und den Elfen ist bezaubernd, aber ich muss auch einmal erwähnen, dass ich deine Schnabeltiere aus deiner alten Zeichnung wirklich klasse finde.

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  4. Ich danke euch für das Feedback Petra und Maike. Ganz besonders freue ich mich darüber, dass Kommentare nicht mehr bei Facebook verschütt gehen. :-)
    Die Schnabeltiere müssen es mir damals sehr angetan haben. Dabei bin ich mir fast sicher, dass ich keinen realen Zoo gezeichnet habe, auf mich wirkt das wie ein Paradiesgarten, in dem alles kreuchte und fleuchte, was mir als Kind besonders gefiel.

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