Diagnose: Asemie
"Curcumastory" von Petra van Cronenburg - ein "asemischer" Ausbruch ... |
Zuerst aber muss ich die Geschichte zu einem Foto erzählen, das ich in diesem Beitrag unlängst gepostet habe. Da sitze ich als Kind auf einem Schemelchen an einem Hocker und scheine zu malen. Beides hat mir meine Mutter immer nach draußen gereicht, nebst Papier und Wachsmalkreiden - so war ich schön brav und durchs Küchenfenster zu beobachten. Die Osram-Schachtel hatte ich für meine Kreiden selbst gewählt und an den Grund erinnere ich mich noch zu genau: Farben waren für mich Licht. Also gab es kein besseres "Zuhause" für sie als eine Schachtel, aus der man Licht in Lampen schraubte.
Die Schule war noch weit weg und diese Geschichte habe ich kürzlich schon einmal irgendwo erzählt: Meine Mutter erwartete von mir, dass ich wie alle Kinder brav malte. Tat ich aber nicht. Ich schrieb. Ich schrieb solche Blätter ziemlich voll - und natürlich gab es auch kleine Zeichnungen zwischendurch. Denn irgendwie, auch daran erinnere ich mich genau, wollte ich die Geschichten aufschreiben, die mir Elfen und Schmetterlinge erzählten. Heute weiß ich nicht mehr genau, ob beide nicht dasselbe waren, aber ich erinnere mich noch gut daran, dass rote Tulpen in wunderbar dunklen, vollen Tönen erzählten, während Gänseblümchen immer ein wenig klangen, als kicherten sie. Deshalb schrieb ich nicht mit schwarzem oder blauem Stift - jeder Dialogteil bekam natürlich die passenden Farben! Viele viele Jahre später erst entdeckte ich durch ein Buch, dass ich mit Synästhesie begabt war und Farben hören konnte. Heute nutze ich diese Begabung für meine kreative Arbeit ganz aktiv.
In unserem regelrecht kunstfeindlichen Haushalt war dafür aber kein Platz. Malen, das war immerhin bekannt, gehörte zu einer gesunden Entwicklung von Kindern. Aber ich schrieb ja nicht einmal richtig, ich tat nur so! Erfand ein Krikelkrakel, das den Erwachsenen nichts sagte, das ich aber behauptete, flüssig vorlesen zu können! Ich krikelte und krakelte und las meine Geschichten vor und kam zu dem Urteil, dass Erwachsene einfach nur schrecklich doof seien, weil sie so taten, als sei das alles nur erfunden. Und weil ich so gar nicht richtig malen wollte, schleppte mich meine Mutter zum Kinderarzt, besorgt, ich hätte irgendeine seltene Störung. Ich hatte offenbar den besten nur denkbaren Arzt, denn der verschrieb mir ein phantastisches Medikament: Tapetenrollen statt der Papierbögen auf dem Foto. Damit das Kind endlich seine Geschichten ganz aufschreiben könne. Und viel viel Platz dafür habe. Ich liebte Tapetenrollen!
Ein paar wenige Blätter von damals sind noch erhalten. Mit dem heutigen Blick sehe ich, dass da ein Kind schlicht echte Buchstaben nachzuahmen versuchte: Ich habe tatsächlich einfach schreiben lernen wollen! Zu Bildern in Bilderbüchern kritzelte ich manchmal "Bewegungen" - die aber teilweise erstaunlich den Buchstaben darunter ähneln! Nicht einmal das wurde erkannt - wie gesagt, die Geschichte habe ich bereits erzählt. Dank jenes Kinderarztes bin ich damals nicht verbogen worden und später sogar Buchautorin geworden. Heute glauben mir die Erwachsenen plötzlich, dass ich Geschichten erzählen kann ...
Etwa vor zwei Tagen dann die Überraschung. Ich recherchiere im Moment viel zu Assemblage Art, Collagen, Mixed Media und Künstlerbüchern. Und natürlich kenne ich aus der Kunst die Kombination aus Malerei, Zeichnung und Schrift. Spätestens beim Übersetzen des Weltbestellers von Dan Franck über die Avantgarde in Paris habe ich für all das genügend Beispiele gesehen, zumal diese Zeit in der Kunst für mich die faszinierendste ist. Und wer kennt nicht die Bilder eines Cy Twombly, der mich schon als Kind interessierte, weil er einen so lustig rund klingenden Namen hatte - mit seinen Zeichen und Schriften und Farben.
Wie viele andere war ich hingerissen von den Rätseleien um das berühmte Voynich Manuskript, das bis heute nicht entschlüsselt werden konnte. Die Hypothesen bleiben abenteuerlich, aber als ich mich für mein Buch über Vaslav Nijinsky mit Art Brut oder Outsider Art beschäftigte, entwickelte ich eine eigene steile These. Ich glaube, dass es sich um ein frühes Beispiel der Outsider Art handelt und darum nicht entzifferbar ist und sein wird. Aber das ist ein anderes Thema. Kurzum: Ich beschäftige mich schon vom Beruf her nur zu gern mit Typographie, fremden Schriften und natürlich auch noch nicht entzifferten Schriften.
Vielleicht bin ich naiv oder beschränkt oder saß in einem Kokon fest - jedenfalls entdeckte ich erst vor wenigen Tagen, dass es so etwas gibt wie vorsätzlich verfasste Schrift in einem sehr individuellen Duktus, die zwar alle möglichen Assoziationen weckt, aber unlesbar bleibt, auch unlesbar sein soll. Und vielleicht lachen jetzt viele, weil sie das alles längst kennen. Wie ich in diesen Bildern bei Google regelrecht versumpfte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Genau das hatte ich als Kind auch gemacht! Meine Geheimschrift! Weil ich - ebenfalls eine déformation professionelle, unmäßig neugierig bin, habe ich das Phänomen natürlich recherchiert und auch einen Fachbegriff gefunden.
Asemische Schrift oder asemisches Schreiben sagt man ungelenk im Deutschen als Lehnwort fürs englische Asemic Writing. Das Wort kommt von "Semantik" (Bedeutung), bezeichnet also Schrift mit kleinstmöglicher Bedeutung. Es ist nicht der oder die Schreibende, der Bedeutung zu Papier bringt - es ist allein der oder die Lesende, die Bedeutung ins Gesehene hineinlegt. Und darum wird solche Schrift auch oft mit Farben verbunden und mit Malerei, Zeichnung, Collagen. Bei Pinterest habe ich eine Bildersammlung dazu angelegt. Es gibt hier starke Parallelen zur Art Brut / Outsider Art, wo Patienten ganze Bücher oder Wände beschriften, teilweise in echten Buchstaben, aber auch in Fantasieschriften - und sich so ihre Welt ins Gleichgewicht zu schreiben scheinen. Aber auch wenn der Vorgang ähnlich wie beim automatischen Schreiben oft willkürlich und unbewusst erscheint, wird er von Künstlern aktiv und "vorsätzlich" genutzt.
Asemisches Schreiben auf Buchpapier für ein Gebrauchskunstprojekt - Atelier Tetebrec |
Es klingt vielleicht komisch, aber mich hat die Dichte dieses Phänomens, wie es einem Google präsentieren kann, wenn man nur den richtigen Begriff gefunden hat, schlicht umgeblasen! Hätte ich doch nur als Kind einen Bruchteil davon oder wenige Bilder sehen dürfen! Ich konnte nicht mehr still sitzen. Vor wenigen Tagen hatte ich für mein Atelier Papierfärbungen ausprobiert und Papier mit Curcuma gefärbt, was leider nicht sehr lichtecht ist und unterschiedlich ausblasst. Also mussten ein paar Aquarellfarben dazu, die ich nicht mit dem Pinsel, sondern mit Pflanzenteilen aufgetragen habe. "Mark Making" nennt man das - noch so ein unübersetzbarer Fachbegriff, weil er im Deutschen so viel unterschiedliches bedeuten kann. In diesem Fall sind es "Zeichen", die man aufs Papier setzt.
Endlich hatte das Papier das richtige Licht, die richtigen Farben und da habe ich es nach einem halben Jahrhundert zum ersten Mal wieder getan: Ich hab mich freigeschrieben, mit "asemischem Schreiben". Was für ein Gefühl ... Es ist das Bild oben im Beitrag herausgekommen, kein Kunstwerk, aber das Dokument eines besonderen Schritts.
Es ist, als seien Dämme gebrochen - und ich kann im Moment meine Finger nicht stillhalten. Habe mir Stunden von der Arbeit weg gestohlen, die ich "Fortbildung" nenne. Am liebsten mag ich nicht schlafen, möchte einen Tag mit 300 Stunden, um mich in Kunst zu versenken und selbst auszuprobieren, was da aus mir herauskommt. Ich darf nur nicht daran denken, dass man manchmal ein halbes Jahrhundert braucht für eine klitzekleine Entdeckung, die so vielen anderen Menschen absolut selbstverständlich ist. Meine Hochachtung vor kleinen Kindern ist noch gewachsen - sie wissen so viel mehr über sich selbst und die Welt, als wir auch nur ahnen. Und manchmal geschieht so ein kleines Wunder, der Vorhang reißt an einer kleinen Stelle auf und wir können uns wieder selbst als Kind sehen und hören. Ob nicht auch das unbedingt zum Erwachsenwerden gehört: dass wir Raum lassen für dieses Kind? Es hat mir damals gesagt, Erwachsene, die bunte Geschichten in Krikelkrakel nicht verstünden, seien einfach nur blöd, aber Kinder, die sie erzählen, richtig. Zum Glück bin ich noch rechtzeitig darauf gestoßen, dass auch Erwachsene krikelkrakeln können!
Wenn ich nicht gerade male oder als Schriftstellerin keine Bücher schreibe, fertige ich übrigens aus alten Büchern und Papieren Schmuck an, auch nach Wunsch und auf Maß. Mehr Infos auf meiner Website und natürlich habe ich auch einen Shop.
Hallo,
AntwortenLöschenWenn man ihren Artikel liest fallen selbige Sünden ein; zu meiner Zeit hatte ein Kind absolut gleichen Anweisungen zu gehorchen, kein Krickelkrakel in den Heften oder Zeichenblock, auch Tusche kostet; dafür aber, fünfzig Mal in Schönschrift, keine Schmierereien mehr, bin Linkshänder; „Ich werde in Zukunft sauber schreiben“, das mit der rechten Hand. Gewiss die Bestrafung folgte, vorbestimmt!
Kurz sollte der Anfang sein, und doch, würde es keiner so gut verstehen; wie ich es kundtue…
Daher werden tausende ihre Geschichte im ähnlichen erlebt haben; sie ist gut dargestellt, geschrieben; ich habe nach, über dreißig Jahren wieder angefangen zu malen; da Politisch der Charakter der Demokratie der Staatsmacht fortkam. Ich male es könnte Kunst, Politik oder nur, das, vom Bild sein. Nun! Selbst wollte nie wieder ein Charakter malen. Alles in der Welt hat ein Charakter, wie auch immer er auffällt. Hintertragend und absurd jeglicher Vorstellung, welch Kern, wüst rumpraktiziere!
…ich male heute mit Aquarellfarbe, (Tusche), so als sei es in Öl gemalt.
Auch…kurz…
Schreiben kann man nur, wenn man dem Stottern erschreckend, abbruchreif war, die schwersten Wörter nicht aussprechen doch ausschreiben konnte, alles braucht seine Zeit, sich selbst überlegen sein. Ich Zweifel bis heute das die Grammatik, ein Rechtsanspruch, am Satzbau oder Aussprache… beteiligt misst. Wie gesagt es kommt auf dem Flow an; denn jeder Satz birgt sein Geheimnis, wie dass zustande gekommen sein. Intuition oder Aussage, verstehen oder in Frage stellen; denn, wer versteht schon des Malers Werk? Wer malt wie Chopin oder spielt wie Chagall? Die ist ein Antizyklisches Paradoxon.
Oder die Relativität des Nativ´s.
Es hat gutgetan, das zu schreiben… ich danke fürs zuhören,
Born
Ich danke herzlich für das Feedback, Born!
LöschenUnd kann immer wieder nur dazu ermuntern, sich zu trauen, wild zu experimentieren und einfach zu machen mit der Kunst. Zum Glück werden wir ja irgendwann erwachsen und müssen nicht mehr auf falsche und sogar schädliche Erziehungsmaßnahmen hören, sondern können unseren eigenen Weg suchen. Müssen keinem ähneln und uns auch nicht vergleichen - einfach sein.
Deshalb gefällt mir das asemische Schreiben wohl auch so sehr - man kann es einfach automatisch fließen lassen und schauen, was da entsteht. Und es muss keine Wortbedeutung haben. Jeder Betrachter liest seine eigenen Wahrnehmungen hinein.
Dankeschön für den Beitrag!
Petra
Wow Petra, was für eine Geschichte. Wie gut, dass es einen so guten Kinderarzt gab und wie gut, dass Google dir so viel Futter für deinen Wissensdurst geliefert hat.
AntwortenLöschenUnd vielen Dank für den Einblick in deine Geschichte und in die des asemischen Schreibens.
Danke Andrea, gern geschehen! Ich freu mich, wenn ich damit anstiften kann, wild herum zu experimentieren. Kunst hat so viel mit Spielen zu tun.
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