Heiße Parallelwelten
Macht man eigentlich bei solcher Hitze nicht, aber die fast leere Futtertonne von Bilbo veranlasste mich, auch bei über 30 Grad in einem unklimatisierten Auto zu sitzen und zum Einkaufen nach Deutschland zu "reisen". Mein Franzose ist wählerisch. Wenn ich schon nicht die Rolle erfülle, für die seiner Meinung nach ein Mensch geschaffen ist - jeden Tag frische Enten zu erlegen - muss ich wenigstens das tolle Futter aus dem Ausland herankarren. Selbst unsere Tiere profitieren von offenen Grenzen und der herrlichen Kultur, im Dreiländereck von allen Nationen das Beste zu genießen. Und seit die Pfalz nicht mehr bayrisch ist, stehen sich die Kulturen extrem nah. Ich schwang also einen dünnen Schal um meinen Kopf, setzte die Sonnenbrille auf, kurbelte alle Fenster hinunter und spielte Donald Duck im Cabrio.
Wahrscheinlich war die Hitze schuld - selbst am Berg wurde der Asphalt flüssig. Ich beschloss deshalb, dringend und sofort Bermudas oder sehr schlabbrige, sehr dünne Hosen zu brauchen. Das Geld sitzt nicht locker, jeder Kilometer war mir zuviel und also landete ich in jenem Konglomerat von Discounterläden in einem KiK, einer Art Laden, die mich mit dreizehn, vierzehn Jahren fasziniert hätte. Die Klimaanlage lief knapp vor Permafrost, also probierte ich mich durch den Teil der Hosen, die nicht schon von weitem wie Schlafanzüge aussahen. Ich bin mir absolut sicher, es kann nur an den Zerrspiegeln in der Umkleidekabine gelegen haben: Egal, was ich anzog, ich sah aus wie Cindy aus Marzahn in ihrer schlimmsten Zeit. Pummelig, irgendwie gestaucht, mit Fett, wo vor diesem Ausflug eigentlich keins war. Ich schwöre!
Grauslig schlecht genähte Röhren schlabberten mir um die Oberschenkel und schnürten die Waden dafür wie Rollbraten ein. Kurze Hosen betonten den Bauch, waren dafür quietschgrellrosa. Was ausgesehen hatte wie eine irre bequeme Carogohose in Oliv, wirkte an mir wie ein Einkaufsnetz, in das jemand zig Rollbraten im Sonderangebot gestopft hatte. Ich war noch nie so hässlich und noch nie so grellfarbig.
Von Modeambitionen schlagartig geheilt, schaute mich in dem Chaos um. Man musste lustig Slalom um wilde Haufen von leeren Kartons fahren, manchmal stand Ware in den Gängen statt im Regal. Ich schrammte mit Schwung an einer Auslage plastikgärtnerischer Herbstfreuden vorbei (braune Blätter, nüssesammelnde Glubschhörnchen, kürbisartige Früchte) und bremste gerade noch rechtzeitig vor einer Verkäuferin, die Weihnachtsware einsortierte. Was mir auf der Zunge lag, sprach eine andere Kundin aus: "Sie verkaufen doch nicht etwa jetzt schon Weihnachtsdeko?"
Ja, das sei ganz praktisch, all die goldenen und glitzernden Laternchen, Lichtchen und dieses Dingsbumszeug, so verstand ich die Verkäuferin, könne man jetzt als Sommertrend anbieten und dann kurz vor Weihnachten einfach umetikettieren. Ich überschlug im Kopf die Abverkaufserwartung und konnte mich gerade noch zurückhalten, nach den Dominosteinen zu fragen. Ich wusste nur, ich musste raus, schon allein, um draußen die Hitze wieder ertragen zu lernen.
Eine ganze Menge Sprudel später signalisierte mir mein bereits hitzeweiches Hirn, dass ich für den Wochenendeinkauf keinen Meter weiter fahren würde. Ich würde auf der Rückfahrt schon genug verröcheln. Also ergab ich mich meinem Schicksal: da war nur ein Lidl. Ein Laden, in dem ich seit Jahrzehnten nicht eingekauft hatte, so gefühlt ... in dem ich grundsätzlich nicht einkaufe. Aber das dicke schneidige BMW-Cabrio auf dem Behindertenparkplatz direkt neben dem Eingang signalisierte mir: Hier würde ich wohl mehr Qualität erwarten können als Cindy. Ich setzte das Kopftuch ab und ein Ethnologengesicht auf. Ich liebe es, in fremden Kulturen zu erforschen, wo sich die vorgefundene Spezies vorwiegend aufhält und wie sie sich verhält. Warum also nicht auch einmal fremdartige Speisen kosten?
Meinen Schnaps, um Nüssli anzusetzen, muss ich wohl im Russenladen kaufen - hier gab es nichts über 40%, aber davon sackten die Leute reichlich ein, so billig gar nicht, aber dafür auch nicht gut. Nach einem ersten Orientierungsblick fühlte ich mich in einer Parallelwelt: So sehen also Läden aus, in denen sich Messies willkommen fühlen können. Waschmittel zwischen Nahrungsmitteln reingestopft, Getränke mal hier und mal da und mal dort gar nicht. Und irre lange Kühlregale mit fertig verpacktem Zeug, das man in Frankreich noch von Hand schneidet. Überhaupt glitzerte und glänzte es auch hier wie Weihnachten: Verpackungsmaterial in rauen Mengen. Selbst Gemüse und Obst in Plastikformen, mit Plastik umhüllt. Ich staunte über Muffins: sie waren in ihren Papierförmchen in Pappe gesetzt, die Pappe lag auf einer Plastikform und alles war nochmal in Plastik. Zuhause hatte ich so viel Plastikmüll für die Deponie zusammen wie sonst in einem Monat! Das war also dieses ökologisch bewusste Deutschland, das ich einst verlassen hatte, als es in Sachen Umweltschutz noch das große Vorbild in Europa gab?
Die Ethnologin forschte weiter: Was aß man eigentlich so in dieser fremden Kultur?
Das Hauptnahrungsmittel hieß XXL und schien von der Größe zur Figur der Einkaufenden zu passen. Man futterte XXL und trank es sogar. Auch das Kleingedruckte war XXL, obwohl es so klein gedruckt war, dass man es in Frankreich verboten hätte. Es roch nach künstlichen Aromastoffen, wenn eine Packung aufriss.
Ich habe schon lange nicht mehr solche Unmengen von fertig konfektioniertem Fleisch gesehen, Schweinefleisch vor allem, fettes Fleisch. In Marinaden, Tunken und Gewürzen, so dass man kaum die Qualität begutachten konnte. Dafür war es billigst billig. Schon vom Preis wurde mir schlecht. Es war eingeschweißt, womöglich schmeckte es sogar wie Weichplastik. Interessant für die Ethnologin zwischen den Fleischbergen: Die hier vorkommende Spezies lebte offensichtlich in riesigen Clans oder hatte halbe Dörfer zu versorgen, wenn ich mir die Fleischberge in den Wägen anschaute. Offenbar wurde das Ganze mit Bier fermentiert. Ähnlich mit den Würsten. Ich dachte kurz an meinen Hund und welch Paradies ... aber nein, der fraß ja all dieses Nitrit- und Phosphat- und Dingenszeug gar nicht.
Kinder quengelten um billigen Plastikkram. Ein Mann debattierte am Weinregal mit seiner Frau, sie habe genug Weißwein ... aber guck, die Frau da kauft auch welchen, sagte sie und zeigte auf eine mit vier Flaschen im Wagen. Na gut, sagte er, aber nur zwei, weil Wochenende ist, und ich trink Bier. Papa, du musst mir das kaufen, weil da ist eine Überraschung drin und man weiß nicht was man kauft und darum musst du und ichwilldasjetzthaben und du musst ... wo ist denn schon wieder diese verdammte Remouladensoße hin, diese verdammten Dreckskerle verstecken mir immer die Remouladensoße! Eine Frau angelt ein riesiges Brot mit einer völlig falsch geformten Schaufel, es gelingt ihr nicht auf Anhieb, wie auch. Muss wohl alles mit Gewalt, hä?, blafft sie ein männliches Geschöpf der beobachteten Art an. Die Weibchen der Spezies schimpfen Männchen an, sie sollten gefälligst dies und gefälligst das und schneller, aber plötzlich. Die männlichen Subjekte der Spezies keifen zurück, dass der XXL-Käse bestimmt so gesund sei wie der blöde Gesundjoghurt, wenn die Tusse was anderes wolle, solle sie doch Geld ranschaffen oder woanders einkaufen. Die Ethnologin notiert "Tusse", um das Wort bei Sprachstudien nachzuschlagen.
Wer nicht aufpasst, hat einen Einkaufswagen im Kreuz, wird von einem Bierbauch weggestoßen oder findet einen fremden Fuß auf dem eigenen. Die Ethnologin notiert, dass es sich um einen besonders aggressiven Stamm handeln muss, der sich womöglich auf dem Kriegspfad befindet. Vorsicht ist angesagt, um in diesem Messiedschungel zu überleben, in dem sich alle außer der Ethnologin völlig zuhause fühlen.
Erst jetzt fällt der Ethnologin auf, dass in diesem Habitat unterschiedliche Sprachen gesprochen werden. Breites Pfälzisch verlangsamt das Keifen unter Ehepartnern fast ins Gemütliche. Zwei Sachsen, die sich laustark über Biermarken aufregen, werden sofort als fremdartig erkannt: Die anderen Lebewesen gehen auf Sicherheitsabstand, von gefährlichen Sachsen hat fast jeder schon gehört. Kein kriegerischer Stamm erträgt es, wenn ein anderer ihn an Aggressivität übertrumpft.
Einer Frau fällt der Kinnladen herunter, weil ein Ausländer mit dunkler Haut ihr die gewünschte Ware aus einem viel zu hohen Regal herunterreicht. Die Ethnologin notiert, dass das Herunterklappen von Kinnladen hier offenbar als freudige Dankesbezeugung gilt. Im Ernstfall würde sie das auch praktizieren, um ein evtl. aggressives Subjekt mild zu stimmen. Man kennt das von Eingeborenenstämmen im Urwald: nur nicht gleich losgrinsen, erst die Mimik der anderen studieren. Nur nicht lächeln - Kinnlade herunterklappen!
Ebenfalls isoliert bewegt sich eine junge Familie durch den Laden. Ob es die slavisch klingende Sprache ist, die Vater, Mutter und ein kleines Kind miteinander sprechen? Die Ethnologin ist sich nicht so sicher. Irgendetwas an der Mimik und Gestik stimmt mit diesen Leuten nicht. Sie lächeln miteinander. Manchmal lacht die Frau fröhlich, wenn der Mann etwas sagt. Es klingt, als würde er gurren. Das Kind giggelt. Die Drei beherrschen dieses Kinnladendings nicht. Noch schlimmer: Sie sind höflich, weichen mit ihrem Wagen aus, machen neben alten Damen langsam. Könnte es sein, dass sie damit einen geheimen Code brechen? Dem Kriegerstamm womöglich den Glauben an irgendeine Gottheit nehmen?
Als diese Familie in der langen Schlange an der Kasse einen Mann mit weniger Ware vorlässt, ist die Welt wieder in Ordnung. Es geht ein Ruck durch die Schlange, durch die an der Nebenkasse auch - und wie in einer gleichgeschalteten Gesellschaft machen jetzt alle dieses Mimikritual mit der Kinnlade, dazu sehr große Augen. Wer Augen derart öffnet und Münder dazu, riskiert natürlich, dass die Seele durch die Körperöffnungen entweicht. Sofort wird beides wieder verengt - Fachliteratur des 19. Jahrhunderts verhandelt solche Spezies als primitiv. Und wirklich - eine Frau hält schnell und hektisch an einem Regal ihr Seelenimago mit dem Smartphone fest, sicher ist sicher. Man weiß in diesem Stamm offenbar nie, wann man mal wieder Seelenanteile von Instagram herunterladen muss.
Die Ethnologin versucht es an der Kasse nun nach der Art fremder Eindringlinge. Sie hat es eilig, zu bahnbrechenden Ergebnisse zu kommen, der Besuch im Habitat neigt sich dem Ende zu.
Todesmutig setzt sie ein Lächeln auf und grüßt den jungen Kassierer. Grüßt zweimal, aber er redet mit einer Stimme im Ohr, sagt immer wieder gehorsam Ja. Die Stimme ist laut und keift auch. Vorsichtig inspiziert die Ethnologin den Mann: Ob Androiden in dieser Parallelwelt Pickel haben? Warum würde sich ein kriegerischer und aggressiver Stamm wie dieser sitzende Androiden halten? Computer sind ja eigentlich schon entwickelt. Die einzige Lösung, die ihr einfällt: Es muss sich um eine Art Sklavenwesen halten, die über einen Knopf im Ohr gesteuert werden, ohne eigenen Willen, Ja sagend. Sie sind aber schnell, doll, bei der Hitze, versucht es die Ethnologin mit einem kleinen Kompliment, wie man es in Frankreich so macht. Jetzt macht der Mann das Kinnladenritual ohne Kinnlade, nur mit großen Augen. Er schafft weiter und kurz vor Schluss sagt die Ethnologin frech Danke und wünscht ihm einen schönen Feierabend und ein erholsames Wochenende. Plötzlich glimmt in den Augen des jungen Mannes kurz etwas auf, das bei anderen Stämmen zu einem Lächeln geworden wäre. Na also, doch kein Android.
Aber die Ethnologin hat sich mit ihrem Verhalten als Ausländerin geoutet und damit die eigenen Studien torpediert. Man würde sich von nun an nicht mehr unbefangen vor ihr zeigen. Es ist ohnehin zu heiß und sie hat nur noch eines im Sinn: Das Hundefutter heimkarren zu dieser vierbeinigen Spezies, die ihr an diesem Tag irgendwie mehr liegt als kriegerische Stämme. Es tut gut, nach so viel Aggressivität und Keiferei und Messiemüll ein Pelzwesen wiederzusehen, das nur Freundlichkeit kennt.
Die Ethnologin steht vor dem Spiegel, einem, der nachweislich nicht lügt oder verzerrt. Die Fettschwabbelwaden haben sich in Muskelmasse verwandelt. Das Kiefergelenk ist untertrainiert, dieses spontane Unterkieferklappen will nicht recht gelingen. Immer wird ein Grinsen daraus. Aber die Ethnologin, die Pink liebt, weiß jetzt, welches Rosa sie aggressiv macht, fürchterlich aggressiv.
Freude gehabt? Ich habe auch Freude: an einem Eis, einem Kaffee oder mehr. Mit dem Button kommt ihr auf die Plattform Paypal und braucht kein eigenes Konto dort, um zu spenden. Zahlungen ab 2 E aufwärts sind möglich.
Es wurde zu einer Begegnung der dritten Art ... |
Wahrscheinlich war die Hitze schuld - selbst am Berg wurde der Asphalt flüssig. Ich beschloss deshalb, dringend und sofort Bermudas oder sehr schlabbrige, sehr dünne Hosen zu brauchen. Das Geld sitzt nicht locker, jeder Kilometer war mir zuviel und also landete ich in jenem Konglomerat von Discounterläden in einem KiK, einer Art Laden, die mich mit dreizehn, vierzehn Jahren fasziniert hätte. Die Klimaanlage lief knapp vor Permafrost, also probierte ich mich durch den Teil der Hosen, die nicht schon von weitem wie Schlafanzüge aussahen. Ich bin mir absolut sicher, es kann nur an den Zerrspiegeln in der Umkleidekabine gelegen haben: Egal, was ich anzog, ich sah aus wie Cindy aus Marzahn in ihrer schlimmsten Zeit. Pummelig, irgendwie gestaucht, mit Fett, wo vor diesem Ausflug eigentlich keins war. Ich schwöre!
Grauslig schlecht genähte Röhren schlabberten mir um die Oberschenkel und schnürten die Waden dafür wie Rollbraten ein. Kurze Hosen betonten den Bauch, waren dafür quietschgrellrosa. Was ausgesehen hatte wie eine irre bequeme Carogohose in Oliv, wirkte an mir wie ein Einkaufsnetz, in das jemand zig Rollbraten im Sonderangebot gestopft hatte. Ich war noch nie so hässlich und noch nie so grellfarbig.
Von Modeambitionen schlagartig geheilt, schaute mich in dem Chaos um. Man musste lustig Slalom um wilde Haufen von leeren Kartons fahren, manchmal stand Ware in den Gängen statt im Regal. Ich schrammte mit Schwung an einer Auslage plastikgärtnerischer Herbstfreuden vorbei (braune Blätter, nüssesammelnde Glubschhörnchen, kürbisartige Früchte) und bremste gerade noch rechtzeitig vor einer Verkäuferin, die Weihnachtsware einsortierte. Was mir auf der Zunge lag, sprach eine andere Kundin aus: "Sie verkaufen doch nicht etwa jetzt schon Weihnachtsdeko?"
Ja, das sei ganz praktisch, all die goldenen und glitzernden Laternchen, Lichtchen und dieses Dingsbumszeug, so verstand ich die Verkäuferin, könne man jetzt als Sommertrend anbieten und dann kurz vor Weihnachten einfach umetikettieren. Ich überschlug im Kopf die Abverkaufserwartung und konnte mich gerade noch zurückhalten, nach den Dominosteinen zu fragen. Ich wusste nur, ich musste raus, schon allein, um draußen die Hitze wieder ertragen zu lernen.
Eine ganze Menge Sprudel später signalisierte mir mein bereits hitzeweiches Hirn, dass ich für den Wochenendeinkauf keinen Meter weiter fahren würde. Ich würde auf der Rückfahrt schon genug verröcheln. Also ergab ich mich meinem Schicksal: da war nur ein Lidl. Ein Laden, in dem ich seit Jahrzehnten nicht eingekauft hatte, so gefühlt ... in dem ich grundsätzlich nicht einkaufe. Aber das dicke schneidige BMW-Cabrio auf dem Behindertenparkplatz direkt neben dem Eingang signalisierte mir: Hier würde ich wohl mehr Qualität erwarten können als Cindy. Ich setzte das Kopftuch ab und ein Ethnologengesicht auf. Ich liebe es, in fremden Kulturen zu erforschen, wo sich die vorgefundene Spezies vorwiegend aufhält und wie sie sich verhält. Warum also nicht auch einmal fremdartige Speisen kosten?
Meinen Schnaps, um Nüssli anzusetzen, muss ich wohl im Russenladen kaufen - hier gab es nichts über 40%, aber davon sackten die Leute reichlich ein, so billig gar nicht, aber dafür auch nicht gut. Nach einem ersten Orientierungsblick fühlte ich mich in einer Parallelwelt: So sehen also Läden aus, in denen sich Messies willkommen fühlen können. Waschmittel zwischen Nahrungsmitteln reingestopft, Getränke mal hier und mal da und mal dort gar nicht. Und irre lange Kühlregale mit fertig verpacktem Zeug, das man in Frankreich noch von Hand schneidet. Überhaupt glitzerte und glänzte es auch hier wie Weihnachten: Verpackungsmaterial in rauen Mengen. Selbst Gemüse und Obst in Plastikformen, mit Plastik umhüllt. Ich staunte über Muffins: sie waren in ihren Papierförmchen in Pappe gesetzt, die Pappe lag auf einer Plastikform und alles war nochmal in Plastik. Zuhause hatte ich so viel Plastikmüll für die Deponie zusammen wie sonst in einem Monat! Das war also dieses ökologisch bewusste Deutschland, das ich einst verlassen hatte, als es in Sachen Umweltschutz noch das große Vorbild in Europa gab?
Die Ethnologin forschte weiter: Was aß man eigentlich so in dieser fremden Kultur?
Das Hauptnahrungsmittel hieß XXL und schien von der Größe zur Figur der Einkaufenden zu passen. Man futterte XXL und trank es sogar. Auch das Kleingedruckte war XXL, obwohl es so klein gedruckt war, dass man es in Frankreich verboten hätte. Es roch nach künstlichen Aromastoffen, wenn eine Packung aufriss.
Ich habe schon lange nicht mehr solche Unmengen von fertig konfektioniertem Fleisch gesehen, Schweinefleisch vor allem, fettes Fleisch. In Marinaden, Tunken und Gewürzen, so dass man kaum die Qualität begutachten konnte. Dafür war es billigst billig. Schon vom Preis wurde mir schlecht. Es war eingeschweißt, womöglich schmeckte es sogar wie Weichplastik. Interessant für die Ethnologin zwischen den Fleischbergen: Die hier vorkommende Spezies lebte offensichtlich in riesigen Clans oder hatte halbe Dörfer zu versorgen, wenn ich mir die Fleischberge in den Wägen anschaute. Offenbar wurde das Ganze mit Bier fermentiert. Ähnlich mit den Würsten. Ich dachte kurz an meinen Hund und welch Paradies ... aber nein, der fraß ja all dieses Nitrit- und Phosphat- und Dingenszeug gar nicht.
Kinder quengelten um billigen Plastikkram. Ein Mann debattierte am Weinregal mit seiner Frau, sie habe genug Weißwein ... aber guck, die Frau da kauft auch welchen, sagte sie und zeigte auf eine mit vier Flaschen im Wagen. Na gut, sagte er, aber nur zwei, weil Wochenende ist, und ich trink Bier. Papa, du musst mir das kaufen, weil da ist eine Überraschung drin und man weiß nicht was man kauft und darum musst du und ichwilldasjetzthaben und du musst ... wo ist denn schon wieder diese verdammte Remouladensoße hin, diese verdammten Dreckskerle verstecken mir immer die Remouladensoße! Eine Frau angelt ein riesiges Brot mit einer völlig falsch geformten Schaufel, es gelingt ihr nicht auf Anhieb, wie auch. Muss wohl alles mit Gewalt, hä?, blafft sie ein männliches Geschöpf der beobachteten Art an. Die Weibchen der Spezies schimpfen Männchen an, sie sollten gefälligst dies und gefälligst das und schneller, aber plötzlich. Die männlichen Subjekte der Spezies keifen zurück, dass der XXL-Käse bestimmt so gesund sei wie der blöde Gesundjoghurt, wenn die Tusse was anderes wolle, solle sie doch Geld ranschaffen oder woanders einkaufen. Die Ethnologin notiert "Tusse", um das Wort bei Sprachstudien nachzuschlagen.
Wer nicht aufpasst, hat einen Einkaufswagen im Kreuz, wird von einem Bierbauch weggestoßen oder findet einen fremden Fuß auf dem eigenen. Die Ethnologin notiert, dass es sich um einen besonders aggressiven Stamm handeln muss, der sich womöglich auf dem Kriegspfad befindet. Vorsicht ist angesagt, um in diesem Messiedschungel zu überleben, in dem sich alle außer der Ethnologin völlig zuhause fühlen.
Erst jetzt fällt der Ethnologin auf, dass in diesem Habitat unterschiedliche Sprachen gesprochen werden. Breites Pfälzisch verlangsamt das Keifen unter Ehepartnern fast ins Gemütliche. Zwei Sachsen, die sich laustark über Biermarken aufregen, werden sofort als fremdartig erkannt: Die anderen Lebewesen gehen auf Sicherheitsabstand, von gefährlichen Sachsen hat fast jeder schon gehört. Kein kriegerischer Stamm erträgt es, wenn ein anderer ihn an Aggressivität übertrumpft.
Einer Frau fällt der Kinnladen herunter, weil ein Ausländer mit dunkler Haut ihr die gewünschte Ware aus einem viel zu hohen Regal herunterreicht. Die Ethnologin notiert, dass das Herunterklappen von Kinnladen hier offenbar als freudige Dankesbezeugung gilt. Im Ernstfall würde sie das auch praktizieren, um ein evtl. aggressives Subjekt mild zu stimmen. Man kennt das von Eingeborenenstämmen im Urwald: nur nicht gleich losgrinsen, erst die Mimik der anderen studieren. Nur nicht lächeln - Kinnlade herunterklappen!
Ebenfalls isoliert bewegt sich eine junge Familie durch den Laden. Ob es die slavisch klingende Sprache ist, die Vater, Mutter und ein kleines Kind miteinander sprechen? Die Ethnologin ist sich nicht so sicher. Irgendetwas an der Mimik und Gestik stimmt mit diesen Leuten nicht. Sie lächeln miteinander. Manchmal lacht die Frau fröhlich, wenn der Mann etwas sagt. Es klingt, als würde er gurren. Das Kind giggelt. Die Drei beherrschen dieses Kinnladendings nicht. Noch schlimmer: Sie sind höflich, weichen mit ihrem Wagen aus, machen neben alten Damen langsam. Könnte es sein, dass sie damit einen geheimen Code brechen? Dem Kriegerstamm womöglich den Glauben an irgendeine Gottheit nehmen?
Als diese Familie in der langen Schlange an der Kasse einen Mann mit weniger Ware vorlässt, ist die Welt wieder in Ordnung. Es geht ein Ruck durch die Schlange, durch die an der Nebenkasse auch - und wie in einer gleichgeschalteten Gesellschaft machen jetzt alle dieses Mimikritual mit der Kinnlade, dazu sehr große Augen. Wer Augen derart öffnet und Münder dazu, riskiert natürlich, dass die Seele durch die Körperöffnungen entweicht. Sofort wird beides wieder verengt - Fachliteratur des 19. Jahrhunderts verhandelt solche Spezies als primitiv. Und wirklich - eine Frau hält schnell und hektisch an einem Regal ihr Seelenimago mit dem Smartphone fest, sicher ist sicher. Man weiß in diesem Stamm offenbar nie, wann man mal wieder Seelenanteile von Instagram herunterladen muss.
Die Ethnologin versucht es an der Kasse nun nach der Art fremder Eindringlinge. Sie hat es eilig, zu bahnbrechenden Ergebnisse zu kommen, der Besuch im Habitat neigt sich dem Ende zu.
Todesmutig setzt sie ein Lächeln auf und grüßt den jungen Kassierer. Grüßt zweimal, aber er redet mit einer Stimme im Ohr, sagt immer wieder gehorsam Ja. Die Stimme ist laut und keift auch. Vorsichtig inspiziert die Ethnologin den Mann: Ob Androiden in dieser Parallelwelt Pickel haben? Warum würde sich ein kriegerischer und aggressiver Stamm wie dieser sitzende Androiden halten? Computer sind ja eigentlich schon entwickelt. Die einzige Lösung, die ihr einfällt: Es muss sich um eine Art Sklavenwesen halten, die über einen Knopf im Ohr gesteuert werden, ohne eigenen Willen, Ja sagend. Sie sind aber schnell, doll, bei der Hitze, versucht es die Ethnologin mit einem kleinen Kompliment, wie man es in Frankreich so macht. Jetzt macht der Mann das Kinnladenritual ohne Kinnlade, nur mit großen Augen. Er schafft weiter und kurz vor Schluss sagt die Ethnologin frech Danke und wünscht ihm einen schönen Feierabend und ein erholsames Wochenende. Plötzlich glimmt in den Augen des jungen Mannes kurz etwas auf, das bei anderen Stämmen zu einem Lächeln geworden wäre. Na also, doch kein Android.
Aber die Ethnologin hat sich mit ihrem Verhalten als Ausländerin geoutet und damit die eigenen Studien torpediert. Man würde sich von nun an nicht mehr unbefangen vor ihr zeigen. Es ist ohnehin zu heiß und sie hat nur noch eines im Sinn: Das Hundefutter heimkarren zu dieser vierbeinigen Spezies, die ihr an diesem Tag irgendwie mehr liegt als kriegerische Stämme. Es tut gut, nach so viel Aggressivität und Keiferei und Messiemüll ein Pelzwesen wiederzusehen, das nur Freundlichkeit kennt.
Die Ethnologin steht vor dem Spiegel, einem, der nachweislich nicht lügt oder verzerrt. Die Fettschwabbelwaden haben sich in Muskelmasse verwandelt. Das Kiefergelenk ist untertrainiert, dieses spontane Unterkieferklappen will nicht recht gelingen. Immer wird ein Grinsen daraus. Aber die Ethnologin, die Pink liebt, weiß jetzt, welches Rosa sie aggressiv macht, fürchterlich aggressiv.
Freude gehabt? Ich habe auch Freude: an einem Eis, einem Kaffee oder mehr. Mit dem Button kommt ihr auf die Plattform Paypal und braucht kein eigenes Konto dort, um zu spenden. Zahlungen ab 2 E aufwärts sind möglich.
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