Fröhliches Russensammeln
Eigentlich habe ich nur eine halbe Normseite Platz, um Laien zu zeigen, wie faszinierend die Geschichte zwischen Badnern und Russen sein kann - und welche berühmten Russen schon in Baden-Baden weilten. Ich könnte es mir einfach machen und die ewig gleichen Namen von anderen abschreiben. Aber das ist ja langweilig.
Also war heute fröhliches Russensammeln angesagt. Aus grausigen historischen Vorlagen und Veröffentlichungen, deren "Genre" ich gern mit dem Begriff "Chronistenkleinholz" bezeichne, musste ich mir ein ungefähres Bild verschaffen. Nun habe ich vier DIN-A-4-Seiten handschriftlich eng mit Namen bekritzelt, die jeder Autor anders falsch buchstabiert (sogar innerhalb eines Buchs unterschiedlich) und die dank unzulänglicher Umschriften auch in mehreren Versionen geschrieben werden können. Ich sitze also über Wikipedia und Google und versuche, zu den mir unbekannten Herrschaften die im Deutschen geläufigste Schreibweise zu finden. Die ganz Bekannten kenne ich zum Glück selbst. Manche erkenne ich dank des russischen Originals. Erst nach der Namenskorrektur kann ich überhaupt recherchieren, wer das genau war. Auf Chronisten kann ich mich nicht verlassen.
Ich fürchtete heute morgen also, vor einer sehr langweiligen und stupiden Arbeit zu sitzen. Aber man darf wahrscheinlich keinen Schriftstellerblick haben, um sich effektiv zu langweilen. Mein Handgeschriebenes strotzt vor Ausrufezeichen und seltsamen Kringeln - meinen persönlichen Geheimkürzeln für "Was für eine Story! Was für Verbindungen!" Drei Ausrufezeichen bedeuten: "Wenn du das nicht näher recherchierst, gehört dir ein Tritt in den Hintern!"
Wenn ich das Thema "Russen in Baden-Baden" bei ganz normalen Leuten anspreche, bekomme ich immer die gleichen Stereotypen zu hören. Neureiche, Superreiche, vielleicht noch ein paar Musiker, die fürs Festspielhaus anreisen, und ja, die kämen halt, seit der Eiserne Vorhang gefallen ist. Touristen, Villenkäufer, Kurgäste. Die meisten sind erstaunt, wenn ich ihnen erzähle, dass die Russen nun schon seit 200 Jahren kommen und nur die beiden Weltkriege unsäglich diese engen kulturellen Beziehungen unterbrachen.
So sind auch die ersten Namen auf meiner Liste absolut kurios. Meist handelt es sich um Damen von äußerst blauem Geblüt. Wer weiß, dass die Zarin Elisabeth einmal Prinzessin Luise von Baden hieß? Die Großfürstin Elena Pavlovna Romanova eine württembergische Prinzessin war oder Prinzessin Cäcilie von Baden einen Zarenbruder heiratete? Umgekehrt übrigens genauso, badische und württembergische Adlige verheirateten sich mit Russinnen. Der politische Heiratsverkehr im 19. Jahrhundert war so intensiv verbandelt, dass Großfürst Nikolaj Romanov seine große Liebe, Prinzessin Viktoria von Baden, wegen allzu nahem Verwandtschaftsgrad nicht heiraten durfte. Sie wurde Königin von Schweden, er Opfer der Revolution.
Tja, wer hätte das gedacht! Eine Frau ist an allem schuld! Die Badnerinnen haben nach einer gewissen Zeit in Petersburg ihre russischen Ehemänner samt Gefolge angeschleppt, ihnen ihre Heimatstadt derart schmackhaft gemacht, dass der Hofstaat, der im Sommer anreiste, immer größer wurde. Und noch eine Meinung muss revidiert werden: die von den einzig überlieferten berühmten Männern und dem patriarchalischen System. Das herrschte zu jener Zeit zwar überall, aber plötzlich stieß ich auf ein ganzes Nest russischer Frauen. Sie reisten allein, mit anderen Frauen, waren hochgebildet und weltgewandt. Da taucht die Muse und Gönnerin von Nikolaj Gogol ebenso auf wie die Schwägerin eines berüchtigten Mannes, der ganz Europa für Zar Nikolaus I. mit einem Spitzelsystem überziehen ließ.
Hach, und diese Schriftsteller! Zehn habe ich bisher gezählt, vier erreichten die allerhöchsten Weihen der Weltliteratur. Herrlich, wie sarkastisch und messerscharf Anna Dostojewskaja über ihren spielsüchtigen Mann und die russische Kolonie in Baden-Baden schreibt. Und wer glaubt, Lev Tolstoi sei schon immer der missionarische Asket und Weltverbesserer gewesen, als der er sich später stilisierte, der sollte einmal schauen, was er in der badischen Kurstadt angerichtet hat. Ohne Rand und Band, der Mann, gezockt bis zum Umfallen, von den ehrenrührigen Schulden musste ihn Kollege Turgenjew auslösen! Der, auf den sie ein wenig verächtlich herabschielten, veröffentlichte währenddessen fleißig: Die ersten Kapitel von Nikolaj Gogols "Die toten Seelen" und seine Erzählung "Taras Bulba" erschienen zuerst in Baden-Baden.
Die Witwe des reichsten Mannes Europas beklagt sich über ihr karges Jahreseinkommen von 200.000 Silberrubeln; ein deutscher Schriftsteller macht sein Geld, indem er seine Villa an die Superreichen vermietet. Einen schimpfen sie den "Hofmörder" und einer sengt wie die wilde Sau in seiner Troika die Lichtentaler Allee entlang. Damals gab es offensichtlich noch genügend Schnee. Der kauft seine Villa einem Amerikaner namens Charles Astor ab. Das war im 19. Jahrhundert und später - heute ist in der Allee jeglicher Verkehr streng untersagt und auch ein Neureicher oder Großfürst bekäme keine Ausnahmegenehmigung mehr.
Vier Seiten pralles, saftiges, aufregendes Leben. Faszinierende Menschen, die ganze europäische Geschichte in einer einzigen Stadt. Die ist zum Glück in ihrer Bausubstanz noch so gut erhalten, dass man auf den Spuren jener Leute heute noch wandeln kann. Und ich muss das jetzt alles auf einer halben Normseite aussagen. Mein einziger Trost: Ich werde über diese Geschichten noch ein paar Kilometer schreiben dürfen. Beim nächsten Regenwetter trifft man mich in einer gewissen Stadt in der Bibliothek und in den Archiven. Wetten, dass ich darin keinen Staub ansetzen werde? Im Gegenteil, von so manchem Schatz ist tüchtig der Staub wegzublasen!
Wo heute eine Luxusimmobilienagentur untergebracht ist, suchte einst Fjodor Dostojewskij in ärmlicher Bleibe nach den letzten Kleidungsstücken, die er versetzen konnte (im ersten Stock). |
Also war heute fröhliches Russensammeln angesagt. Aus grausigen historischen Vorlagen und Veröffentlichungen, deren "Genre" ich gern mit dem Begriff "Chronistenkleinholz" bezeichne, musste ich mir ein ungefähres Bild verschaffen. Nun habe ich vier DIN-A-4-Seiten handschriftlich eng mit Namen bekritzelt, die jeder Autor anders falsch buchstabiert (sogar innerhalb eines Buchs unterschiedlich) und die dank unzulänglicher Umschriften auch in mehreren Versionen geschrieben werden können. Ich sitze also über Wikipedia und Google und versuche, zu den mir unbekannten Herrschaften die im Deutschen geläufigste Schreibweise zu finden. Die ganz Bekannten kenne ich zum Glück selbst. Manche erkenne ich dank des russischen Originals. Erst nach der Namenskorrektur kann ich überhaupt recherchieren, wer das genau war. Auf Chronisten kann ich mich nicht verlassen.
Ich fürchtete heute morgen also, vor einer sehr langweiligen und stupiden Arbeit zu sitzen. Aber man darf wahrscheinlich keinen Schriftstellerblick haben, um sich effektiv zu langweilen. Mein Handgeschriebenes strotzt vor Ausrufezeichen und seltsamen Kringeln - meinen persönlichen Geheimkürzeln für "Was für eine Story! Was für Verbindungen!" Drei Ausrufezeichen bedeuten: "Wenn du das nicht näher recherchierst, gehört dir ein Tritt in den Hintern!"
Wenn ich das Thema "Russen in Baden-Baden" bei ganz normalen Leuten anspreche, bekomme ich immer die gleichen Stereotypen zu hören. Neureiche, Superreiche, vielleicht noch ein paar Musiker, die fürs Festspielhaus anreisen, und ja, die kämen halt, seit der Eiserne Vorhang gefallen ist. Touristen, Villenkäufer, Kurgäste. Die meisten sind erstaunt, wenn ich ihnen erzähle, dass die Russen nun schon seit 200 Jahren kommen und nur die beiden Weltkriege unsäglich diese engen kulturellen Beziehungen unterbrachen.
So sind auch die ersten Namen auf meiner Liste absolut kurios. Meist handelt es sich um Damen von äußerst blauem Geblüt. Wer weiß, dass die Zarin Elisabeth einmal Prinzessin Luise von Baden hieß? Die Großfürstin Elena Pavlovna Romanova eine württembergische Prinzessin war oder Prinzessin Cäcilie von Baden einen Zarenbruder heiratete? Umgekehrt übrigens genauso, badische und württembergische Adlige verheirateten sich mit Russinnen. Der politische Heiratsverkehr im 19. Jahrhundert war so intensiv verbandelt, dass Großfürst Nikolaj Romanov seine große Liebe, Prinzessin Viktoria von Baden, wegen allzu nahem Verwandtschaftsgrad nicht heiraten durfte. Sie wurde Königin von Schweden, er Opfer der Revolution.
Tja, wer hätte das gedacht! Eine Frau ist an allem schuld! Die Badnerinnen haben nach einer gewissen Zeit in Petersburg ihre russischen Ehemänner samt Gefolge angeschleppt, ihnen ihre Heimatstadt derart schmackhaft gemacht, dass der Hofstaat, der im Sommer anreiste, immer größer wurde. Und noch eine Meinung muss revidiert werden: die von den einzig überlieferten berühmten Männern und dem patriarchalischen System. Das herrschte zu jener Zeit zwar überall, aber plötzlich stieß ich auf ein ganzes Nest russischer Frauen. Sie reisten allein, mit anderen Frauen, waren hochgebildet und weltgewandt. Da taucht die Muse und Gönnerin von Nikolaj Gogol ebenso auf wie die Schwägerin eines berüchtigten Mannes, der ganz Europa für Zar Nikolaus I. mit einem Spitzelsystem überziehen ließ.
Hach, und diese Schriftsteller! Zehn habe ich bisher gezählt, vier erreichten die allerhöchsten Weihen der Weltliteratur. Herrlich, wie sarkastisch und messerscharf Anna Dostojewskaja über ihren spielsüchtigen Mann und die russische Kolonie in Baden-Baden schreibt. Und wer glaubt, Lev Tolstoi sei schon immer der missionarische Asket und Weltverbesserer gewesen, als der er sich später stilisierte, der sollte einmal schauen, was er in der badischen Kurstadt angerichtet hat. Ohne Rand und Band, der Mann, gezockt bis zum Umfallen, von den ehrenrührigen Schulden musste ihn Kollege Turgenjew auslösen! Der, auf den sie ein wenig verächtlich herabschielten, veröffentlichte währenddessen fleißig: Die ersten Kapitel von Nikolaj Gogols "Die toten Seelen" und seine Erzählung "Taras Bulba" erschienen zuerst in Baden-Baden.
Die Witwe des reichsten Mannes Europas beklagt sich über ihr karges Jahreseinkommen von 200.000 Silberrubeln; ein deutscher Schriftsteller macht sein Geld, indem er seine Villa an die Superreichen vermietet. Einen schimpfen sie den "Hofmörder" und einer sengt wie die wilde Sau in seiner Troika die Lichtentaler Allee entlang. Damals gab es offensichtlich noch genügend Schnee. Der kauft seine Villa einem Amerikaner namens Charles Astor ab. Das war im 19. Jahrhundert und später - heute ist in der Allee jeglicher Verkehr streng untersagt und auch ein Neureicher oder Großfürst bekäme keine Ausnahmegenehmigung mehr.
Vier Seiten pralles, saftiges, aufregendes Leben. Faszinierende Menschen, die ganze europäische Geschichte in einer einzigen Stadt. Die ist zum Glück in ihrer Bausubstanz noch so gut erhalten, dass man auf den Spuren jener Leute heute noch wandeln kann. Und ich muss das jetzt alles auf einer halben Normseite aussagen. Mein einziger Trost: Ich werde über diese Geschichten noch ein paar Kilometer schreiben dürfen. Beim nächsten Regenwetter trifft man mich in einer gewissen Stadt in der Bibliothek und in den Archiven. Wetten, dass ich darin keinen Staub ansetzen werde? Im Gegenteil, von so manchem Schatz ist tüchtig der Staub wegzublasen!
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