Real Time - halten wir die aus?

Bleibendes, Bedeutsames

Es gibt diese Bücher, die genau am richtigen Ort zur richtigen Zeit auftauchen. Für mich ist das im Moment "Eine amerikanische Fahrt" von Patrick Roth. Ein Buch, in dem es sehr intensiv um jene magischen Momente in Filmen (wie im Leben) geht, die durch die eigene Wahrnehmung mit Bedeutung aufgeladen werden, so dass sie eine sehr eigene innere Landkarte von Bildern ausmachen, eine Art Wegweiser. Es ist dieses Mysterium, das Carl Gustav Jung in seiner Theorie von der Synchronizität beschrieb und das die Grundessenz künstlerischer Wahrnehmung bildet. Darum immer auch in Literatur zu finden ist: Ein zufälliger Moment, der Sinnhaftigkeit zeigt, indem er sich in meiner Wahrnehmung mit anderen Momenten bildhaft verbindet. Plötzlich hat ein Augenblick in einem Film, einem Buch, einem Musikstück mir persönlich etwas ganz Besonderes zu sagen. Rückt mir im Leben auf den Leib.



Roth erzählt von anderen Filmmomenten, in denen diese Beziehung zum Leben besonders deutlich wird. Er nennt sie amerikanisch real time. Cowboys setzen sich ans Lagerfeuer. Wo gerade noch Pferde über die Leinwand fegten, verlangsamt sich die Handlung: Eine Hand legt ein Holzscheit nach, jemand reicht eine Tasse mit Kaffee, ein anderer lehnt sich gemächlich zurück, man schwatzt miteinander. Real Time - so langsam wie im Leben bewegen die sich auf der Leinwand, geben dem Zuschauer Ruhe. Oder der Film, in dem wir dabei sind, wie die Darstellerin einen Brief schreibt. Auf Papier, mit Tinte. Wir folgen jedem einzelnen Buchstabenbogen, jedem Wort. Die Zeit scheint sich zu verlangsamen, da wird kein Plot weitergetrieben, nein, die Zuschauer werden in real time mit jenem magischen Moment konfrontiert, jener Sinnhaftigkeit.

Patrick Roths Überlegungen zu jenen unvergesslichen Momenten, die sich ewig ins Gedächtnis eingraben, faszinieren mich deshalb so besonders, weil ich mich in meinem entstehenden Roman mit genau dem Gegenteil beschäftige. Einer meiner Protagonisten jagt voller Sehnen nach dem Beständigen, der Greifbarkeit von Historie, uralten Filmen nach. Manche von ihnen sind vielleicht nur ein Mythos, wurden nie gedreht, sind vage Bilder im Kopf. Andere drohen, noch vor dem Auffinden, sich selbst zu zersetzen - das Material alter Stummfilme ist nicht für die Ewigkeit gemacht. Die Rasanz des Zerfalls, des Vergessens in unserer Zeit. Wie viel real time ist noch möglich, wie schnell surfen wir von Bild zu Bild, von Oberflächen getrieben? Ist da die Wahrnehmung von Essenz, vom Bleibenden und Bedeutsamen überhaupt noch möglich? Es gibt so viele Bereiche, wo ich mir mehr real time wünsche! Aber bei den Büchern fällt es mir besonders auf.


Ungeschliffene Diamanten

Ich lese gerne Erstlinge von sehr berühmten Schriftstellern. Weil ich in diesen Büchern oft noch den ungeschliffenen Rohdiamant hervorblitzen sehe, weil sie so ungeheuer lebendig Begabungen neben Schwächen zeigen, kurzum: eine Schriftstellerpersönlichkeit, die noch Ecken und Kanten hat. Viel Zeit und Mühen wurden in diese Schriftsteller investiert, ihr eigener Weg in den Erfolg war in der Regel arbeitsreich und lang. Literatur muss reifen können - und jedes Buch hat seine ganz eigene Zeit. Patrick Roth hat an seinem neuesten Roman sechs Jahre gearbeitet.

Und dann erlebe ich eine absolut wahnwitzige Raserei unter so vielen Anfängern in so vielen Künsten. Opernstimmen werden ruiniert, weil man sich in der Sucht nach dem schnellen Ruhm ganz allein aufs Glätten für bestimmte Publikumswünsche konzentriert, anstatt jenseits der Stimme zu entwickeln, was die ganz großen Sänger der Vergangenheit ausgemacht hat: Persönlichkeit. Charakterbildung. Beides hat so viel Einfluss auf Stimme und Auftreten! Ich habe Maler erlebt, die hochbegabt waren und Begnadetes hätten schaffen können. Wenn sie den Mut zur real time gehabt hätten, zur Langsamkeit, die Kunst nun einmal braucht. Und dann hat der eine seine Malerei aufgegeben, weil er lieber auf gewissem Standard leben wollte, und das bitte schnell. Und der andere malt heute Kilometerware im Auftrag für Möbelhäuser, weil er dadurch bequemer zu Geld kam. Dieses "Malen Sie mir doch etwas Passendes zu einem roten Sofa" hat ihn als Künstler völlig zerstört: Sein Talent ist verkümmert. Er kann gar keine Kunst mehr schaffen, er ist innerlich kaputt, leer.

Auch mit dem Schreiben geht es manchen nicht schnell genug. Kaum ist das erste Lob da, werden sie übermütig und ruhen sich auf ihren Lorbeeren aus - im Unterhaltungsbusiness nennt man das "Eintagsfliegen", die Charts der Popmusik sind voll davon. Verlage kaufen nicht umsonst lieber Autoren ein, die mehr als nur ein Buch anbieten, die den Biss haben, dranzubleiben. Andere beobachten den lieben langen Tag nur noch Rankings und Verkaufszahlen, anstatt in dieser Zeit vielleicht gute Bücher zu lesen, von denen sie noch viel lernen könnten. Oder sie lassen sich von Fabrikschreibern und manchen Verlagen irre machen, dass ein Buch pro Jahr doch nun wirklich viel zu langsam sei, dass so ein Roman durchaus auch in drei Monaten zu bewältigen wäre. Patrick Roth hat an seinem letzten sechs Jahre lang geschrieben.

Und ja, es gibt auch diejenigen, die sich die eigene Stimme zerschreiben, bevor sie überhaupt voll entwickelt ist. Die ihrem Talent nicht diese real time schenken, die es braucht, um stark genug zu werden - durch das notwendige Wissen, das Handwerk, vor allem aber die Erfahrung. Erfahrung, die es ermöglicht, die eigenen Schwächen langsam abzuschleifen, mit genau der Geschwindigkeit, die gezielte Erosion braucht, um nicht den ganzen Berg zu zersetzen. Erfahrung, die im Verborgenen, Intimen, vonstatten gehen muss, nicht im schrillen bunten Kauf-mich-Kaufhaus.

Gewiss, auch hier lockt die große Bühne, die Illusion vom schnellen Welterfolg. Was tun manche nicht alles, um all diese Rankings zu erklimmen, um Verträge mit großen Verlagen abzuschließen. Und ist man erst einmal drin in der Maschinerie, dann geht es einem vielleicht wie dem jungen Opernsänger, den es schier zerreisst. Heute in New York, morgen in Tokio, Hauptsache genug Kohle und passend zur PR-Kampagne. Wer man selbst ist, was man selbst wollte, was man selbst kann und vor allem noch nicht kann ... das kommt unter die Räder, weil für real time keine Zeit mehr ist. Auch große Namen werden gezwiebelt, immer schneller und sogar Unvollkommenes anzubieten. Image statt Bildtiefe. Viele Lektorate orientieren sich eher an Verkaufbarkeit denn an künstlerischer Entwicklung. Die braucht Zeit, die braucht Kennerschaft - und Mühe. Wer von all diesen wohlfeilen Beratern aber will uns wohl? Und wer will nur unser Geld? Wer ist wirklich daran interessiert, Rohdiamanten zu ihrem schönstmöglichen Glanz zu schleifen, Künstler bei der Entwicklung ihres Charaktere zu unterstützen? Time is money. Wir zahlen an die grauen Herren der Zeitsparkasse.

Halten wir es wirklich noch aus, wenn die Schauspielerin auf der Leinwand Wort für Wort an einem Brief schreibt, mit Tinte auf Papier? Hätten wir die Szene mit den Cowboys am Feuer nicht am liebsten gekürzt, "damit es den Plot vorantreibt"? Überhaupt, all dieses Pferdegetrappel zwischen den bedeutsamen Momenten, cut - cut - cut! Das muss doch effektiver gehen!

Magische Momente der Bedeutsamkeit, Bilder, die sich bei Generationen von Menschen unlöschbar ins Gedächtnis einbrennen, auch all diese zufälligen Metaphern für den eigenen Weg - sie funktionieren so nicht. Schneiden wir unseren Film zu schnell, übersehen wir diese Momente. Wir können ihre Bedeutung nicht mehr lesen. Da leuchtet nur noch als Dekoration ein Lagerfeuer kurz auf, Image, Oberfläche. Und wir sind womöglich dabei, uns selbst zu verpassen, real time.

2 Kommentare:

  1. Habe den Artikel übrigens gelesen, über FB, liebe Petra, nur fiel mir heute Morgen auf die Schnelle nichts ein. Hat mir sehr viel gebracht und mich darin bestärkt, mich nicht unter Druck zu setzen oder setzen zu lassen.

    Herzlichst
    Christa

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  2. Freut mich, wenn ich zum Durchatmen anstiften kann, liebe Christa! Ich denke, nicht nur jede Geschichte hat ihren eigenen Atem, auch jeder einzelne Autor, jede Autorin.
    Herzlichst, Petra

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