Du wachst auf und es ist dunkel
Ich bin heute morgen aufgewacht und dachte spontan: Wie toll, dass ich gleich wieder hauen und stechen kann! So lässt sich die Realität aushalten. Das erschreckt mich sehr.
Gegen die Dunkelheit ankämpfen ... (C by Petra van Cronenburg) |
Zum Glück handelt es sich bei mir nur um Malmesser und Malspachtel und andere komische Gegenstände, die ich zum Malen umfunktioniere. Ich schlage nur mit Farbe zu in einer Welt aus zunehmenden Schwarz-Weiß-Tönen.
Das neue Bild war zuerst eine Landschaft in Schwarz. Hellschwarz, Dunkelschwarz, wie meine Anfangslaune. Und dann habe ich dem Schwarz den Kampf angesagt. Ich will nicht tatenlos dasitzen, während Vollpfosten, Vollhorsts, Trumpel und andere Gierlinge uns die bunte Welt zerstören, die Generationen mit so vielen Mühen auf den Trümmern einstiger Barbarei aufgebaut haben. Ich will nicht, dass Barbarei auch nur im Ansatz öffentlich gedacht wird. Aber wenn ich das Radio anschalte, höre ich, dass das fast im Stundentakt geschieht. Selbst diejenigen, die eigentlich Demokratie und Menschenrechte und Rechtsstaat verteidigen wollen, nehmen die erschreckensten Wörter in den Mund. Da sollen Lager entstehen, deren Doppelwort man mit den Anfangsbuchstaben als KZ abkürzen müsste - und kein Politiker erinnert sich an irgendetwas dabei? Aber die Dänen haben jetzt ja auch Ghettos. Geht ruckzuck, sowas.
Erich Kästner hat mal geschrieben:
Was immer auch geschieht:Nie sollt Ihr so tief sinken,von dem Kakao, durch den man Euch zieht,auch noch zu trinken!
Ich fühle mich hilflos mit meinem Malmesser.
In Wirklichkeit bin ich noch hilfloser: Ich kann nicht mehr schreiben. Vor wenigen Jahren noch konnte ich mich vertrauensvoll für mein Nijinsky-Buch gedanklich in die tiefsten Abgründe dessen begeben, was Menschen anderen Menschen anzutun imstande sind. Ich konnte mich selbst beruhigen, dass all dies Geschichte sei, dass wir darüber hinweg wären. Ich konnte mich frei entscheiden, was ich meinen LeserInnen etwa als Einblicke in die brutale Psychiatriegeschichte zumuten wollte und die Originalquellen dabei selbst aushalten. Weil ich mir sagen konnte: Nie wieder wird Ähnliches in der Gegenwart in einem zivilisierten Land geschehen. Heute lese ich, wie die isolierten Flüchtlingskinder in den USA mit übelsten Psychopharmaka und sogar Parkinsonmedikamenten zwangsweise "ruhiggestellt" und geschädigt werden.
Zivilisation ist nur eine hauchdünne Papierschicht auf einem Vulkan. Durch die Ereignisse beim Wirbelsturm Katrina hätten wir lernen können, wie schnell sie zerbrechen kann, wie innig sie gepflegt und gehegt werden will.
Würde ich heute Bücher*** schreiben wollen, müsste ich an diesen Abgrund ran, müsste als Autorin auch die Papierschicht in mir befühlen: wie weit sie standhält, ob sie vertrocknet, Risse bekommt - und wie das möglich ist, dass ich wider besseren Wissens nicht jeden einzelnen Tag auf sie achte. Heute hätte ich Angst, da könne etwas einreißen beim Schreiben. Heute kann ich manchmal nicht mehr unterscheiden, was mich mehr narrt: die Realität oder die Fiktion.
Aber selbst im Papieratelier hat sich etwas verändert. Ich kann nicht blind jedes Papier zu Perlen und Schmuck verarbeiten. Da ist einmal die äußere Qualität. Es gibt aber auch eine innere, auf die ich achte. Nie könnte ich einer Frau zumuten, ein Collier aus Tageszeitungen zu tragen. Ich kann eine Rede Seehofers mit Leichtigkeit in eine Horrormaske verwandeln oder in wunderschöne bunte Perlen - aber nie könnte ich jemandem zumuten, diese Energien auf der Haut zu tragen.
Unser aller Haut wird dünner. Aber wir haben nur diese eine Haut auf dem Vulkan.
***Anmerkung: Natürlich kann man Bücher auch "einfacher" schreiben, ohne all das Abgrundgetue. Aber das ist "nicht meins". Meine Themen sind die Bruchstellen.
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