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31. Juli 2019

Die neue Kollektion krabbelt herum!

Wer mir auf Instagram folgt, wird es bereits mitbekommen haben: Im Atelier Tetebrec fertige ich inzwischen nicht nur Schmuck (oder male Bilder). Die Idee mit meiner Käferserie zum Artenschutz, die ich heimlich still und leise nur für mich und womöglich eine Ausstellung in der Zukunft fertige, hat sozusagen Kleine bekommen: Blumen und Wildkräuter, Schmetterlinge, Libellen - die in der Art von Herbarien oder Insektensammlungen hinter Glas montiert werden.



Die Materialien: immer wieder natürlich Papier unterschiedlicher Sorten. Aber auch recycelte Fundstücke. Da kann vom Plastikmüll, den ich in der Natur gefunden habe, bis hin zu altem Geschenkband und neuen feinsten Glasperlen alles dabei sein. Es gibt eine bunte Flicken-Überraschungskiste, aus der mich Material regelrecht anschreit, es möchte jetzt zu dem oder dem Tier werden. Ziemlich aufwändig das Ganze, wie aufwändig - davon bin ich selbst überrascht, aber es macht riesig Spaß. So genau habe ich selten Blumen und Pflanzen studiert, mit Zeichnungen und Fotos - und einem Herbarium, in dem ich sie einklebe, um die natürlichen Proportionen zu erinnern. Also auch eine sehr meditative Vorarbeit, die wunderschön ist.



Ein kleiner Nebeneffekt ist, dass ich entweder anders fokussiere oder die Blüten im Atelier langsam die Protagonisten anziehen. Gestern umschwirrte mich eine Libelle im Zimmer, der ein oder andere Käfer krabbelt über den Schreibtisch und im Garten gibt es wunderschöne Schmetterlinge.



Anders als beim Schmuck sind diese kleinen "Papierskulpturen" empfindlich gegen Feuchtigkeit und dürfen darum nicht in den Regen. So kam ich auf die Idee, sie in Rahmen mit einer gewissen Tiefe unterzubringen. Im Winter werden sie über die dunkle Jahreszeit hinwegtrösten!



Premiere in der Öffentlichkeit ist am 15.08.2019 auf dem "Regionalmarkt" des Maison Rurale im elsässischen (nicht im bayrischen!) Kutzenhausen. Regionalmarkt sag ich mal flapsig, weil der wahre Name ein Bandwurm ist: Marché du terroir, de l’art et de l’artisanat et brocante des brodeuses - oder auf Deutsch nicht minder lang: Markt für regionale Produkte, Kunst und Handwerk, Trödelmarkt der Stickerinnen.



Das Maison Rurale habe ich im Blog bereits vorgestellt, es ist ein restaurierter Komplex eines Bauernhofs mitten im Ort und Kulturerbezentrum. Um 10 Uhr geht es los, der Tag ist Feiertag in Frankreich. Der Eintritt für den Markt ist frei, die Sonderausstellung (Bier im Elsass) und Museum kosten Eintritt, lohnen sich aber dicke! Und für Verpflegung ist außerdem gesorgt. Und weil es so viele feine Sächelchen gibt, möglichst viel Geld mitnehmen! Wie üblich bei solchen offenen Märkten werden nämlich meist keine Karten oder Schecks angenommen.



Ausführliche Infos gibt es auf Französisch hier - inklusive der Liste der TeilnehmerInnen. Bei der deutschen Version ist die Teilnehmerliste als pdf nicht ganz vollständig und es fehlt die Angabe, dass der Markt selbst keinen Eintritt kostet.

Tja, und ich muss jetzt weiter kleben und formen, zum Schluss alles zurechtbiegen und rahmen. Drückt mir die Daumen, dass es keine neue Canicule geben wird, denn bei weit über 30 Grad müsste ich passen ...

29. Juli 2019

Die neuen Preziosen sind da!

Heute mal ein bildlastiger Beitrag. Ich habe gehört, dass man das heutzutage "Unpacking" nennt und manche Leute sogar ganze Videos darüber drehen. Meine Agentur verhandelt noch die Honorare. ;-)

Inspirational Manager Bilbo muss jedes neue Paket ausgiebig beschnüffeln und prüfen. Erst nach seiner Freigabe darf ich auspacken. Die Pakete mit Hundefutter darf ich allerdings schneller auspacken als dieses fürs Atelier ...

Ein schönes Erlebnis war es obendrein! Vom Großhändler innerhalb von 48 Stunden nach Bestellung geliefert. So schnell hatte ich nicht damit gerechnet und war nicht zuhause. Ich bekomme dann von der Post eine Mitteilung, dass ich die Zustellung nun aussuchen kann. Noch einmal zuhause am Montag oder auf der nächsten Poststelle in der Stadt. Weil die Post hier oft sehr spät mittags kommt, wählte ich Lieferung an die Poststelle und bekam einen Abholschein zum Ausdrucken.

Es ist immer wieder überraschend, wie schnell und einfach man große Summen Geldes extrem verkleinern kann. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, das kann unmöglich alles sein! Mit dabei im Hintergrund die in letzter Minute bestellten Präsentationsaufsteller aus schwarzem Samtkarton für Schmuck. Mir war eingefallen, dass ich für einen Markt wie am 15.08. gar nicht ausgestattet bin!

Ich war dann nur morgens lieber mit dem Hund laufen, der während der Gluthitze so gedarbt hatte. Am Nachmittag erst wollte ich ins Städtchen fahren, immerhin 12 km hin und zurück. Als ich mein Zeug zusammenpacke, hupt es draußen: das Postauto. Die Postbotin stand da mit meinem Päckchen! Sie hatte gemerkt, dass es noch nicht abgeholt war und wollte es einfach nochmal probieren. Zeit und Weg gespart - und glücklich ging ich ans Auspacken. Was natürlich nie ohne die wachsamen Augen des Inspirational Managers vonstatten geht! Den Rest erzählen die Fotos. Die Links in den Bildtexten führen zu Instagram-Fotos.
Und wer mehr sehen will: In diesem Blogbeitrag zeige ich Beispiele für Perlage, die im außerfranzösischen Raum oft French Beading genannt wird.

Ich schätze mal, jeder normale Mensch sieht hier Glasperlen? Für mich sind das Insektenteile. Die obere Mischung ist von den Farben ideal für Bienen, Honig und Waben. Unten sehe ich Käfer- und Libellenaugen, evtl. Material für Schmetterlinge. Entweder werden die Tierchen in Perlage-Technik gefädelt oder ich montiere einiges auf Papierkörper. Mit den kleinsten Perlchen lassen sich Schmetterlingsflügel besticken. Und wie immer alles feinste Glasqualität aus Tschechien.

 
Ich habe es getan: In die Grundausstattung einer neuen Kunsthandwerkstechnik investiert: das Perlensticken. Wenn ich jedoch die Spezialnadeln anschaue, mache ich mir Sorgen um meine Augen. Allein hier einen Faden ohne Lupe richtig ins Loch zu treffen ... Aber anders passen Nadel und Spezialfaden ja nicht durch winzige Perlchen. Das Ergebnis wird dann ein sehr edler Schmuck werden. Ich habe das natürlich vorher getestet, ob es mir Spaß macht!




Mit Perlage ist so etwas leider allzu schnell aufgebraucht. Menschen, die sich über den Preis von Preziosen in French Beading Technik wundern, bekommen immer riesige Augen, wenn ich sage, dass allein in einer kleinen einfachen Blüte schnell rund 200 Perlen aus feinstem Glas verschwinden. Von der Arbeit abgesehen ... Hier kann man ein Wettbewerbsstück in Arbeit sehen.



In diese Schätzchen habe ich mich spontan verliebt - und die sind mit 7 mm Länge so groß, dass sie für Papierschmuck verwendet werden. Sie kommen aus Japan von Miyuki und tragen die schöne Farbbezeichnung "Mat Tr Green AB" im Fachjargon. Bedeutet übersetzt: Das Glas ist durchscheinend, grün gefärbt und matt poliert. Darauf wird ein Lüsterglanz aufgetragen, der die Perlen je nach Blickwinkel in Regenbogenfarben glänzen lässt. Es ist eine Bezeichnung fürs Finish, wobei ich am "AB" auch die Farbtöne erkennen kann - es sind kühle Irisfarben. Das Finish wird zum Großteil von Hand gemacht, oft mit edlen Metallen wie echtem Gold, was dann auch den Preis von solchen Glasperlen erklärt. Ich habe hier einen Blogartikel geschrieben, wo man in Videos die Herstellung von Glasperlen anschauen kann.

27. Juli 2019

Wenn einem der Knopf aufgeht

Wenn einem der Knopf aufgeht, steht man nicht unbedingt nackt da. In südlichen Gefilden sagt man nämlich auch zum Knoten "Knopf" - und wenn der sich löst, kann einen das berühmte Heureka-Gefühl treffen. Das ist weit mehr, als wenn nur der Groschen fällt oder wie bei den Briten the penny is going to drop. Wer je bei einer Stickerei versucht hat, einen an der falschen Stelle entstandenen Knoten zu lösen, weiß, was ich meine: Es werden Wege frei zu einem komplexen Kontext, ein Gewebe wird sichtbar. Oder ein Gewege? So ging mir das gestern durch "Zufall".



Ich schleppe seit Monaten unlösbare Fragen mit mir herum und habe auch jetzt noch keine greifbare Antwort. Aber plötzlich löste sich der Knoten und ich sah mich als winziges Mosaikstück von einer Art Gewebe, Gedankengewebe. Ich dachte diese Fragen nicht allein und wie ich sie dachte, war auch alles andere als schräg, sondern weit verbreitet. Wenn man denn das entsprechende Biotop findet.

Ich will nicht lange geheimnisvoll tun: Es geht ums Schreiben. Um mein Schreiben. Mit dem ich seit ein paar Jahren Ringkämpfe ausfechte.

Vor wenigen Jahren bin ich ziemlich radikal aus dem Buchgeschäft ausgestiegen, das Schreiben an sich kann ich natürlich trotzdem nicht lassen. Länger schon brutzelt ein Thema in mir herum, das komplexeres und ausführlicheres Schreiben als im Blog erfordern würde. Und etwas ganz anderes. Aber egal, was ich versuchte und notierte: Das war nicht meins, das fühlte sich nicht adäquat an für das, was ich erzählen will. Kennen die KollegInnen alle, gehört dazu. Früher hätte ich gesagt: "Setz dich gefälligst hin, nöl nicht rum, sondern fang an. Verbessern kannst du immer noch. Aber mach endlich!"

Diesmal ist es anders und radikaler. Wenn ich in meiner Muttersprache schreibe, wird es nichts. Der Text kommuniziert mit einem Kontext und mit Subtexten, die nicht mehr die meinen sind. Alles, was ich lese und denke, worauf ich mich manchmal stütze, müsste ich für die anderen übersetzen, denn ich empfinde es längst in anderen Sprachen. Nach 30 Jahren im Ausland kein Wunder.

Ich hatte im Hinterkopf eine Idee einer Form, der ich immer öfter begegne, aber nie in meiner Muttersprache. Oder selten, in irgendwelchen Nischenblättern. Die Aufträge, die ich in der Richtung früher als Journalistin verwirklichen konnte, kann ich an einer Hand abzählen; ProgrammchefInnen in Verlagen brachten es außerdem auf den Punkt: "Das will keiner!" - "Das verkaufen wir nicht!" Und genau deshalb müssen es Menschen wie ich dann auf Englisch oder Französisch lesen, meist auf Englisch. Da sind die Traditionen diesbezüglich ganz groß.

Ich verdanke die Erkenntnis vielleicht einem Daddelspiel, mit dem ich mir gestern ganz dumpf die Gluthitze vertrieben habe, als Schlafersatz oder Hirnabschaltung. Man "evolutioniert" da Nahrungsmittel, pfatscht grinsende Melonenstücke zusammen, die dann zu irgendetwas anderem Essbaren inkarnieren. Inzwischen war ich beim fröhlichen Gemantsche zum "Baum" geworden, aber die Hitze grillte die Hirnwindungen weiter unerbittlich. Vielleicht würde ein wenig Twitter den Synapsen aufhelfen? Ich überflog Tweets in einem Zustand kurz vor dem Einschlafen. Nahm nichts mehr auf. Bis mir zwei Wörter in einem Retweet eines mir völlig unbekannten Menschen regelrecht entgegenglühten: Feature Writing.

Völlig banale Sache. Alltäglich. Gibt es in den Zeitungen, die ich lese, täglich. Und ist auch nur eine journalistische Form von vielen. Aber für mich war's der Knopf, der aufging, ich fiel regelrecht in eine Knopfschachtel der Erinnerungen mit diesen zwei Worten. Und hatte den Chef unserer Landredaktion wieder im Ohr, den wir so gern nachäfften, wenn er sagte: "Mädle, schreib'sch ä scheens Fietscherle!" Unsere Halbgötter waren die BBC und der New Yorker, auch im Unterricht. Journalism at its best, die Crème de la crème. Einmal so schreiben können!

Ich werde nie vergessen, wie eines Tages jemand bei mir in gebrochenem Französisch anrief: "Do you speak English?" Und wie mich der Regisseur aufgrund eines meiner Bücher um Mitarbeit bei einem Projekt bat: "You can even write in English? That's great!" Und so entstanden Texte zu einer DVD zum Thema Francis Poulenc für die BBC. Als wir uns dann auch noch in Strasbourg trafen und im Museum für Moderne Kunst drehten, lief das alles ab wie ein Traum. Ich wurde interviewt als "Fachfrau" für Schwarze Madonnen und nebeneinander geschnitten mit der damaligen Koryphäe von der Universität Berkeley und einer Professorin aus Oxford. Auch wenn ich das heute noch anschaue, denke ich, ich sei im falschen Film, eine Hochstaplerin. Sie haben mir deutsche Untertitel gegeben, die jemand anderes übersetzt hat. Die Arbeit war hart, aber das reine Vergnügen - und die Honorare stimmten auch. Ich konnte rauslassen, was ich konnte. Das Mädle mit den Fietscherle.

Ich erinnere mich an die 1990er, als das Internet noch neu und überschaubar und fast ausschließlich englischsprachig war. Ich fand es irre, mit jemandem auf Papua Neuguinea zu chatten oder in Mailinggruppen zwischen berühmten WissenschaftlerInnen und absoluten LaiInnen Spannendes zu diskutieren, zu erfahren. Irgendwie kam es mir völlig natürlich vor, als ich einen amerikanischen Verlag an die Angel bekam. Die wollten damals mehr von mir in der Art meiner ersten beiden Sachbücher. Leider setzten sie auf die zu der Zeit gehypten Rocketbooks und keiner ahnte auch nur annähernd, dass das Ding, das nie wirklich ganz funktionierte, eine Totgeburt war. Immerhin, es gab damals in den USA einen E-Reader-Text von mir, an den ich mich nicht einmal erinnere. Ein Essay. Ich dachte und schrieb ja auch in Warschau - neben Polnisch - fast nur auf Englisch. Die Warsaw Voice war eigentlich eine amerikanische Zeitung.

Was war passiert? Irgendwann unterwegs in der Buchbranche muss mir das Selbstbewusstsein abhanden gekommen sein. Wir sind viel zu wenig selbstbewusste "créateurs", obwohl wir das liefern, was all die anderen fürs Überleben brauchen. Ohne uns wären sie nichts (und in Zeiten des Selfpublishing sind wir durchaus ohne sie lebensfähig). Stattdessen trainieren wir uns das Bittstellergehabe auf dem Weg zum Vertrag an. Als ich bei Suhrkamp unterkam, fragte ich neugierig nach meinem Lieblingsgenre und bekam Titel genannt, die ich längst im Original gelesen hatte und die in deutscher Sprache kein bißchen liefen.

Wie ich also in meiner Knopfschachtel der Erinnerungen herumhopste, fand ich meine Sprache wieder. Ich hopste auch im Internet herum, fand Gedanken wieder, die ich auch schon gedacht hatte. Es ist völlig o. k., dass ich plötzlich zeichne, weil ich keine adäquaten Worte habe! Es ist tatsächlich auch Erzählen und Storytelling, wenn ich das Gras, das Bilbo am liebsten zum Magenreinigen frisst, mit einer alten Buchpresse plattmache und es dann mit Notizen in ein "Herbarium" einklebe. Wörter haben durchaus etwas Pflanzenartiges an sich, auch wenn sie ihre "Photosynthese" anders machen. Wenn man sie frei leben lässt, atmen sie. Texte müssen nicht linear verlaufen. Es war die beste Entscheidung seit langem, eine Ladung leerer Sketchbooks zu kaufen.

Und dann falle ich heute wieder auf einen Text, der so genau passt. Er ist von einem, der für den Guardian und die BBC arbeitet und Bücher verfasst: Paul Evans. Er schreibt da:
Instead, I feel that in a post-secular world – one in which the secular and the spiritual co-exist in a multi-cultural way – there is a sacredness to Nature that I have to try and articulate and admit that, as the philosopher Alan Holland says simply: “Nature is good, even when it’s not good for us.
Und dann spricht er gelassen aus, womit ich ringe: Es sind all diese Paradoxa, es ist dieses verdammte "Post-Irgendwas", dieses Gefühl, vielleicht zu spät zu kommen, Chancen verpasst zu haben, noch nicht ganz im Post-Post zu sein, jener Zeit, die etwas Neues ist, die nach einer Zukunft schmecken könnte. Er sagt:
Post Nature nature writing – post-humanist, post-pastoral, post-secular – are paradoxes that will break open like chrysalids when they emerge from the emergency.


Schreiben kann für mich nur funktionieren, wenn ich die Diskrepanzen unserer Welt, unserer Zeit aushalte. Und einen Weg für mich selbst finde, das Gewebe des Erzählens auf seine Weise atmen zu lassen. Ich finde die Querverbindung seines Zitats zu meinen neuen Papierskulpturen: chrysalid ist der Zustand, in dem ich mich dabei noch befinde, da ist etwas dabei, herauszubrechen. Chrysalis nennt man die Puppe von Schmetterlingen.

Und so habe ich in all meinem Geschwurbel Pläne im Kopf, für die es aber wohl die Winterruhe braucht: Ich werde ein neues, zusätzliches Blog aufsetzen. Ich brauche eine Oberfläche, auf der ich Text, Bilder und vielleicht auch Podcast miteinander verbinden kann. Dass ich das abspalte, hat einen Grund: Ich werde es auf Englisch schreiben. Englisch ist auch die Sprache, in der ich meine Kunst grenzüberschreitend präsentiere. Und wenn das nicht perfekt ist und unlektoriert, so what!

Und s' Mädle will wieder Fietscherle schreiben, literarisches Essay, literarische Reportage. Eben in der Sprache, in der das gepflegt wird. Warum nicht einfach sichtbar für alle lernen und üben? Sag mal keiner, dumpfe Daddelspiele seien schädlich. Während ich grinsende Melonen zu Brei klatschte und sich mein Kopf ähnlich anfühlte, ist dieser Beitrag entstanden. Melonenbrei also, einfach Melonenbrei, der noch ein paar Levels, äh Evolutionsstufen, vor sich hat.

Lesetipp:

25. Juli 2019

Explosivstoffe am Esstisch

Das mit den Clickbait-Schlagzeilen lerne ich altes Huhn auch noch! Hat es jemand gemerkt: eine Alliteration! In den 1980ern waren Alliterationen im Journalismus der absolut heiße Sch... - dazu diese herrlich zischelnden und exxxxxxplodierenden Konsonannten ...was wollte ich gleich noch sagen? Ach ja: Die Schlagzeile ist nicht übertrieben, sie stimmt. Es ist so.

Hitzeträume

Wer mich jetzt besucht, wird seinen Kaffee neben Feuergefährlichem und möglicherweise Explodierenden trinken müssen. Angesichts der glühenden Hitze musste ich gewisse Dinge aus meinem Atelier auslagern, in dem es im Winter zu kalt und im Sommer zu heiß ist. So wie das anständige Ateliers an sich haben (wir Künstlerinnen tun ja sonst nix den ganzen Tag, wie Tante Erna findet). Mir wurde doch langsam mulmig, wenn ich auf Sprühflaschen lese: "Nicht über 25 Grad erhitzen!" Manchmal wüsste ich zu gern, ob andere Firnis in den Kühlschrank stellen. Wo bitte gibt es jetzt noch einen Ort unter 25 Grad?

Ich bin froh, dass im Moment keine Bestellungen eintrudeln, für die ich neue Papierperlen machen müsste. Es ist einfach ekelhaft, bei dieser Hitze mit Leimfingern herumzusitzen. Kommt dazu, dass mich Mr Trump zusätzlich zwiebelt. Sein dämlicher Handelskrieg wirkt inzwischen bis in die Kinderzimmer, kann man sagen. Mein Großhändler hat das für mich wichtigste Produkt, dass die Amis einfach genial können, kurzerhand ausgemustert. Und ich kann ihn voll verstehen.

Die Einfuhr, der ganze Hickhack an den Grenzen, die immer längere Warterei und die höheren Preise - das müssen wir Europäer nicht mitmachen. Nun müssen sich also die Amerikaner das Zeug selbst irgendwohin schmieren. Aber ich kann mich mit dem Ersatzprodukt made in France noch nicht ganz anfreunden. Es ist wunderbar, es hat eine tolle Qualität, ist billiger, ich habe auch andere Sachen von der alteingesessenen Firma, weil ich außerdem ihre Umweltpolitik mag. Aber ausgerechnet dieses Produkt klebt an den Händen wie die Überreste von Untoten. Wenigstens riecht es nach deren Todesursache, nach Bittermandeln!

Auf dem Arbeitstisch vollzieht sich gerade eine chemische Reaktion, die man wohl mit Absonderung bezeichnen könnte. Irgendwann hatte ich mal dieses dämliche "shop local" im Kopf und völlig überteuert einen Weißleim bei einem lokalen Büroausstatter gekauft. Die gar schröckliche G'schicht nebst Originaldialog hatte ich hier aufgeschrieben, sie veranlasste mich zu einem Seitensprung zu Amazon, bis ich meinen Großhändler wiederentdeckte. Der Weißleim wartet irgendwie auf seine Entsorgung, drei Jahre nun (manchmal versteckt sich das Zeug irgendwie, wenn man ausmistet). Meinen Kunden möchte ich keine Produkte verkaufen, die mit zweitklassigen Materialien hergestellt wurden. Denn er war grottenschlecht. Ich weiß nun warum: Dank der Hitze hat sich ein Drittel Wasser über zwei Dritteln Leim abgesetzt. Es ist zu heiß, um ihn zur Deponie zu fahren ...

Ich müsste meine Papierblumen für die Schmetterlingsbilder fertig arbeiten, aber ich habe schwitzige Finger. Hitzedicke schwitzige Finger, die am liebsten nur fett und faul herumliegen würden.

Kein Problem, denn den Computer werde ich heute auch ausschalten müssen - selbst der große Ventilator packt es nicht mehr. Heute Nacht hatten wir um 21 Uhr noch 30 Grad und Tropenhimmel. Der Rest vom Mond steht tagsüber am Wüstenhimmel über einem Planeten, auf dem es in meinen Breiten ungeheuerlich staubt. Seit gestern Mittag, als die Hitzewarnungen der Stufe Rot von der Regierung herausgegeben wurden, ist der Server von Meteo France down. Sie haben jetzt eine Eingangsseite mit einer Warnkarte, die wahrscheinlich auch längst veraltet ist. Als dann auch noch der Server meines Großhändlers in die Knie ging, fühlte sich alles in allem irgendwie dystopisch an.

Mit solchen Settings werden apokalyptische Bücher geschrieben. Wenn gestern plötzlich Wespen in den Insektentränken starben, könnte ich drauf wetten, sie sind nicht ertrunken, sondern verkocht. Selbst der Hund läuft freiwillig mit einem nassen Handtuch auf dem Rücken herum und ist stolz auf diesen Kühlmantel. Wer kühlt die Tiere draußen? Wer tränkt im Wald?

Für den Strom, den man zusätzlich für Ventilatoren verbraucht, kann man herrlich das Kochen einsparen - das Auto wird zur Sommerküche. Im französischsprachigen Twitter kursierten gestern hervorragende Tips für eine völlig neue Nouvelle Cuisine: Käsegratin kocht sich direkt am Tisch. Raclette ist das Essen der Stunde - einfach die Pfännchen auf die Tischplatte stellen! Gut leitfähige Pfannen können die Abwärme des Autos nutzen. Ich schwöre drauf. Als ich gestern ein Baguette schnell mal auf dem Autodach in praller Sonne auftauen wollte, weil das den Toaster sparen würde, fand ich das Ding reichlich verkokelt vor. Ich hatte es vergessen, es war zu braun gebacken und hart.

Neidisch blicke ich auf einen im Dorf, der sich noch richtig bewegen kann, morgens und nachmittags sogar draußen schafft. Ob ich mich auch mal wie er im sogenannten DOM-TOM abhärten sollte? Er hat lange auf La Reunion gelebt und gearbeitet. Aber er lacht mich aus. Tropische Stürme und massig Regen sei er von dort gewohnt, aber im Sommer hätten sie selten über 30 Grad gehabt. So wird verständlich, dass die Temperaturen in Frankreich derzeit oft höher sind als im Maghreb. Irgendwann wird die Zeit kommen, wenn wir als Klimaflüchtlinge in Afrika an die Tür klopfen werden, wäre doch denkbar? Falls wir es übers Mittelmeer schaffen.

Weg mit den schlimmen Gedanken. Wir lieben doch alle diese alten Schwarzweißfilme, wenn sie in New York im Sommer nachts auf den Balkonen schliefen und grätzig auf die Nachbarn wurden. Das Wetter hat etwas von einem Jack-Lemmon-Dialog und Mordlust à la "Das Fenster zum Hof". Ich höre im Geist Geräusche aus meiner Kindheit. Wie die bunten Plastikstreifen Anfang der 1960er raschelten, die man als Vorhang zwischen Wohnzimmer und Balkon hängte, Primärfarben auch für jeden Campingwagen, passend zu den bunten Glühbirnenlichterketten. Sie vermittelten den Eindruck, die Luft sei in Bewegung, und hielten Insekten ab. Angeblich. Denn die Schmeißfliegen krabbelten immer durch, schnurstracks in die überhitzte Küche. Wenn die Plastikstreifen beim Durchlaufen auf der nackten Haut klebenblieben, war es zu heiß, um draußen zu spielen. Ungefähr mit solcher Technik flog man später zum Mond, einfach, aber nützlich.

Hat schon einmal jemand untersucht, warum das Gehirn bei Hitze zu Übertreibungen neigt? Dafür zu jedem anderen Gedanken zu faul und zu langsam ist? Was tut man den lieben langen Tag, wenn man eigentlich nichts tun kann?

Meine Chefin hat mir heute frei gegeben, hitzefrei. Gibt es in Frankreich gesetzlich nicht (gerade entsteht die Diskussion, dass man diesbezüglich in Sachen Klimwandel nachlegen müsse). Aber Chefinnen und Chefs sind für die Gesundheit ihrer Angestellten verantwortlich und müssen ihnen auch einen kühlen Raum zur Verfügung stellen. Also habe ich, die Chefin, mir, meiner Angestellten, den Kühlraum verordnet. Der Inspirational Manager wartet dort schon auf mich und verlangt seinen neuen Arbeitsanzug, das nasse Handtuch. Kann ich denn den ganzen Tag flachliegen?

Donald Duck habe ich fast ausgelesen. Dann könnte ich so ein richtig echtes Buch ... wenn es nicht zu heiß zum Denken wäre! Aber das mit dem Liegen probiere ich mal aus. Ich werde mich vom Inspirational Manager einweisen lassen, der kann das perfekt. Es heißt ja, wenn man die Beine hochlagere, würde das Blut wieder zurück ins Gehirn finden ... wer weiß, vielleicht tut es irgendwann wieder?

In diesem Sinne: Passt auf euch auf und schlaft notfalls auf dem Balkon. Spielt nicht mit Untoten und bleibt nirgends kleben! Und kühlt vor allem immer schön die Schwabbelmasse in eurem Kopf.

23. Juli 2019

Ratten im Restaurant: Kann ich!

Komische Sache, wenn man nicht mehr von Likes abhängig ist, weil man das Imperium der gereckten Daumen und Affektsmileys verlassen hat. Endlich spielen wieder echte Themen eine Rolle. Endlich kann ich schreiben, was mir am Herzen liegt. Aber ist das wirklich so? Wie unabhängig bin ich davon, Likes zu bekommen (die es ja auch auf anderen Kanälen gibt), Zahlen zu sammeln? Da sieht es böse aus. Ob das mit meinem Beruf zusammenhängt?

Manchmal ist man sich sicher, die absolute Nase für etwas zu haben, stürzt sich auf ein Projekt - und die Stühle bleiben leer. Kaum jemand scheint sich zu interessieren. Es braucht Geduld, Durchhaltevermögen, Treue zu sich selbst. Manchmal dauert es einfach ein wenig, aber all die Stühle werden sich füllen. Sie stünden sonst nicht da.


Natürlich schaue ich beispielsweise auf Zugriffszahlen hier im Blog. Aus dem einfachen Grund, weil ich für Publikum schreibe - und das soll sich nicht komplett langweilen. Die Zahlen müssten mich eigentlich zufriedenstellen, viele Beiträge wurden 2000 mal gelesen - und da sind nur unterschiedliche Zugriffe gezählt. Das ist eigentlich irre gut, denn es entspricht einer durchschnittlichen Buchauflage in einem unabhängigen Sachbuchverlag. Und wir alle wissen, wie lange es braucht, die abzuverkaufen. Wenn man Pech hat, geht der Verlag vorher pleite, die Restauflage landet in der Konkursmasse. Oder es "dreht nicht schnell genug" und dann trudelt ein Formbrief ein, von wegen Lagerkosten, die sich nicht mehr rechnen würden. Verramschung nennt man das. Die Autorin darf die Restauflage zum Billigpreis aufkaufen und selbst lagern und auf eigene Kosten weiterverkaufen. Das habe ich sehr schnell gelernt: Restexemplare kleben wie Teer. Das hat ein Geschmäckle wie Altpapier und auch nur so viel wollen die LeserInnen zahlen. Wenn überhaupt, es gibt ja längst wieder Tausende von Neuerscheinungen.

Bei einem Blog dagegen verdirbt nichts, modert nichts, ist die Garage nicht vollgestellt. Und dann schaue ich mir die Restposten im Blog an und verstehe die Welt nicht mehr.

Der mit Abstand am miesesten besuchte Artikel sind die Erinnerungen an die Mondlandung, die ich eigentlich fortsetzen wollte. Nach unten nur noch getoppt von den Expeditionen in den Garten. Beides Themen, die mir am Herzen liegen; die mich als Autorin irgendwie auch ausmachen. Und der mit dem Mond hat in Sachen Bildrecherche auch noch Arbeit gemacht.

Würde einem das als Buchautorin passieren, gäbe es ebenfalls nette Formbriefe. Schon lange vor dem Buch wird ein Exposé auf seine vermeintliche Publikumstauglichkeit geprüft. In großen Verlagen reden in der Programmkonferenz auch die VertreterInnen mit. Zeigen sie mit dem Daumen nach unten, rechnen sie sich keine genügend große Massenauflage aus, entsteht das Buch erst gar nicht. Das Achten auf Likes ist mir also nicht erst mit Facebook antrainiert worden!

Es ging schon im Volontariat los. Ich schrieb den aufwändigsten Aufmacher unter widrigsten Umständen. Ein Klopperthema, waren wir uns alle sicher. Eine Woche lang hatte ich alle Tricks versucht, aus einem blockierenden Unternehmen Insiderinformationen zu bekommen. Auf meinem Schreibtisch lagen endlich absolut heiße Aussagen. Den Artikel schrieb ich im Großraumbüro mit lärmenden Besuchern, ständig klingelnden Telefonen, in der Hektik kurz vor Redaktionsschluss. Ich fühlte mich wie in einem Hollywoodfilm: Ich hatte es geschafft! Die Redaktion war sich sicher, damit die Konkurrenz im Sack zu haben.

Und dann kam ... nichts. Kein erboster Anruf, keine wütenden Leserbriefe, was normalerweise beides ein Zeichen dafür war, dass es die Menschen beschäftigte. Nicht einmal das Unternehmen beschwerte sich. Freudestrahlend kam jedoch die Sekretärin an meinen Schreibtisch und stellte mir einen kleinen Wäschekorb voll Post hin. Hatten es die LeserInnen also doch noch kapiert, was journalistische Qualität ist! Wie verrückt viel Arbeit in diesem Aufmacher steckte! Gespannt öffnete ich den ersten Brief und bekam fast einen Schlag.

Jemand bedankte sich für mein "G'schichtle" in den Archivnotizen über das Hochwasser von Annodunnemals in der Kleinstadt - und wie nett und humorvoll ich das geschrieben hätte, wie im Restaurant Sowieso plötzlich die Ratten spazierengegangen seien. Er habe das damals erlebt und sich so gefreut, weil er den Koch dort gar nicht mochte. Und so ging das weiter ... danke für die "scheene Hochwasserg'schichtle!" Die Archivspalte war Volontärsarbeit, jede Woche musste ein anderer ans Mikrofiche-Gerät, alte Zeitungsausgaben durchwühlen und Meldungen von damals nett und locker umformulieren, in gerade mal 30 Zeilen. Beschäftigungstherapie vor allem während des Sommerlochs. Arbeit, bei der man vor Langeweile in der Nase bohren wollte.

Ich hatte Tränen in den Augen, als ich den Redaktionsleiter fragte, warum 50 Jahre alte Ratten derart Furore machen konnten. Und lernte fürs Leben: Wetter ist immer gut. Wetter bewegt die Menschen beim Bäcker und am Stammtisch. Wetter hat an der Politik schuld oder umgekehrt, Wetter beeinflusst Hühner, Kühe und Menschen, den Straßenbelag und die Mayonnaise im Kühlschrank. Und natürlich gab's dann noch Sex und Crime und Katastrophen. Mir war also der Spagat gelungen: Wetterkatastrophe plus kriminelle Ratten in einem Restaurant, dass man damals des öfteren in Richtung Rotlicht verdächtigte. Und das alles in 30 Zeilen à 35 Anschlägen! Lass fahren alle Hoffnung, liebe Volontärin, der große schlimme Klopper, den sich dieses Unternehmen geleistet hatte, der war einfach nicht sexy genug.

Die schreibende Zunft arbeitete schon immer nah am schmalen Grat zur Hurerei, oder wie einer meiner Ausbilder süffisant meinte: "Hurenkind und Schusterjunge sind nur so benannt worden, weil es die Boulevardpresse und die seriöse Presse gibt." Ich hätte mich weit besser verkaufen können, wenn ich auf dem Rattentrip geblieben wäre.

Ich kann noch so alt werden und mir das noch so oft selbst sagen, dass es nur zählt, was ich schreiben will. Aber ganz ehrlich: Genauso oft schielt man zu den KollegInnen, die es draufhaben, zu den Ratten auch noch Krokodile zu schreiben und dann zu allem Überfluss noch den Bürgermeister abzulichten, wie er bei Hochwasser auf der Toilette sitzt, die nicht seine eigene ist. Aber dann fällt mir gerade noch rechtzeitig der Kollege ein, der das durchziehen wollte und nachmittags um vier Uhr das Wasserglas voll Whiskey neben der Schreibmaschine stehen hatte. Um sich selbst aushalten zu können. Übrigens ganz offen in der Redaktion. Manchmal goss ihm der Chef einen Fingerbreit nach, weil der Mann die Quote brachte.

Es braucht manchmal extrem viel Kraft, gegen den Strom zu schwimmen. Denn natürlich wird die Aufmerksamkeitsspanne immer kürzer, wenn die Welt überquillt vor Infos. Natürlich nutzt sich alles noch so Interessante ab, wenn von allen Seiten die Sensationen und Katastrophen brüllen - oder das, was zu einer zurechtgeschrieben wird.

Das habe ich in all den Berufsjahren gelernt: Wirklich nachhaltig erreicht man nur etwas, wenn man bei sich selbst bleibt, sich selbst treu ist. Es ist schon so oft versucht worden, eine Geheimformel hinter Texten zu entdecken, die andere Menschen berühren und nicht kalt lassen. Dabei ist es so einfach: Man spürt es, ob eine Autorin oder ein Autor berührt war. Trotzdem laufen die ersoffenen Geschichten besser. Nach Masse berechnet.

Ich schaue mich im "neuen" Beruf als Künstlerin viel bei der vermeintlichen Konkurrenz um. Als ich gerade herauszufinden versuchte, wie ich am besten eine naturnah aussehende Mohnblüte aus Papier basteln könnte, entdeckte ich eine Untersparte der Papierkunst: Papierblumenfloristik. Neben den Fertigprodukten aus Asien gibt es weltweit Künstlerinnen, die Papierblumen sehr kunstvoll herstellen, meist für Hochzeiten, Feste oder als Schaufensterdekorationen. Auf den ersten Blick sind die Blumen austauschbar, alle eine Soße, könnte man meinen. Aber ein paar wenige von diesen Frauen machen Furore und werden weltweit bekannt.

Es sind nicht die mit den Sensationen, dem Massengeschmack, dem typischen "höher, weiter, schneller". Es sind die Künstlerinnen, die leise, mit harter Arbeit und meist erst einmal sehr klein und regional begonnen haben. Sie haben dabei einen sehr eigenen Stil entwickelt, sich auf etwas spezialisiert, was ihnen am meisten Freude macht. Sie verkörpern die Bandbreite zwischen den Anime-Inspirationen einer Japanerin, botanischer Natürlichkeit aus Wales und üppigen Rosaträumen aus Connecticut. Jede dieser Frauen kann eine Rose fertigen, aber an dieser Rose wird man immer die Künstlerin erkennen. Diese eine Rose wird es nur einmal geben.

Das gilt eigentlich für alles im Leben. Es ist verdammt endlich. Und irgendwann wird man vielleicht Rückschau halten und sich fragen: War es das wert? Habe ich mein Leben wirklich gelebt, mich entwickelt? Oder lebte ich das Leben der Erwartungen anderer?

Querzudenken, sich querzustellen und vielleicht sogar schwierige Konsequenzen zu ziehen, ist nicht einfach. Aber wenn man es mal gewagt hat, wird man überrascht sein, wie sehr das andere Menschen befruchten kann. Die wirkliche Einbahnstraße nahm damals mein Kollege mit dem Whiskey. Er fuhr gegen die Wand.

Ich traf ihn Jahrzehnte später wieder, als er die Kurve gerade noch gekratzt hatte. Es ging ihm bestens. Nach einem völligen Zusammenbruch, körperlich wie seelisch, nach langer Therapie hatte er die einzige Konsequenz für sich gezogen: den Boulevardjob hingeschmissen, der ihn ausgesaugt hatte. Er arbeitete in einem Tonstudio und frönte ganz seiner Liebe zur Musik. Er ruhte spürbar in sich selbst.

Jedesmal, wenn ich versucht bin, lieber über Ratten bei Hochwasser zu schreiben, weil fast alle das lieber lesen würden, denke ich an ihn und an so viele andere, denen es ähnlich ging. Die meisten verloren sich selbst an der Masse. Irgendwann bekamen sie die Denke gar nicht mehr aus dem Kopf, wie sie am besten die Erwartungen anderer erfüllten, wie man den nächsten Hype frühzeitig bedienen könne.

Dabei denke ich inzwischen auch an die Sorte von Papierfloristinnen, die ein handgearbeitetes Stück auf Shopplattformen für 4 Euro verkloppen, nur weil die Chinesen Papierblumen für wenige Cent können. Vor allem aber: Weil auch sie nur Masse produzieren, nichts Eigenes wagen. Sie erzählen sich in Internetgruppen, was gerade trendet, was am meisten Likes bekommt, was ganz bestimmt der Bestseller werden wird, werden muss. Und dann wundern sie sich, warum sie auf Kisten voller Restexemplare sitzen bleiben, warum die Verramschung droht.

Ob ich mir jetzt nur selbst Mut angeschrieben habe? Ich werde auf den Regionalmarkt im August weniger mit besonders wertvollen Schmuckstücken gehen, die eine andere Präsentation verlangen als auf einer Bierbank mit Tischdecke. Aber ich werde frech 3-D-Bilder hinlegen mit Papierlöwenzahn und Papierinsekten, zwischen Ständen mit Wildschweinsalami und Konfitüren, Insektenhotels und Stickzubehör. In einer bäuerlichen Welt, wo man den Löwenzahn noch wegspritzt ... Einfach weil ich weiß, dass kein Mensch sonst derart in Löwenzahn hineinkriecht, um ihn zu studieren, nachzuformen.

Ich fühle einfach, dass das ganz meins ist und genau das Richtige im Moment. So wie ich fühle, dass ich weiter über Gartenexpeditionen oder Mondlandungen schreiben werde, wenn mir danach ist. Ich kann auch Ratten und Hochwasser, keine Frage. Aber ich habe mich damals schon über diesem Wäschekorb von Zuschriften schrecklich gelangweilt.

20. Juli 2019

Denktipps

Heute wieder ein kleiner Einblick in meine Lektüren. Man wird vielleicht einen kleinen Unterschied entdecken: Seit ich nicht mehr bei Facebook bin, entdecke ich die Beiträge jenseits der Hypes und überhitzten Emotionen und lese ... leise.



Zunächst geht es im weitesten Sinne um Kunst - und beide Artikel kann man in Teilen durchaus auch auf andere Künste übertragen. Wolfgang Ullrich befasst sich in einem Vortrag "Publizieren, um - nicht - gelesen zu werden" zwar mit dem kulturwissenschaftlichen Schreiben, aber ich denke, die meisten BuchautorInnen werden sich in seinem Werkstattbericht wiederfinden. Wenn er sich anschaut, wie Auftritte von Schreibenden zum Event werden müssen, wie Menschen immer mehr AutorInnen "abgreifen", aber immer weniger lesen wollen, so trifft er bei vielen Medienbrüchen unserer Zeit ins Schwarze.

Ich stelle mir ähnliche Fragen: Längst wäre ich innerlich wieder so weit, ein Buch zu schreiben - und vor Jahren wäre es die einzige Konsequenz gewesen. Heute frage ich mich aus ähnlichen Gründen, wie er sie nennt, ob nicht genau diese Zeit des Buchs im herkömmlichen Sinne einfach vorbei ist, finanziell gesehen wie vom Erzählmedium her. Mein Blog fungiert dabei als ein Augenöffner, der mich kein bißchen in dem bestätigt, was ich mir wünschen würde: Artikel, die richtig viel Mühe machen, viel Recherche brauchen und m.M.n. wirklich gut geschrieben sind, werden kaum gelesen. Stattdessen geht in kürzester Zeit durch die Decke, was ich nur hingerotzt habe oder was überhitzte Hypethemen berührt. Mein Artikel über die Mondlandung: ganze 143 LeserInnen zur Stunde - Absprung von Facebook 1433. Wir brauchen als LeserInnen gar keine Algorithmen mehr, wir denken selbst nur noch im Clickbait-Rausch.

Höher, reicher, monopolistischer - so geht es auch im Kunstbetrieb zu. Die FAZ untersucht das "Ökosystem der Kunstwelt" an den Stellen, wo die Millionen fließen, "gefüttert durch die Selbstausbeutung von Künstlern und Kunstexpertinnen, die noch an andere Werte glauben als das Geld", wie es heißt, und sie zeichnet damit eine erstaunliche (?) Parallele zu unserer heutigen Form von Kapitalismus.

Für mich wird der Artikel an den Scharnieren der Kunstwelt interessant, deren ungewöhnliche Seiten im Artikel nicht vorkommen und die der winzigen Leserschaft versus Hype-Leserschaft entsprächen. Denn längst machen sich viele KünstlerInnen Gedanken um Kapitalismus wie Kunst, proben neue Ideen auf ähnlich kleinen, aber durchaus erfolgreichen Wegen, wie man sie in Sachen Degrowth in der Wirtschaft erdenkt. In Frankreich boomen die KünstlerInnen-Kooperativen und Galerien in Kooperativbesitz. Junge Menschen, die Kunst machen, überlegen sich, wie sie all die Zwischenstrukturen loswerden, die mit ihnen Geld verdienen. Es gibt da durchaus Parallelen zur Selfpublishing-Szene: Wer professionell mitspielen will, muss genauso Geld in die Hand nehmen, muss Kontakte schaffen. Der Unterschied zu AutorInnen: Statt Einzelkämpfertum tut man sich zusammen, im Idealfall sitzen in der KünstlerInnenkooperative eben auch gleich die passenden PR- und Medienleute. Und auf Instagram boomen Hashtags wie #smallart - winzige oder kleinste Kunstformate zu bezahlbaren Preisen. Kunst, die sich Menschen leisten können und wollen, die früher nie und nimmer Kunst gesammelt hätten.

Könnte hier die Lösung für viele unterschiedliche Ebenen liegen? Degrowth? Klasse statt Masse? Ein Sich-Rar-Machen eher - oder die sehr persönliche Konzentration auf kleine, aber feine LeserInnenschaften? Und das unter Verwendung moderner Medienformen?

Ein Zeichen dafür, dass da draußen ein Hunger nach Verlangsamung und Übersichtlichkeit herrscht, könnte die Tatsache sein, dass auch in Deutschland eher ruhigere Bücher wieder Erfolg haben können. Im Podcast des Deutschlandfunk Kultur geht es um "Wanderlust" und das Gehen, die Links darunter zeigen, dass das Thema keine Eintagsfliege im Sender ist.

Apropos Podcast - ich höre sie zu gern bei repetitiven Arbeiten im Atelier, weil ich dann die Hände frei habe. Zwei englischsprachige bieten immer wieder spannende Folgen, die mich zum Nachdenken bringen, bei denen ich meine eigene Perspektive verändern und auch mal umdenken kann. Vor allem aber gehen sie die Welt konstruktiv an, in realistischer Sicht der Schwierigkeiten, aber hoffnungsvoll:

"Outrage and Optimism" wird von Christiana Figueres und ihrem Team gemacht. Sie war Generalsekretärin bei der Klimarahmenkonvention der UN und kann durch ihre Kontakte aus dem Vollen schöpfen. Da werden dann Leute eingeladen wie Greta Thunberg, Richard Attenborough oder Jane Goddall.
Zum Programm des Podcasts heißt es:
Outrage and Optimism seek to highlight how we need both the outrage we see on the streets as well as the deep conviction that we CAN address climate change to break through the current status quo.
Ohne Website kann man den Podcast auch direkt hier hören.

Das "Emergence Magazine" ist dabei mein absoluter Liebling, schon allein von der medialen Form her. Hätte ich das Geld und die Leute, ich wäre derzeit genau so unterwegs: Multimedial mit künstlerischem und qualitativen Anspruch. Man muss sich die Website einfach mal anschauen, wie sie mit Bewegtbildern, Kunst und Videos aufgemacht ist, absolut anspruchsvolle Essays bringt, von KönnerInnen des Genres geschrieben. Und das Wunderbare daran ist, dass man sich viele der Texte eben auch als Podcast anhören kann, ganz nach Gusto. Auch hier Qualität - sie sind durchweg professionell und angenehm gesprochen, nicht selten von den AutorInnen selbst.

Die Ausgaben erscheinen vierteljährlich zu einzelnen Themen - eine angenehme Geschwindigkeit, um nicht nur oberflächlich einzutauchen. Der Newsletter als Erinnerungsklingel lohnt sich durchaus. Das Magazin zum eigenen Auftrag:
As we experience the desecration of our lands and waters, the extinguishing of species, and a loss of sacred connection to the earth, we look to emerging stories. In them we find the timeless connections between ecology, culture, and spirituality.
Natürlich geht es darin nicht einfach nur um "connection" und Hoffnung, sondern um Einsichten von DenkerInnen unserer Zeit, die von ihren Wegen erzählen, mit Situationen umzugehen, die Jetztzeit auszuhalten und sich für die Zukunft zu engagieren. In der neuesten Ausgabe geht es um das Thema Sprache. Ein guter Einstieg auch in den Geist des Magazins selbst ist das Interview mit dem Nature Writing Autor Robert Macfarlane: "Speaking the Anthropocene"- zum Lesen und Hören.

Hab ich schon mal empfohlen? Nun, das ist dann nicht so sehr der Hitze geschuldete Vergesslichkeit, sondern die Tatsache, dass ich manchmal nicht mehr weiß, ob ich etwas bei FB oder im Blog empfahl (wird nicht mehr passieren). Kann man aber nicht oft genug empfehlen, denn zum Nachsuchen im Blog ist es definitiv zu heiß.
Kommt gut durch die neuerliche üble Hitzewelle der nächsten Woche! Podcasts kann man auch herrlich flach im Liegen anhören!

18. Juli 2019

1969: Wir sahen den Mond in Streifen

Mondlandung 1969: Ich war beim "Mondgucken" dabei, gleichaltrig wie das Apollo-Programm der NASA. Es klingt vielleicht pathetisch, aber es war ganz genau so: Die Weltraumfahrt und die Mondlandung haben nicht nur mein Leben vollkommen verändert, sondern eine ganze Epoche geprägt. Nach der Mondlandung war nichts mehr, wie es vorher war. Und das, obwohl ich schon als Kleinkind Mondfotos der NASA sah, grobkörnige, graue Flächen mit jeder Menge "Augenringe", die Erwachsene "Krater" nannten. Die Ranger Raumsonden hatten sie seit 1964 zur Erde gefunkt, bevor sie auf dem Mond zerschellten. Für mich war der Mond damals noch ein lebendiges Wesen - und seine Augenringe interessierten mich.

So "sehen" wir den Mond heute. Die Topographiedaten zeigen die Schwerkraftanomalien (dunkelblau) um den Oceanus Procellarum. Die Daten wurden 2011 vom Lunar Orbiter Laser Altimeter während der GRAIL Mission gesammelt. (Foto: NASA/Colorado School of Mines/MIT/GSFC/Scientific Visualization Studio)

Als die Raumsonden zerschellten, waren sich die meisten Menschen sicher: Nie würde dort jemand landen können, technisch unmöglich und viel zu gefährlich. Aber zum Glück gibt es ja immer die Neugierigen, die sich eine Sache nicht miesreden lassen, die sich von keinem "nie" und "auf immer unmöglich" abhalten lassen. Die frühen 1960er waren trotz aller Piefigkeit eine Zeit der Träume und Visionen, die man ins Leben holen wollte.

Wir konnten das Zerschellen der Raumsonde Ranger 8 auf dem Mond 1965 in Standbildern miterleben. Um 9:34 UT erreichte das erste Mondfoto die Erde, aus 2573 km Höhe geschossen. Dies sind die letzten Fotos vor dem Aufprall, am 20.02.1965 um 9:57 UT. (Foto: NASA)

Womöglich habe ich mich in dieser Zeit gefragt, warum die Leute nicht einfach ein Kinderbett nahmen oder auf Bohnen kletterten. Ich lies mir die Geschichte vom Kleinen Häwelmann vorlesen und kannte Baron von Münchhausen. Bei Vollmond sah ich mir den "Mann im Mond" an, der meiner Meinung nach so schrecklich allein sein musste, dass ich ihm Geschichten erzählte. Ich wuchs auf, während Russen und Amerikaner im Weltraum wetteiferten. Ohne diesen Wettlauf mitten im schlimmsten Kalten Krieg wäre die Mondlandung wahrscheinlich nie und nimmer finanziert worden. Auch die Erwachsenen hatten keinen blassen Schimmer davon, was die Zukunft noch bringen würde. Von einer Mondumrundung träumten sie, mehr nicht. Ich wurde derweil größer und glaubte nicht mehr an Märchenfiguren und nur noch ganz wenig an den Mann im Mond.

Auch moderne WissenschaftlerInnen geben Weltraumbildern belebte Namen, wie bei dieser Hubble-Aufnahme mit dem Titel "Hubble Peers at Galactic Cherry Blossoms". Die "Kirschblüten" sind Geburtsstätten neuer Sterne in der Galaxie NGC 1156. (Foto: NASA)

Wir waren in Deutschland trotz des Massenmediums Fernsehen noch ziemlich abgehängt von den USA. Dass sich zu jener Zeit manche Menschen ein Ende des Kalten Krieges und internationale Zusammenarbeit vorstellten, bekamen wir nicht mit. Auf die bahnbrechenden Visionen eines Gene Roddenberry mussten wir lange warten. Seine neue Gesellschaftsform in der Vereinigten Förderation der Planeten entstand mitten im Raumfahrtfieber 1966, wurde aber in Deutschland erst sechs Jahre später ausgestrahlt. Ab da war ich süchtig nach Raumschiff Enterprise. Es gab aber einen etwas hölzernen deutschen "Ersatz", "Raumpatrouille - die phantastischen Abenteuer des Raumschiffs Orion". Ein Straßenfeger, wie man damals sagte: Während der Film lief, waren die Straßen wie leergefegt, die Menschen saßen vor dem Fernseher. Vor allem wir Kinder, denn samstags nach der Tagesschau durften wir ausnahmsweise einen Film anschauen!

Es ging uns durch und durch, wenn die Stimme von Claus Biederstädt im Vorspann hochdramatisch sprach:
Was heute noch wie ein Märchen klingt, kann morgen Wirklichkeit sein. Hier ist ein Märchen von übermorgen: Es gibt keine Nationalstaaten mehr. Es gibt nur noch die Menschheit und ihre Kolonien im Weltraum. Man siedelt auf fernen Sternen. Der Meeresboden ist als Wohnraum erschlossen.
Vor 50 Jahren wäre das Science Fiction gewesen: Der Astronaut Michael Collins spricht zum Jubiläum zu Mitarbeitern des alten Apollo-11-Teams - und zum Team von Artemis 1 (Foto: NASA). Artemis 1 soll einen zunächst unbemannten Testflug in der Mondumlaufbahn vorbereiten. Man muss erst wieder technisch auf den neuesten Stand kommen - Mondflüge waren aus Kostengründen eingestellt worden und werden wieder interessant durch die Ambitionen, eines Tages den Mars zu erreichen.

Das Phänomen, wie unsere Träume und die wirklichen Bilder damals um die Welt ruckelten, können heutige junge Leute wahrscheinlich gar nicht mehr nachvollziehen. Es passierte alles zeitversetzt. Bis eine Idee oder ein Trend aus den USA nach Europa kam und sich wirklich durchsetzte, rechnete man im Schnitt zehn Jahre. Das Land "über dem großen Teich" fühlte sich immer noch völlig exotisch an, wie ein hochtechnologisierter und hypermoderner Staat aus einer fernen Zukunft. Die wahren Zustände sahen nur diejenigen, die sich die weite Reise leisten konnten.

Selbst die Fotos der Familie aus Cleveland schummelten uns diese Fassade einer heilen Welt vor. Die kleinen Mädchen sahen aus wie Puppen. Und die Jungs nährten Familienmythen. Einer hatte den zweiten Namen von Buzz Aldrin, Eugene, und wurde später Professor für Astrophysik. Schon als Kind habe er mit einem großen Fernrohr auf dem Balkon gestanden, erzählten sie uns. Es hörte sich stimmig an. Also stellte ich mich heimlich nachts mit einem billigen, quietscheroten Kinderfeldstecher aus Billigplastik ans Fenster. Nicht so sehr, um den Mond zu betrachten, der darin zur glibbrig wegflutschenden gelben Scheibe wurde. Eher, weil ich dachte, ich würde dadurch auch Professor. Selbst später rechnete ich nie nach, dass die Namensgleichheit Zufall war und um die Mondfahrer schlicht Heldenmythen gesponnen wurden. Wir waren einfach unendlich hungrig auf Zukunft, Science Fiction.

Heldenverehrung pur: Wir alle hatten damals dieses offizielle Foto der Astronauten von Apollo 11, der Menschen, die als erste vor 50 Jahren auf dem Mond landeten. Wahrscheinlich gab es das Foto als Sammelbildchen, wir schnitten es aber auch aus Zeitschriften aus. Und natürlich war es damals einer der größten Wunschträume vieler Kinder: Ich will mal Astronaut werden! (Foto: NASA)

Aber ich wollte vom zeitversetzten Ruckeln erzählen! Nicht jeder hatte damals ein Fernsehgerät und man sah die Welt noch in Schwarzweiß. Als 1967 in Deutschland das Farbfernsehen eingeführt wurde, war das eine Sache für die reichen Leute. Selbst auf einen Schwarzweißfernseher musste man lange sparen - oder die neuartigen Ratenzahlungen der Versandhäuser in Anspruch nehmen. Dafür erfanden wir das Public Viewing. Es war ganz einfach: Wer sich keinen Fernseher leisten konnte, besuchte Leute, die einen hatten. Samstags ging es oft zu wie im Taubenschlag, längst vergessene Onkel und Tanten standen vor der Tür, Nachbarskinder quartierten sich bei fremden Eltern ein. Regeln mussten her! Wehe, es kam jemand während oder nach der Tagesschau. Dann hing der Haussegen schief. Und selbstverständlich musste schweigend geschaut werden. Dabei machte es doch so Spaß, bei blöden Filmen abzulästern ... Die Tagesschau selbst war übrigens für kleine Kinder tabu - sie sollten die schrecklichen Bilder nicht sehen.

Die Tragödien der Raumfahrt sahen also nur einzelne von uns - die mit dem Auge am Schlüsselloch. Sie erzählten es, ausgeschmückt und hochdramatisch, den anderen weiter. Im Januar 1967 verbrannten noch auf der Erde die Astronauten Grissom, White und Chaffee in der ihnen zu Ehren umbenannten Apollo 1, die nie abgehoben hatte. Ein spektakuläres Feuer, das später kleingeredet wurde. Ich hatte es durchs Schlüsselloch rund und klein gesehen, hatte später die Beerdigungszeremonie gesehen und hatte geheult, jämmerlich geheult. Das weiß ich jetzt wieder, weil mir gestern bei einer Doku auf ARTE bei den damals ungezeigten Bildern plötzlich wieder die Tränen kamen - mit der Erinnerung. Mit diesen mutigen Männern schien ein Stück Zukunft gestorben. Viele glaubten nicht mehr an ein Mondprogramm.

Der gelungene Start von Apollo 11 lässt die Feuerkatastrophe von Apollo 1 erahnen, wo sich reiner Sauerstoff im Innern entzündet hatte. (Foto: NASA)

Damals ließ die Propaganda die Bilder zusätzlich ruckeln. Die Amerikaner wollten sich vor den Russen keine Blöße geben und umgekehrt. Fehlschläge wurden - wenn möglich - ganz verschwiegen, oder wenigstens heruntergespielt. Manchmal gab es nur ein Standbild und immer viel Schönrednerei. Einige Nachrichten kamen erst Tage später, als man sich ausgedacht hatte, wie man sie verkaufen könne. Und so entstanden Schichten von Wissen: Ganz oben standen diejenigen mit Fernsehgerät und Zugang zu direkten Informationen aus den USA, etwa aus der Familie. Die erzählten, so wie die Kinder am Schlüsselloch alles weitergaben: stille Post. Am Fernsehgerät selbst gab es eine weitere Staffelung: die der Zeit. Live war nicht normal, sondern die absolute Ausnahme.

Live-Fernsehen war etwas Aufregendes. Entsprechend dramatisch wurde es vom Sternenbild der "Eurovision" eingeleitet und dieser Musik, die ich nie vergessen werde. Wir würden auf unseren körnig aussehenden Schwarzweißgeräten plötzlich live dabei sein können, wie Menschen zum Mond flogen. Astronauten würden über Satelliten Sprache senden, Filmaufnahmen zeigen. Unglaublich! Derweil erzählten uns Moderatoren wie Günther Siefarth und Heinrich Schiemann immer wieder eindringlich von der Zeitverschiebung, die zustande kam, weil die Datensignale eine Weile brauchten bis zur Erde. Ihre Namen habe ich bis heute nicht vergessen, sie waren damals die absoluten Superstars!

Zeitverschiebung im Live-Fernsehen, das war unerhört neu. Albert Einstein kam wieder zu Ehren, seine Relativitätstheorie wurde in Wissenschaftssendungen und Zeitschriften erklärt, selbst wir Kinder sprachen davon. Ich erinnere mich dunkel an eine Dokumentation, die mein Denken damals völlig sprengte. Es ging um einen Astronauten, der weit in die Galaxis fliegt, es ging um Lichtgeschwindigkeit und Relativitätstheorie. Man sah, wie er - als Fiktion gedreht - mit langem weißen Bart auf der Erde landete ... und dann hatte ich einen Denkaussetzer: Landete er in seiner eigenen Vergangenheit oder der Zukunft?

Wir waren hin und weg und erzählten uns beim Betrachten des Sternenhimmels, wie lang das Sternenlicht zu uns brauchte. Comics und Kinderzeitschriften taten ihr Übriges: Ich erschauerte beim Anblick eines beliebigen Sterns, weil ich mir ausmalte, das sei eine Erde in tiefster Vergangenheit, Dinosaurier würden dort gerade herumlaufen. Und was, überlegte ich, würde passieren, wenn nun so ein Dinosaurier umgekehrt zu unserer Erde schauen würde? Welches Erdzeitalter würde er sehen? Es lief mir eiskalt über den Rücken, der Sternenhimmel wuchs sich aus zum Wunder und wir waren hoffnungslos allen Science-Fiction-Geschichten verfallen. Selbst Donald Duck flog in den Weltraum.

Das weltberühmte erste Foto des "Erdaufgangs" von 1966. Oben, wie wir es damals in Streifen sahen, unten die restaurierte und aufgearbeitete Version von 2008. (Fotos: NASA/Ames Research Center/Lunar Orbiter Image Recovery Project)

Was machte es da schon aus, wenn die Bilder damals Streifen hatten! Eines davon haute uns völlig aus den Socken und veränderte die Welt. Aber davon und wie ich die Mondlandung erlebte, erzähle ich im nächsten Beitrag. Für die wurden wir Kinder extra mitten in der Nacht geweckt!

Ich möchte hier noch aus dem schönen Tweet von Stephen Fry zitieren, der sich erinnert, mit elf Jahren dabei gewesen zu sein:
Everything seemed possible. A golden, space-age future for humanity beckoned. And wow, has it ever arrived. I own a WiFi enabled coffeemaker.

Anmerkung:
Sämtliche Fotos sind durch Anklicken vergrößerbar. Übrigens lohnt es sich, die Bildergalerien bei der NASA zu durchforsten - als Regierungsorganisation stellt sie alle eigenen Fotos gemeinfrei (mit Quellenangabe) zur Verfügung. Die Nutzungsregeln kann man hier lesen.
Ich bedanke mich außerdem herzlich bei denjenigen, die für dieses Blog gespendet haben oder spenden (rechts im Menu geht's zum Paypal-Formular) - sie sind es, die mir solche Qualitätsarbeit ermöglichen, wo das Schreiben Zeit und Recherche braucht - was allen zugute kommt!

16. Juli 2019

Absprung von Facebook (3)

Kleine Notiz am Rande: Ich bin nicht rückfällig geworden. Aber ich musste doch tatsächlich heute kurz mein Account neu aktivieren, um die letzten Messengernachrichten sehen zu können! Wieder was an Technik gelernt: Der läuft nur weiter, wenn man ihn als App auf dem Handy hat. Wenn eins nicht auf mein Handy kommt, dann der. Jetzt geh ich nicht mehr ran, wer etwas von mir will, muss mich anders kontaktieren.

Selbst Nachbars Hühner wissen ganz genau, was sie "draußen" anfangen können.

Und wie war es so? Schnell ein paar Kontaktadressen notiert. Festgestellt, dass mir nichts fehlt, ich eher sogar Ekel empfinde. Dann doch mal berufsneugierig kurz in meine Timeline geschaut ... und da war es wieder: dieses Herumnölen, Pseudolustigmachen, die Welt ist schlecht, die Welt ist Sch... Ultranegativismus am Werk, bei den Medien mit den üblichen in der Trollfabrik generierten Kommentaren. Und die immer gleichen Hype-Social-Media-Themen, als gäbe es nichts anderes auf der Welt. Völlig verschobene Realitäten. Brauch ich nicht.

Ganz schnell Account wieder deaktiviert. Und weil FB dann wissen will, warum, mal so richtig deutlich gesagt, was ich von Zückerle und seinem Laden halte. Boff. Aus, weg damit.

Ich fühl mich ohne so viel befreiter, so gelassen und fröhlich.

Dass man Leute aus den Augen verliert, die einem wichtig sind, ist ein Gerücht. Ich treffe viele auf anderen Kanälen oder bin sonstwie verbandelt. Und mehr als die schaffe ich als einzelner Mensch sowieso nicht wirklich. Schwund ist auch im echten Leben. Genial ist außerdem, dass ich jetzt endlich Kommentare hier im Blog habe - so dass auch diejenigen etwas davon haben, die woanders nicht sind. Es geht also!

Und dann gab's ein paar Messages in diesem Tonfall: "Du wirst bald wieder zurückkommen. Das haben schon ganz andere versucht und sind gescheitert." Noch kann ich da entspannt den Mittelfinger zeigen.

Ich habe eine neue steile These, aus der man eine Dystopie basteln könnte: Facebook schaltet Leute nicht nur gleich. Es baggert sie zu, es stopft sie voll, füllt sie ab, bis sie in einer zufriedenen (?) Bequemlichkeit versinken. Wäre ich Diktator, ich würde genau da ansetzen. Ich bekam viele neidvolle Zuschriften, wie ich das denn schaffen würde, "da draußen"! Da draußen Zeug lesen, Sachen erfahren, herumquasseln. *lautes Lachen*

Tja. Ich bin ein Kind der Mondfahrt. Ich war vor 50 Jahren live dabei. Die Männchen auf dem Mond haben mit uns live geschwätzt, da war Zuckerberg noch gar nicht geboren. Wir wissen noch, wie man sich auf der Erde bewegt und im restlichen Internet.

Leute, das Leben ist verdammt schön. Ohne.
Die Welt ist genauso schlecht oder gut oder wasweißich wie vorher auch. Aber ich kann mich besser auf das Konstruktive konzentrieren, auf die eigene Kraft, auf Menschen, die irgendwas in ihrem Leben tun und nicht nur herumlabern. Vor allem aber auch auf die Leisen und Stillen, und auf die Geschichten, die kaum jemand hört. Ich muss nicht mehr dabeisein, wenn man die nächste Sau durchs Facebookdorf treibt und sich drei Tage lang über den selben Kram aufregt. In der Zeit könnte man eigentlich nachdenken, was man ganz konkret gegen den Kram tun könnte, oder?

Die anderen Teile der Reihe:
Teil 1: Absprung von Facebook (1)
Teil 2: Absprung von FB (2) 

15. Juli 2019

Expeditionen im Garten

Eltern sollten nie ihre Kinder auslachen, wenn diese seltsam klingende Wunschträume äußern. Es könnte nämlich passieren, dass sie das Träumen nicht nur aus Trotz wahrmachen. Oder anders formuliert: Es ist erstaunlich, wie gut kleine Kinder sich selbst kennen. Ich erzählte es bereits: Ich wollte als kleines Kind "Wissenschaftlerin für Marienkäfer" werden - und wurde dafür ausgelacht. So einen Beruf gäbe es nicht. Beim Kramen in einer Kiste auf dem Speicher stellte ich fest, dass ich irgendwann diesbezüglich sogar renitent wurde. Heute gehe ich auf Expeditionen sogar im eigenen Garten!

Man muss genau hinschauen: Blüht die Pflanze gelb statt weiß und sitzt die Frucht senkrecht auf, so hat man eine Indische Scheinerdbeere (Potentilla Indica) im Garten. Sie wurde bereits im 17. Jhdt. als Zierpflanze aus Südostasien importiert, verwilderte schnell und gilt heute in manchen Regionen als invasive Art. Hier im Nordelsass kommt sie ganz natürlich an Waldrändern oder Bachläufen vor. Die Früchte schmecken trocken und nach nichts außer Zucker, bieten aber vielen Tieren Nahrung. Die Scheinerdbeere bevorzugt wärmeres Klima.

Ich fand eine Reihe von Bildern und Blättern mit botanischen Zeichnungen, Zeichnungen von Tieren und Sammlungen für ein Herbarium. Bei dem Blatt mit den aufgeklebten Gräsern und Wildblumen sehe und rieche ich die Wiese wieder, auf der ich im Sommer Purzelbäume schlug. Ich schaue das Blatt mit Wehmut an, denn etwa ein Drittel der Gras- und Pflanzensorten habe ich seit sehr vielen Jahren nicht mehr in der Natur gesehen. Und das dürfte verhältnismäßig wenig Schwund sein, weil wir im Naturpark in Sachen Artenvielfalt noch verwöhnt sind.

Aus dieser Zeit stammt auch eines meiner Lebenslieblingsbücher: Das Bestimmungsbuch "Flora in Farben" von Hans Joachim Conert mit "667 wildwachsenden Pflanzen" aus dem Otto Maier Verlag. Zum Bestimmen folgt man Tabellen, die Blüten- und Blattformen, Farben, Blattaderformen und andere botanische Einzelheiten abfragen und einen mit Zahlen in einem faszinierenden Flussdiagramm-System so weiterleiten, dass man schließlich bei der richtigen Pflanzennummer landet. Zu der gibt es ein farbig gezeichnetes Bild und einen Text. Ich bestimme gern heute noch Pflanzen nach dieser Methode, weil sich dadurch die Familien und Verwandtschaften einprägen und man sehr genau hinschauen muss. Anders als beim Googeln, wo eine Art dann einfach so in der Luft hängt. Es schult den Blick.

Den brauche ich gerade sehr, obwohl ich Zeichnungen im Sketchbook und gepresste Pflanzen im Herbarium ganz neuzeitlich durch Fotos ergänze. Makrofotos schärfen den Blick ja ebenso. Falls also jemand fragt, wie ich meine Zeit vertrödle: Ich habe mich das ganze Wochenende über damit beschäftigt, wie Löwenzahn genau aussieht. Und selbst da habe ich mich verkramt, bin umhergeschweift, steckengeblieben.

Einmal genau hinschauen: Löwenzahnblüte mit Wildbiene. Über 550 Arten Wildbienen gibt es übrigens, wie bei den Pflanzen kann man sie auch mithilfe von Flussdiagrammen bestimmen.

Es ist verrückt, wie ich mich plötzlich wieder jung fühle, extrem jung. Ich entdecke nämlich die Kinderspiele der "Wissenschaftlerin für Marienkäfer" wieder. Eines habe ich nie ganz abgelegt, an dem ist Pippi Langstrumpf schuld. Mit meinem Sandeleimer zog ich los, um als "Sachensucherin" Schätze zu sammeln. Damals waren das vor allem glitzernde Quarzsteinchen aus einem Kiesweg, auch heute noch bin ich leidenschaftliche Steinsammlerin. Und habe inzwischen ausgerechnet einen steinesammelnden Hund, der damit den Kapitalismus erfunden hat. Ganze Stunden konnte ich als Kind außerdem mit dem Entdecken von anderen Planeten vertrödeln ...

In einer Trockenmauer damals war eine Steinplatte lose. Heimlich hob ich sie an einer Seite hoch und schaute darunter. Fremdartige Wesen wohnten da miteinander und bildeten eine völlig eigene Welt: Winzige Schneckchen in wunderschönen, turmartig gedrehten langen Schneckenhäusern, die mich an Meeresmuscheln erinnerten; hastig rennende Ameisen in unterschiedlichen Größen und Farben von rötlichem Gelb bis Schwarz, Würmer mit unzähligen Beinpaaren. Am meisten faszinierten mich die "Minitrilobiten", die sich zur Kugel rollen konnten - den Namen hatte ich von Haferflockenbildchen, die Urzeittiere zeigten - "Rollassel" lernte ich recht spät. Aber ich war mir sicher, dass es solche Parallelwelten ähnlich auf den Sternen geben müsse und dass auch die Erde voll davon sei.

Löwenzahn ist anspruchslos und wächst selbst aus Betonspalten. Mit der Pfahlwurzel kann er Feuchtigkeit aus der Tiefe saugen. Je karger der Boden ist, desto kleiner und gezähnter scheinen die Blätter zu sein.

Auch wenn ich heute weiß, dass man diese Parallelwelten Biotope nennt, ist das kindliche Staunen geblieben. Nach dem lang ersehnten Regen feierten die Insekten im Garten regelrecht Party. Man merkt auch hier den Einfluss des Klimawandels: Zumindest die robusten Arten wandern in Gebiete, deren Klima besser zu ihnen passt. Seit ich kaum zum Gärtnern komme und Wildkräuter genauso dekorativ finde wie Staudenpflanzen, finde ich bei Flora und Fauna immer häufiger Arten, die sonst eher für den Süden Frankreichs und die Mittelmeergebiete typisch waren. Es wandert vieles Richtung Norden.

Misumena Vatia, die Veränderliche Krabbenspinne auf einer Kornrade (Agrostemma githago). Sie kam früher in Südfrankreich häufiger vor als in diesen Breiten.

Misumena Vatia, die Veränderliche Krabbenspinne auf einer Kornrade (Agrostemma githago). Die Kornrade ist zwar nicht mehr vom Aussterben bedroht, gilt aber noch als stark gefährdet. In meinem Garten blüht sie dank gekauftem Wiesenblumensamen.

Warm mag es Misumena Vatia, die Veränderliche Krabbenspinne. Die filigranen Spinnen mit den krabbenartigen zwei Vorderbeinpaaren sitzen wie kleine Edelsteine vor allem in Blüten. Sie bauen keine Netze, sondern greifen sich nektarsuchende Tiere, die um ein mehrfaches größer sein können als sie selbst. Damit die Jagd erfolgreicher gelingt, können sich die Weibchen verfärben wie Chamäleons - von Weiß über Gelb bis Gelbgrün. Der Mechanismus ist ein Wunderwerk an sich: Er wird über den Gesichtssinn der Spinne ausgelöst und soll sie auf dem Untergrund tarnen. Für Gelb wird ein flüssiger Farbstoff in die Epidermiszellen gepumpt - wird er dagegen ins Körperinnere gebracht, entfärbt sich die Spinne weiß. Um den Pigmentwechsel zu beschleunigen, kann sie einiges davon sogar über den Kot ausscheiden und später neu produzieren. In unserer Region ist das wärmeliebende Tier inzwischen recht verbreitet, wenn man es nicht stört: Krabbenspinnen bewohnen eine Pflanze so lange, wie diese existiert.

Streifenwanze, Graphosoma lineatum

Nicht ganz so üblich waren früher in den Vogesen die Streifenwanzen, Graphosoma lineatum, die zu den Baumwanzen gehören. Sie sind typische Insekten des Mittelmeerraums, wandern aber bei warmem Wetter nach Norden. Wunderschön sind sie während der Paarung, dann hat das gestreifte Insekt nämlich am Bauch schwarze Punkte auf Rot. Doldenblütler sind ihre Leibspeise, vor allem in Gehölznähe - sie saugen mit Vorliebe deren Samen aus. Ich erwischte sie in meinem Liebstöckel, wo sie immer noch wohnen, denn ans Kraut selbst gehen sie nicht und ich könnte so schöne Tiere nie vertreiben. In freier Natur findet man sie häufig auf Engel- und Bärwurz, Pastinake und wilder Möhre. Es gibt eine gelblich-rote und eine feuerrote Art. Klar, dass ich irgendwann eine aus Papier nachformen möchte!

Streifenwanzen bei der Paarung

Aber all das war nur genussvolle Ablenkung vom Löwenzahn. Ich zeichnete Blätter in den Umrissen in Originalgröße nach und fand gleich heraus, warum manche künstlichen Blumen so künstlich wirken: In der Natur ist nichts exakt symmetrisch, es wirkt nur so. Löwenzahnblätter haben selten völlig gleiche Seiten. Ich beschaute mir einzelne Blütenblätter (Zungenblüten), die in drei Wellen enden. Studierte die Hüllblätter des Körbchens. Und das alles nur, weil ich meinen Papierschmetterlingen etwas Nahrung geben wollte. Papierlöwenzahn.

Die ersten Prototypen von Löwenzahn aus Buchpapier sind entstanden. Mit den Blättern bin ich schon zufrieden, bei den Blüten stimmt die Wicklung der gelben Blütenblätter noch nicht ganz.

Ich habe Hochachtung vor Papierfloristinnen, die täuschend echte Pflanzen aus Krepppapier und anderen Papieren formen. Es ist reichlich vertrackt, von einer Naturblume zu einer vereinfachten 3-D-Idee im Kopf zu kommen und diese umzusetzen in zweidimensionale Schnittmuster. Noch bin ich nicht ganz zufrieden beim Prototyp, weil die Papierstreifen zueinander nicht richtig in der Breite stimmten. Aber der Fehler ist erkannt - und die Papierpflanzen wachsen aus alten Buchseiten. "Lemprières Wörterbuch" als Taschenbuch muss daran glauben, das Papier ist nicht zu dick und doch recht fest. So zahnt der Löwenzahn Buchstaben ...

Papierlöwenzahn möchte ich zusammen mit Papierschmetterlingen erstmals auf dem Markt des Maison Rurale am 15. August präsentieren.
Im Atelier Tetebrec gibt es vor allem Schmuck als Paper Art, aber ein Projekt zu Käfern und Artensterben wächst langfristig nebenher - und ganz neu sind Insektenkästen mit Fantasieschmetterlingen und Papierpflanzen.