Lasst mich mit meinem Alter in Ruh!

Ich habe bei Facebook einen Artikel über das Alter kommentiert. Prompt sah ich mich in der Algorithmen-Endlos-Schleife gefangen, die mir "Lösungen" für mein Problem versprach. Immerhin keine Treppenlifte, aber Gruppen à la "ich bin 50, na und!", "Hippiebusse kaufen", "Mit grauen Haaren befreit auf die Straße gehen", "Grau aber vegan" oder all die Durchhalteparolen für "50+ und ich mach's trotzdem!" Ich bin jetzt mal ganz sauer. Mit gerade gefühlt 14 Jahren kann ich diesen Perfektionierungswahn nicht mehr ab!

Die Kleine ist noch total lebendig in mir. Nach vielen Umwegen mache ich nichts anderes als sie und ich weiß genau, warum sie ihre Farbkreiden in einer Glühbirnenschachtel sammelte und mit diesem "bunten Licht" die Geschichten malte und schrieb, die ihr Schmetterlinge und kleine Elfen zuflüsterten. Warum soll das Jahrzehnte später anders sein?

Ich verstehe nämlich nicht, wo das Problem liegt. Als gestern die Jugend im Abitursalter auf der Wiese zeltete und feierte, hatte ich all die Bilder im Kopf von unseren Abi-Feten, die sich so sehr ähnelten. Eigentlich waren wir damals viel wilder. Und dass das vor längerer Zeit war, bemerke ich allenfalls daran, dass ich heute nach einer Woche Durchfeiern nicht mehr so frisch wäre wie früher. Aber wenn mir nach Durchfeiern zumute ist, mache ich das. Steigende Lebenserfahrung führt vielleicht dazu, dass ich morgens im Spiegel schneller mein tatsächliches Tagesalter einschätzen kann: Heute ist es 14, morgen kann es 97 betragen. Ich springe aber auch schon mal an einem Tag quer durch die Jahrzehnte. Zugegeben, mit süßen Zwölf konnte ich das nicht, da schienen mir Erwachsene uralte Leute zu sein. Aber sagt mir doch bitte nicht dauernd, ich sei 50+ und müsse mich nun linksdrehend bewegen oder Nein sagen, nur um nach rechts zu kreiseln!

Das neue Nein, sich vorgeblich "selbst" zu leben und zu sich selbst zu finden, halte ich in den meisten Fällen für eine Attrappe von Beschwichtigungszeremonien, die direkt in einen milliardenschweren Wachstumsmarkt münden. Wir geben nämlich nur richtig Geld aus als "Alte", wenn wir nicht phlegmatisch in der Ecke sitzen, sondern wenn wir was tun für unseren Body, die Seele, die Zipperlein, die Selbstverwirklichung, die affengeilen Wünsche, die uns erst bewusst werden, wenn sie uns jemand einflüstert. Wieso kamen wir eigentlich Jahrzehnte bestens ohne Yoghurt mit 50+Milchsäuren und der Stellung des Grauen Panthers im Yoga aus - mit Menschen an unserer Seite, die 20, 30, 40 sind?

Und erzählt uns doch nicht, Grau sei "das neue Natürlich" - all die Supermodels, deren Fotos ihr da veröffentlicht und teilt, haben richtig tüchtig in den Friseur investiert! Oft sieht ihr Grau so fantastisch aus, weil zuerst chemisch die letzte noch verbliebene Farbe aus dem Haar gelöst wird, um dann die Koloration im Supertrend aufzunehmen! Schönes Silber oder einheitliches Weiß ist nämlich nicht allen älteren Menschen vergönnt. Ihr könnt mir bei Facebook zehnmal Selbsthilfegruppen um die Augen hauen, die im Kanon singen, dass graue Haare nicht älter machen und dass man mit 52 ruhig aussehen darf wie mit 52. Es ist einfach nicht wahr. Die Alterswirkung hängt nämlich extrem vom individuellen Teint ab, von der Glätte der Haut, den Augen. Ja, es kann heiß aussehen, wenn eine Frau mit einem Gesicht wie ein junges Mädchen violett angehauchtes Grau trägt. Ein Silberschopf über Babyhaut - ein echter Hingucker. Aber die hart arbeitende 52jährige Bauersfrau, der langes stahlgraues Haar unterm Kopftuch hervorquillt, sieht eben auch schon mal aus wie 60 damit. So ein Teint, egal wie er aussieht, kann nun mal mit Farben aufgepeppt werden.

Lasst uns "50+" doch einfach mal in Ruhe damit, was wir zu tun und zu lassen haben! Ich will nicht grau sein müssen, ich will nicht gefärbt sein müssen. Wenn ich morgen blaue Haare trage, dann tue ich das unabhängig von meinem Alter - und wenn ich zu Rot oder Grau wechsle, bitte auch. Es ist nämlich ganz alleine mein Ding, wie ich mich in diesem Körper wohlfühle - und ob ich damit andere störe oder nicht. Schaut weg, wenn's euch nicht passt! Erzählt mir bitte darum auch nicht von all euren Esstörungs-Sekten und Weltrettungsreligionen - die waren mir nämlich schon mit 16 suspekt, auch wenn ich zugeben muss, dass der Einfallsreichtum im turbokapitalistischen Zeitalter wirklich enorm ist. Lasst mich in Ruhe, wenn ich mich jünger machen will, als ich bin. Bleibt mir weg, wenn ich mal so richtig alt aussehe, so alt, wie ich es erst noch werden muss. Euer Lifestyle für Altersschubladen kann mich mal.

Es gibt wichtigere Probleme, die wir nur gemeinsam lösen können. Wenn ich z.B. ab 50+ auf eine jämmerliche medizinische Infrastruktur treffe, die mir richtig Angst für später macht, dann fußt die auf einem Versäumnis an sehr jungen Menschen. Sie resultiert aus der Fehlpolitik, die vergessen hat, dass eine ganze Generation in Rente gehen wird, aber das Bildungssystem sich nicht rechtzeitig um Nachwuchs gekümmert hat. Wir "Alten" (ich hasse dieses Wort) haben nämlich ein Problem hier in Frankreich, weil wir den Jungen nicht genügend Chancen einräumten, weil wir eine irre hohe Jugendarbeitslosigkeit haben, auch nach dem Studium. Wie auf anderen Ebenen auch ist es die Polarisierung einer Gesellschaft in künstlich entgegengesetzte Schubladen, die der Gesellschaft das Rückgrat zu brechen droht.

"50+" auf der einen Seite - "die Jugend von heute" auf der anderen. Natürlich hat jeder auch sehr eigene Bedürfnisse und darum trifft man sich ja auch unter Kumpels, in eigenen Kneipen oder Blogs. Alles gut und schön.

Aber hört auf, ständig Jugend und "zweite Jugend" gegeneinander auszuspielen. Wir kommen nur miteinander weiter. Ich will mit meiner blutjungen Friseurin weiter auf Augenhöhe über unschöne Graufarben ablästern können und über dämliche neue Trends auch. Wenn ich Schmuck kreiere, sag ich meinen Kundinnen doch auch nicht, sie sollten das Stück bitte einer 14jährigen überlassen oder erst ab 70+ tragen! Andersherum wird ein Schuh daraus: An jedem Hals erzählt so eine Kette andere Geschichten. Und eine Frau ist schön, wenn sie das selbst erkennen und annehmen kann und darum von innen leuchtet!

Aber weil ich heute gefühlt 14 bin, fällt mir ein: Wir hatten damals diese Schubladen auch schon!

Mit den Jeans war das ganz schlimm. Wer dazugehören wollte, trug eine echte Levis - denn dann sah man gleich, dass die Eltern genug springen lassen konnten. Die Dinger waren ultrateuer damals, viele haben zusätzlich gejobbt, um sich wenigstens eine zu leisten. Über die in Wranglers wurde müde abgelacht. Die waren billiger, ergo wurden sie als weniger schick deklariert. Die Kids, die sich nichts anderes leisten konnten oder tatsächlich davon überzeugt waren, redeten sich heraus mit Stil, mit Chic, mit Individualität. Von den Armen mit den No-Name-Jeans aus dem Versandhauskatalog mag ich gar nicht erst anfangen. Man nähte sich Karostoff unten an die Hosenbeine und malte mit Tintenkiller ins Blau, um sich progressiv und "anti" zu geben. Kritik der Habenichtse, die ganz schnell zum neuen hippen Trend wurde. Irgendwann gab es auch diese Jeans fertig und teuer.

Ich denke, in den 1970ern ist die Welt in etwas gekippt, das uns heute fast die Luft zum Atmen abdreht. Vorbei die Hippiezeiten, als man aus Trash und Second-Hand-Klamotten Fantasievolles selbst machte. Ohne es zu merken, haben wir den Markenwahn geboren, das Schubladeln nach Geld und später nach Alter. Das heute ein Marketingschubladeln der Algorithmen geworden ist, die umso besser funktionieren, je kleiner und genauer sie geschachtelt sind. Die 56jährige Frau, die ein Rollenklischeee der Massen lebt, steckt genauso in der Zielkundinnenschublade wie die 56jährige, die sich ein neues Leben aufbaut oder die 56jährige, die sich vermeintlich allen Hypes verweigert. Selbst die Weltrettungsdiäten und Protestbewegungen sind Teil einer wohlkalkulierten Warenwelt. Der Witz ist fast eine Rache an unserem Verhalten: Die Frau, die sich der Massenrolle verweigert und sich frei und individuell wähnt, ist das sehr viel profitablere Zielpublikum!

Und vermutlich ist es das, was mir so auf den Senkel geht, wenn mal wieder schlaue Artikelchen erscheinen: wozu ich Ja oder Nein sagen darf, weil ich 50+ bin. Ich ende unweigerlich in jener Warenschleife, in der ich preisgebe, ob ich das perfekte Opfer für Treppenlifte, Haartönungen oder überteuerte Schamanenkurse bin.

Ja, dieser Beitrag ist ein Rant, ungerecht, überspitzt, vielleicht sogar in manchen Argumentationen daneben. Aber er hat gut getan.

Weil ich meine Mitmenschen nicht ständig nach ihrem Alter beurteilen oder ansprechen will, sondern als Menschen. Ich fühle mich urig wohl an den Wochenendtafeln im Elsass, wenn alle Generationen gemeinsam beim Flammkuchenessen sitzen. Da weint das Baby, die Kleinsten sitzen unterm Tisch und spielen zwischen den Beinen mit Autos. Zum ersten Mal verliebte Teenies mit PartnerIn, Eltern aller Altersstufen, Großmütter, Großväter ... Und sie quatschen herrlich wirr und laut quer über den Tisch, quer über Altersgrenzen hinweg und genauo mit den Nebenleuten. Sie haben noch gemeinsame Themen. Die wären bei Facebook vielleicht nicht interessant genug, manchmal ist es nur Geplänkel oder Scherzen.

Aber es hat sich etwas auch an diesen Tafeln verändert. Manche sitzen da und starren gebannt ins Smartphone. Chatten bei Facebook. Und verlernen vielleicht etwas von dieser Schönheit des Lebens, wenn das Enkelchen seiner Oma die Welt erklärt oder wenn die 50jährige mit der 14jährigen herumkichert. Vielleicht bin ich deshalb heute 14 Jahre alt?

4 Kommentare:

  1. I love you for this one! Heiliger Himmel, könnte direkt aus mir rausgesprudelt sein. Danke!

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    1. Ich danke dir fürs Feedback hier und das Teilen bei FB, liebe Alice!

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  2. Schon gesehen: http://pyrolim.de/pyrocontra/2017/das-elend-des-seniorenkaffees/ Da kommt dieser Blotpost drin vor.
    LG, Susanne

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    1. Danke für den Hinweis, köstlich, dein Beitrag! Und das mit dem Seniorenkaffee ist richtig gruslig. Da bin ich richtig glücklich, dass ich in meinem Alter noch zur beruflichen Fortbildung eingeladen werde!
      LG, Petra

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