Babylon, zu Tisch!

Erst vor wenigen Wochen habe ich aufgrund einer deutschen Studie mit großem Erstaunen festgestellt, dass ich in meinem Geburtsland ein "Mensch mit Migrationshintergrund" bin, "weil mindestens ein Elternteil nach 1950 ins Land kam". Ich könnte mich jetzt theoretisch als Äffchen an deutsche Talkshows verkaufen und richtig Quote machen, weil ich obendrein in Frankreich eine echte Immigrée bin. Einfach so eingewandert, ohne zu fragen.

Komisches Gefühl, so ein Migrationshintergrund. Ich ertappe mich, wie ich mich öfter unvermutet umdrehe, weil ich glaube, ihn so überlisten zu können. Ich bevorzuge neuerdings die Mittagssonne, weil man da kleinere Schatten schlägt. So ein Hintergrund kann lästig sein, wenn nur andere mit dem Finger darauf zeigen können und man selbst nichts sieht. Ein halbes Jahrhundert weile ich nun schon auf dieser Erde und dachte bisher, es sei völlig normal, dass sich meine Vorfahren wild durcheinander verliebten, kloppten, umarmten oder verjagten. Der Großteil ging sogar freiwillig, ratzfatz aufs Schiff, und vielleicht sammelten deshalb meine Eltern alte Koffer, obwohl sie so gut wie nie verreisten. Von solchen Familien soll man Deformationen bekommen, zwischen allen Stühlen sitzen, heißt es. Chancengleichheit gibt es nicht. Man kommt entweder in die Psychiatrie oder im deutschen Bildungssystem um, wer das überlebt, wird Gegenstand bei Schnurrbartträger Sarrazin oder Schriftsteller.

Ich hatte also Glück. Meine Migrantenmutter keifte über die deutsche Grundschule, weil ich dort mein gestochen scharfes Hochdeutsch gegen breitestes Badisch einwechselte. Ein Gang durch meine Küche heute bewies mir allerdings, dass ich doch nachhaltig einen an der Waffel habe. Man deformiert in der Tat schon bei den Grundbedürfnissen des Magens. Nach dem letzten Einkauf könnte man meinen, ich wolle die Bauarbeiter eines gewissen orientalischen Turmprojekts beherbergen. "Rote Linsen" stehen neben handgesammeltem "Thym". In der Kühltruhe schmiegt sich französisches "Poulet" an echt polnische "Kasza". Das Gewürz "Hmeli-suneli" habe ich gleich zweimal gekauft, wegen des schönen Namens und des exotischen Geschmacks. Aber weil das eine Tütchen für meine englische Freundin ist, hab ich es mit Angelsachsensprache beklebt.

Ich weiß bis heute nicht, wie sich meine "Baies roses" auf Deutsch übersetzen ließen - solange sie auf norwegischem Lachs oder estnischem Zander schmecken, ist mir das auch herzlich egal. Aber ich streue ja auch in meinen Reis aus der Camargue "Poudre à Colombo" und kaufe grundsätzlich in jedem Land immer nur "Pasta". Trotzdem ist etwas plötzlich anders in meiner Küche. Ich beschrifte mein babylonisches Genussreich auch noch in seltsamen Buchstaben! Steht da doch tatsächlich eine Dose mit der Aufschrift - vom Klang her gelesen: "Priprawa dlja warki pelmenij". Für die armen Tröpfe unter meinen Gästen, die immer nur in einem Land festklebten - das ist das Gewürz, das man in die Brühe von russischen Maultaschen streut. Oder waren es Ravioli? Egal. Es gibt auch Essen mit Migrationshintergrund. Nudelteig mit Füllung etwa, oder Sauerkraut oder Pasteten. Jeder deklariert es zu seiner Nationalspeise und viele Nationen kochen es. Manche sogar mit Reinheitsgebot. Pardon, ich komme vom Thema ab. Diesen Handlungsstrang überlassen wir mal dem Verfassungsschutz.

Meine Küche jedenfalls ist schlauer als ich. Sie zeigt mir, dass ich mal wieder heimlich eine Sprache lerne. So fing das mit dem Französischen auch an, bei du vin, du pain et du boursin (gesprochen: du weng, dü peng edü bursäng). Natürlich lerne ich nicht schon wieder eine neue Sprache, langsam müsste ich ja genug haben und angeblich lernt man im Alter auch nichts mehr dazu. Außerdem habe ich weder Zeit noch Energie dazu. Nein, ich kann auch nicht noch in Lehrbücher schauen. Russische Filme mit Untertiteln schaue ich nur aus Versehen an. Kann ich was dafür, wenn plötzlich so viele gezeigt werden? Natürlich werde ich keine Maultaschen kochen, ich doch nicht! Das Schwäbische ist die einzige Sprache, die ich garantiert nie mehr lernen werde. In meiner Studentenzeit mischte ich bei einer Tübinger Petition mit, die Professoren verpflichten sollte, im Unterricht endlich halbwegs Hochdeutsch zu reden. Wegen der Kinder mit Migrationshintergrund. Früher sagte man dazu noch Hamburger, Frankfurter oder Berliner. Was soll ich sagen: Die Petition scheiterte, ich machte es bald meinen Vorfahren nach - ich packte die Koffer.

Zum Sprachenlernen habe ich keine Zeit. Und keinen Kopf. Und weil ich keinen Kopf habe, merke ich gar nicht, dass ich mir einfachste Lesetexte in komischen Buchstaben hinlege. Nijinskys Tagebücher im Original. Ich bilde mir ein, wenn ich die so lange lese, bis ich sie verstehe, dann muss ich mir keine Zeit zum Sprachenlernen nehmen. Ob ich in jener ominösen Brühe Buchstabennudeln kochen sollte? Und anschließend diese Buchstaben mit dem deutschen Namen "Russisch Brot" zum Dessert? Wenn Liebe durch den Magen geht, müsste man doch auch Fremdsprachen einfach verdauen können? Nein, nein, ich lerne kein Russisch. Ich habe gar keine Zeit zum Sprachenlernen! Und keinen Kopf!

Das komische Ding, das heimlich in der Küche im Wörterbuch blättert, was "poulet" auf Russisch heißt, das bin nicht ich. Ich schwöre. Davon wüsste ich etwas. Schließlich bin ich eine vielbeschäftigte Frau. Ich glaube ja, es ist mein Migrationshintergrund. Weil ich immer in der prallen Mittagssonne spazierengehe, hat er sich wahrscheinlich von mir gelöst. Und führt jetzt ein jämmerliches Schattendasein in meinem Gewürzregal. Dort muss es ihm irgendwie langweilig geworden sein, so ohne Koffer in der Hand und Schiffspassage. Der Kerl ist echt zu bedauern! Dreht grünes Zeug in der Hand, zieht es mir an der Nase vorbei und schimpft: "Du wirst dir das alles merken, du sagst das jetzt nach! Sprich mit mir - aneth, Dill, koperek, ukrop!" - "Und wie, verdammt noch mal, soll ich das meiner englischen Freundin erzählen?", brülle ich zurück und renne, so schnell ich kann, davon.

Lassen Sie sich nie einen Migrationshintergrund aufschwatzen. Die Dinger sind unhandlich, frech, lichtscheu und eigentlich wirklich nur in deutschen Talkshows zu gebrauchen. Außerdem habe ich Angst, mein Migrationshintergrund könnte beim nächsten Waschen eingehen. Oder sich zu sehr in den Vordergrund drängen.

4 Kommentare:

  1. Hach, Du sprichst mir aus der Seele! Wir sind doch so viele!!! Von überall her, und man merkt es uns weder an der Sprache noch am (verheirateten) Namen an. Anonyme Migranten aller Länder, bleibt mal schön selbstbewusst! Schon die alten Römer ließen vor 2000 Jahren ihren Samen im Rheinland, in England und wer weiß wo Wir haben doch alle Migrationshintergrund.
    Schön, dass das endlich in der Küche ankommt!

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  2. Mein Name ist auch nicht das, wonach er ausschaut ;-)
    Das Feine an der ganzen Sache ist ja, dass auch in jedem Neonazi eine kleine Lucy aus Afrika steckt.

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  3. Ich bin nach diesem Beitrag übrigens mehrfach gefragt worden, warum ich keine Kolumnen für Zeitungen schreibe. Ganz einfach - als ich mich das letzte Mal in meinem Leben darum beworben habe, wurden mir Buy-out-Verträge und tierisch miese Honorare angeboten. Es lohnte den Formularaufwand nicht ;-)

    Allerdings kam mir nun die Idee, dass ich durchaus ein E-Book aus den besten Beiträgen basteln könnte. Zeitungen liest ja eh fast keiner mehr...

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  4. Super Idee mit dem Ebook! Hab ähnlich frustrierende Erfahrungen gemacht - da fragt z.B. eine renommierte Frauenzeitschrift zu einem Thema meiner Bücher für ein Interveiw an. Eine Stunde - ohne Honorar - "das ist ja Werbung für Sie". Und dann: in einer der nächsten Ausgabe ein Artikel zu dem Thema, ich werde in einem Satz zitiert, mein Buch nicht mal erwähnt.
    Nicht die einzige Erfahrung dieser Art.
    Also, mach Dein Ebook und vermarkte es, ich werde es kaufen (kindle)

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