Das Menschenbuch
Es ist an sich eine Preziose mit seinem in Gold und Relief geprägten Einband, der einem französischen Stoffmuster aus den 1860ern nachgebildet ist, mit dem feinen Vorsatz- und Innenpapier, dem Lesebändchen und einer Einschubtasche für Zeichnungen und Zettelchen. Die Klappe, die das Ganze wie ein Schuber schützt, haftet mit einem Magnetverschluss. Von meinem Menschenbuch (bei Paperblanks zu haben) trenne ich mich nie - und wahrscheinlich hasse ich winzige Handtaschen deshalb, weil man darin nicht mindestens ein solches Buch verschwinden lassen kann.
Bei meinem Roman "Alptraum mit Plüschbär" wurde ich immer gefragt, ob das, was ich erzähle, nicht alles verdammt echt sei und womöglich ich die Protagonistin. Eine Frau im Dorf ereiferte sich böse bei ihren Freundinnen (die mir das wieder hintertrugen), ich hätte mich in der Gestalt der Hanna über sie lustig gemacht. Eine andere Frau bei einer Lesung rief entzückt: "Die Hanna, das bin ja ich!" Und eine junge Frau nahm mich verschwörerisch beiseite, ich solle ihr doch bitte haarklein alles über diesen Typen mit dem Decknamen "busby_racer" erzählen, denn ihr sei ganz stark der Verdacht gekommen, mit dem sei sie schon mal im Bett gelandet. Diese Figuren seien also so echt, dass sie einfach - echt sein müssen!
Tatsächlich fröne ich beim Romaneschreiben einer gewissen Faulheit, um mich von den aufwändigen Recherchen meiner Sachbücher zu erholen: Die Geschichten spielen dort, wo ich mich auskenne, also im deutsch-französischen Grenzland anstatt in New York oder auf Hawaii. So liefere ich mich natürlich dem Verdacht aus, mich womöglich am unliebsamen Nachbarn zu rächen, indem er in einer miesen Rolle im Buch landet. Natürlich habe auch ich einen solchen Nachbarn, einen Kerl, den das ganze Viertel nicht leiden kann, weil er sich gegen alle stellt und fiese Dinge tut. Dem man dann durchaus auch mal die Polizei vorbeischickt. Aber erstens schreibe ich - noch - keine Krimis und zweitens wollte ich nicht meine wertvolle Energie mit solchen Zeitgenossen vertun. Wie also entstehen solche Figuren wie die von ihrem Mann plötzlich verlassene Karen, die ausgeflippte Jana, die bodenständige Hanna oder der rundum sympathische "Sahneengel" Tom?
Wahrscheinlich wie bei den meisten Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Ich gehe wie ein Schwamm durchs Leben. Ich habe eine Berufsdeformation in der Wahrnehmung, die ich nicht abschalten kann: Sie ist wach, sobald ich wach bin. Unauffällig beobachte ich Menschen, schaue sie mir genau an. Vor allem Bahnhöfe, Theaterpausen, Fußgängerzonen und Restaurants haben es mir angetan. Denn dort kann ich aus dem Vollen schöpfen. Ich sauge alles auf, was mir besonders auffällt, aus irgendeinem geheimnisvollen Grund. Ich sammle Gesten, eine bestimmte Mundhaltung, eine auffällige Stimme, vielleicht sogar den Dialogfetzen des Paares am Nebentisch, bevor sich beide nur noch anschweigen.
Das alles passiert unbewusst. Nur manchmal ist ein Bild so stark, dass ich es festhalten muss. Manchmal begegnet mir ein Mensch, der irgendetwas an sich hat, das ich auf immer konservieren möchte, weil es so besonders ist, weil es diesen Menschen oder eine bestimmte Situation so nachhaltig ausmacht. Dafür brauche ich dann mein Menschenbuch. Die Konservierung ist ein Ritual, das zelebriert werden will, denn ich rufe mir dafür jede Einzelheit noch einmal lebendig ins Gedächtnis. Als ich am Freitag durch das Nachbardorf fuhr, schrie ich sogar laut im Auto: "Das muss ins Menschenbuch!" Eine alte Frau stand in einem über und über blühenden Bauerngarten, gekleidet in ein altmodisches Blumenkleid, eine verblichene Männerjacke eines Blaumanns darüber und einen zierlichen Strohhut auf dem Kopf. Sie lächelte so glücklich, völlig versunken in die Blüten.
Ein Fotograf hätte in solchen Situationen seinen Fotoapparat dabei. Ich fotografiere in solchen Situationen bewusst nicht, weil es mein inneres Bild aufheben würde, weil ich die Stimmung, die Farben, die Bewegungen und all das Erlebte erst eine Weile mit mir herumtragen muss. Und wenn das Bild dann noch so stark lebt, dass es mich zwingt, schreibe ich es in voller Konzentration in mein Menschenbuch. Fotos mögen vergehen - diese inneren Bilder bleiben mir ein Leben lang. Ich kann mich an viele solcher Bilder seit meiner frühesten Kindheit erinnern. Als ich ein Kind war, hatte ich die Vorstellung, eines Tages in größtem Reichtum zu sterben - reich an Menschenbildern. Zuerst sammelte ich Menschen in Schachteln, später in Heften - und nun in den Menschenbüchern. Menschen faszinieren mich.
Da ist die Griechin aus der Stoffbranche, "ein kleiner knubbeliger Stoffballen von einer Frau, fleischige Nase, intensive schwarze Augen, ausladend in Körperbau und Gestik". Da ist die Frau mit dem inoperablen Hirntumor, die von ihrer Pilgerfahrt nach Lourdes schwärmt: "In der Zeit der Krankheit hat sie Geige spielen gelernt ... eine einsame kranke Frau, die innerlich wie äußerlich so strahlt, dass sie mit ihrem Glück die Normalen erschreckt." Ich finde aber auch Regenschirme mit echtem Pelzbesatz im Sonderangebot in Baden-Baden, den Laden, der pleite macht, weil die Besitzerin mit ihrem Metzger bei Parties das Geld durchbringt, oder eine bestimmte Nebelstimmung, in die ein Schaf scheinbar aus dem Nichts hinein ruft. Ich notiere besondere Beobachtungen an Spuren im Schnee: "Ein Mensch, der querfeldein scheinbar geradeaus auf einen Fixpunkt zugeht, läuft in leichten Schlangenlinien. Wird er von jemandem begleitet, zeigen diese einen Drall in Richtung des Begleiters und der Mensch gleicht diese Anziehung immer wieder aus."
So entstehen meine Figuren. Ich lese oft in diesem Buch und manchmal wollen bestimmte Gesten oder Blicke oder Worte einfach befreit werden ins Leben. In solchen Phasen können mir Menschen im echten Leben zu viel werden und ich wandere in stundenlanger Waldeinsamkeit in der Zwiesprache mit einer neu entstehenden Figur. Im Buch werden diese kleinen Blicke auf wahre Menschen verewigt. Aber sie nehmen neue Formen an. Da wächst die typische Geste der einen Frau mit einem Blick einer anderen Frau zusammen, ich borge mir eine Stimme, die ich zehn Jahre zuvor gehört habe, kleide sie in ein Kleid, das mir gerade in einem Schaufenster auffiel, und rede mit ihr, um zu erkunden, wer diese neue Figur sein mag. Irgendwann wird sie lebendig und nimmt mich bei der Hand, erzählt mir von ihrem Leben, ihren Sehnsüchten und Ängsten. Manche schaffen es nie ins Leben, sie bleiben Bestandteil meiner "Schatzkiste". Irgendwie, so habe ich den Eindruck, ist mein Erschaffen von Fiktionen auch eine Art Bewahrenwollen des Besonderen. Ein Zelebrieren von Erinnerungen in die Wirklichkeit hinein. Ein Bewahren der Momente, wo man sich dem Leben an sich besonders nah wähnt. Weil man im Roman Leben erschaffen muss ...? Karen, Dahlia, Tom, Luc und wie sie alle heißen - sie sind niemand und sie sind viele, sie sind die anderen und sie sind wir selbst.
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Meine Ideen entstehen in altmodischen Preziosen |
Bei meinem Roman "Alptraum mit Plüschbär" wurde ich immer gefragt, ob das, was ich erzähle, nicht alles verdammt echt sei und womöglich ich die Protagonistin. Eine Frau im Dorf ereiferte sich böse bei ihren Freundinnen (die mir das wieder hintertrugen), ich hätte mich in der Gestalt der Hanna über sie lustig gemacht. Eine andere Frau bei einer Lesung rief entzückt: "Die Hanna, das bin ja ich!" Und eine junge Frau nahm mich verschwörerisch beiseite, ich solle ihr doch bitte haarklein alles über diesen Typen mit dem Decknamen "busby_racer" erzählen, denn ihr sei ganz stark der Verdacht gekommen, mit dem sei sie schon mal im Bett gelandet. Diese Figuren seien also so echt, dass sie einfach - echt sein müssen!
Tatsächlich fröne ich beim Romaneschreiben einer gewissen Faulheit, um mich von den aufwändigen Recherchen meiner Sachbücher zu erholen: Die Geschichten spielen dort, wo ich mich auskenne, also im deutsch-französischen Grenzland anstatt in New York oder auf Hawaii. So liefere ich mich natürlich dem Verdacht aus, mich womöglich am unliebsamen Nachbarn zu rächen, indem er in einer miesen Rolle im Buch landet. Natürlich habe auch ich einen solchen Nachbarn, einen Kerl, den das ganze Viertel nicht leiden kann, weil er sich gegen alle stellt und fiese Dinge tut. Dem man dann durchaus auch mal die Polizei vorbeischickt. Aber erstens schreibe ich - noch - keine Krimis und zweitens wollte ich nicht meine wertvolle Energie mit solchen Zeitgenossen vertun. Wie also entstehen solche Figuren wie die von ihrem Mann plötzlich verlassene Karen, die ausgeflippte Jana, die bodenständige Hanna oder der rundum sympathische "Sahneengel" Tom?
Wahrscheinlich wie bei den meisten Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Ich gehe wie ein Schwamm durchs Leben. Ich habe eine Berufsdeformation in der Wahrnehmung, die ich nicht abschalten kann: Sie ist wach, sobald ich wach bin. Unauffällig beobachte ich Menschen, schaue sie mir genau an. Vor allem Bahnhöfe, Theaterpausen, Fußgängerzonen und Restaurants haben es mir angetan. Denn dort kann ich aus dem Vollen schöpfen. Ich sauge alles auf, was mir besonders auffällt, aus irgendeinem geheimnisvollen Grund. Ich sammle Gesten, eine bestimmte Mundhaltung, eine auffällige Stimme, vielleicht sogar den Dialogfetzen des Paares am Nebentisch, bevor sich beide nur noch anschweigen.
Das alles passiert unbewusst. Nur manchmal ist ein Bild so stark, dass ich es festhalten muss. Manchmal begegnet mir ein Mensch, der irgendetwas an sich hat, das ich auf immer konservieren möchte, weil es so besonders ist, weil es diesen Menschen oder eine bestimmte Situation so nachhaltig ausmacht. Dafür brauche ich dann mein Menschenbuch. Die Konservierung ist ein Ritual, das zelebriert werden will, denn ich rufe mir dafür jede Einzelheit noch einmal lebendig ins Gedächtnis. Als ich am Freitag durch das Nachbardorf fuhr, schrie ich sogar laut im Auto: "Das muss ins Menschenbuch!" Eine alte Frau stand in einem über und über blühenden Bauerngarten, gekleidet in ein altmodisches Blumenkleid, eine verblichene Männerjacke eines Blaumanns darüber und einen zierlichen Strohhut auf dem Kopf. Sie lächelte so glücklich, völlig versunken in die Blüten.
Ein Fotograf hätte in solchen Situationen seinen Fotoapparat dabei. Ich fotografiere in solchen Situationen bewusst nicht, weil es mein inneres Bild aufheben würde, weil ich die Stimmung, die Farben, die Bewegungen und all das Erlebte erst eine Weile mit mir herumtragen muss. Und wenn das Bild dann noch so stark lebt, dass es mich zwingt, schreibe ich es in voller Konzentration in mein Menschenbuch. Fotos mögen vergehen - diese inneren Bilder bleiben mir ein Leben lang. Ich kann mich an viele solcher Bilder seit meiner frühesten Kindheit erinnern. Als ich ein Kind war, hatte ich die Vorstellung, eines Tages in größtem Reichtum zu sterben - reich an Menschenbildern. Zuerst sammelte ich Menschen in Schachteln, später in Heften - und nun in den Menschenbüchern. Menschen faszinieren mich.
Da ist die Griechin aus der Stoffbranche, "ein kleiner knubbeliger Stoffballen von einer Frau, fleischige Nase, intensive schwarze Augen, ausladend in Körperbau und Gestik". Da ist die Frau mit dem inoperablen Hirntumor, die von ihrer Pilgerfahrt nach Lourdes schwärmt: "In der Zeit der Krankheit hat sie Geige spielen gelernt ... eine einsame kranke Frau, die innerlich wie äußerlich so strahlt, dass sie mit ihrem Glück die Normalen erschreckt." Ich finde aber auch Regenschirme mit echtem Pelzbesatz im Sonderangebot in Baden-Baden, den Laden, der pleite macht, weil die Besitzerin mit ihrem Metzger bei Parties das Geld durchbringt, oder eine bestimmte Nebelstimmung, in die ein Schaf scheinbar aus dem Nichts hinein ruft. Ich notiere besondere Beobachtungen an Spuren im Schnee: "Ein Mensch, der querfeldein scheinbar geradeaus auf einen Fixpunkt zugeht, läuft in leichten Schlangenlinien. Wird er von jemandem begleitet, zeigen diese einen Drall in Richtung des Begleiters und der Mensch gleicht diese Anziehung immer wieder aus."
So entstehen meine Figuren. Ich lese oft in diesem Buch und manchmal wollen bestimmte Gesten oder Blicke oder Worte einfach befreit werden ins Leben. In solchen Phasen können mir Menschen im echten Leben zu viel werden und ich wandere in stundenlanger Waldeinsamkeit in der Zwiesprache mit einer neu entstehenden Figur. Im Buch werden diese kleinen Blicke auf wahre Menschen verewigt. Aber sie nehmen neue Formen an. Da wächst die typische Geste der einen Frau mit einem Blick einer anderen Frau zusammen, ich borge mir eine Stimme, die ich zehn Jahre zuvor gehört habe, kleide sie in ein Kleid, das mir gerade in einem Schaufenster auffiel, und rede mit ihr, um zu erkunden, wer diese neue Figur sein mag. Irgendwann wird sie lebendig und nimmt mich bei der Hand, erzählt mir von ihrem Leben, ihren Sehnsüchten und Ängsten. Manche schaffen es nie ins Leben, sie bleiben Bestandteil meiner "Schatzkiste". Irgendwie, so habe ich den Eindruck, ist mein Erschaffen von Fiktionen auch eine Art Bewahrenwollen des Besonderen. Ein Zelebrieren von Erinnerungen in die Wirklichkeit hinein. Ein Bewahren der Momente, wo man sich dem Leben an sich besonders nah wähnt. Weil man im Roman Leben erschaffen muss ...? Karen, Dahlia, Tom, Luc und wie sie alle heißen - sie sind niemand und sie sind viele, sie sind die anderen und sie sind wir selbst.
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