Ostwärts

Mit einem Bein stehe ich derzeit in Russland, was meine Arbeit betrifft. Und nun habe ich mich auch ganz hochoffiziell (und unwahrscheinlich glücklich) für den Roman entschieden, den ich so viele Jahre zu verhindern suchte. Da stehe ich jetzt mit einem Bein in Polen (Arbeitstitel "mein Polenroman" - Notiz: Wie viele Beine hat eigentlich ein Schriftsteller?). Kein Wunder, dass viele verloren geglaubte Erinnerungen wieder hochkommen und ich in Gedanken intensiv nach Osten reise.

Als ich in den Neunzigern in Polen lebte, gab es noch kein Internet. Es gab nicht einmal richtig Telefon. Das funktionierte nämlich nur bei gutem Wetter, wenn die Telefongesellschaft zufällig gute Laune hatte, oder wenn niemand die Kabel ausgegraben hatte, um sie gegen Wodka einzutauschen. Klingt wie ein Klischee, aber wo es bittere Armut gibt, sind Kupferkabel manchmal überlebenswichtiges Zahlungsmittel. Es gab dann irgendwann diese ultrateuren, ultraschweren "Autotelefone", wahre Monster mit Riesenantenne, die man im Zimmer so lange von einer Ecke in die andere trug, bis der Himmel entschied, dass die Funkfrequenzen durchkamen.

Umso verrückter ist es für mich, dass ich heute im Internet plötzlich all das finde, was damals in Warschau nur per Überlieferung existierte - oder auf ganz altmodischen Medien. Ich bekam von Freunden eine CD geschenkt, die wie Gold gehandelt wurde und auch ganz schnell nicht mehr zu haben war. Kult, obwohl der Kult längst einer anderen Generation angehörte.

Es war ein Album mit dem nichtssagenden Titel "Live" und dem dramatischen Gesicht von Ewa Demarczyk auf dem Cover, jener Sängerin und Schauspielerin, die nur in Schwarz auftrat, mit langem schwarzen Haar, mit tragisch schwarz geschminkten Augen. "Schwarzer Engel" nannte man sie - und sie kam mir vor wie eine Mischung aus Juliette Gréco und Gisela Elsner. Nachträglich erschreckend, wie nah ihr diese Assoziationen kamen. Das Album ist eine Liveaufnahme eines ihrer letzten Konzerte im Jüdischen Theater in Warschau 1979 - und es ist eine meiner Lieblings-CDs überhaupt.

Wer die große Zeit der Krakauer Kleinkunstbühne "Piwnica pod Baranami" erlebt hat, verbindet mit Ewa Demarczyks Musik nicht nur tiefe Emotionen, sondern auch ein Gefühl des inneren Widerstands in einem zunehmend lebensfeindlichen System. Die Piwnica war einer dieser Anachronismen des Kommunismus - hier trafen sich die Intellektuellen Polens, traten die Künstler auf, die nicht unbedingt systemkonform waren. Hier überlebte, was die Machthaber sonst auszurotten suchten. Hier überlebte auch der Widerstand. Ewa Demarczyk war eine von ihnen.

Auf tragische Weise verschwand sie dann plötzlich von der Bildfläche. Meines Wissens gab sie ihr letztes großes Konzert 1980, dann sah man sie nur noch sehr sporadisch, wobei sie 2000 bis 2003 verschiedene Preise für ihre Kunst bekam. Freunde, die sie erlebt hatten, erzählten mir von Alkohol und Drogen, von Depressionen. Es hieß, ihre Verzweiflung habe auch mit dem politischen System zu tun gehabt. Wie viel davon Mythos ist, wird man kaum mehr erfahren. In der Tat stellte Jaruzelski 1981 Polen unter Kriegsrecht. Aber Ewa Demarczyk ist auch eine Künstlerin, die, wie man so schön sagt, an beiden Enden der Kerze brennt. Wer ihre Aufführungen gesehen hat, weiß, dass sie ihre Lieder auf der Bühne lebte.

Schade, dass sie so in der Versenkung verschwunden ist. Denn meiner Meinung nach ist sie eine der ganz großen europäischen - und nicht nur polnischen - Chansonneusen und Liedsängerinnen. Sie hat viele internationale literarische Texte vertont, hat sie auf Polnisch, Deutsch, Französisch und Spanisch gesungen. Sie hätte eine große internationale Karriere machen können, sie trat auch in Paris oder New York einmal auf, aber sie verschwand eben auch hinter dem damaligen eisernen Vorhang.
Was ich mir damals in Polen sehnlichst gewünscht habe - sie einmal zu sehen - ist heute dank youtube möglich.

Drei Stücke möchte ich von ihr vorstellen. Die ersten beiden Ausschnitte stammen aus ihrer "Hoch-Zeit", dem Sprecher am Ende zufolge ist der letzte auch von ihrem letzten Auftritt. Obwohl sie hier schon gezeichnet ist von dem, was sie erlebte, obwohl sie den Text nicht mehr ganz singt - ist die Präsenz ungebrochen.

Das erste Lied "Tomaszów" - nach einem Gedicht von Julian Tuwim - rührte Generationen von Polen zu Tränen und zum Träumen. Mir geht es nicht anders, egal, wie oft ich es höre:


Und dann per Link aus der gleichen Zeit die Aufnahme eines meiner Lieblingslieder von ihr: "Rebeka".
Rebeka ist ein alter Schlager und Tango (nicht zu vergleichen mit dem, was wir unter Schlager verstehen) aus der Vorkriegszeit, als die jüdische Kultur in Polen noch selbstverständlich und lebendig war. Zum letzten Mal war er 1932 aufgenommen worden, später verboten und dann nach dem Krieg wiederentdeckt. Ewa Demarczyks Version wurde legendär. So viele widersprüchliche starke Emotionen in einem einzigen Lied sind kaum auszuhalten...

Die dritte Aufnahme zeigt sie bei ihrem wahrscheinlich letzten Auftritt mit dem Lied "Cyganka", der Text stammt von Ossip Mandelstam. Die alte Version, bei der sie ihn auch wirklich ganz singt, gibt es ebenfalls dort.
Wer Appetit bekommen hat, findet unter dem Suchbegriff Ewa Demarczyk bei youtube jede Menge Originalaufnahmen - und auch das Album "Live" soll über die Website der Plattengesellschaft wieder zu beziehen sein.

3 Kommentare:

  1. Weiß man, was aus der Dame geworden ist? Ihre traurigen Augen machen mich ganz betreten!

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  2. Tja, jueb,
    es ist auch traurig, was für eine große Künstlerin der Welt entging, als sie sich so extrem zurückzog. Ich habe versucht, auch auf polnischen Seiten zu recherchieren, aber überall das gleiche Schweigen über letzte Auftritte. Sie lebt noch, ist inzwischen 68 Jahre alt. 2000 hat sie einen hohen polnischen Staatsorden verliehen bekommen, 2005 eine der größten Auszeichnungen für Kunst - aber es ist nicht einmal herauszufinden, ob sie persönlich bei der Verleihung war.
    Schade - aber ihre Musik ist zeitlos...
    Herzlichst,
    Petra

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  3. Ja, ich glaube, mir gefällt sie auch :-)

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