Wenn E-Texte stinken und spitze Metallröhren schleudern

Als Kind hatte ich einen phantastischen Lehrer. Der prüfte regelmäßig altgriechische Vokabeln und ertappte mich dabei, dass mir partout die deutsche Bedeutung nicht einfallen wollte, denn so richtig fleißig hatte ich nicht gepaukt. Ich behauptete, zu wissen, was das Wort bedeute, das auf Seite 32 links oben in der zweiten Kolumne in der dritten Zeile stünde, nämlich genau das, was er uns drei Stunden zuvor in vier Sprachen auf dieses alte Notenpapier geschrieben habe, das so nach Haferflocken rieche, etwa 8 cm vom linken Rand in der neunten Zeile. Er gab mir die volle Punktzahl, weil er meinte, es sei viel komplizierter, sich all das zu merken als eine läppische Vokabel. Dabei habe ich nur ein ausgezeichnetes visuelles Gedächtnis ... wenn es um Papier oder andere dreidimensionale Darstellungen geht, also Dinge, die vielleicht zweidimensional dargestellt sind, die ich jedoch in die Hand nehmen kann.

Als sich die ersten E-Reader wirklich etablierten, brandete in der Branche und unter Lesern eine hochemotionale Diskussion auf. Es wurde behauptet, ein E-Book würde ein gedrucktes Buch nie und nimmer verdrängen. Am ehesten wurden für Argumente alte Vertrautheiten bemüht: Dass eine Bibliothek als Raum eine besondere, begehbare Ausstrahlung habe - und dass E-Books das "Haptische" fehle. Inzwischen sind wir zum Glück etwas weiter: Wir haben gelernt, dass beide Medien friedlich miteinander koexistieren können. Nicht nur, weil sie unterschiedliche Bedürfnisse befriedigen, sondern weil sie auch für unterschiedliche Arten des Lesens ganz eigene Vor- und Nachteile haben. Längst gibt es Autoren, die darüber nachdenken, ob auch das Schreiben für das Medium E-Book ein anderes sein dürfte als das für Print - es ist ja eigentlich dämlich, ein und diesselbe Gewohnheit 1:1 auf einen anderen medialen Träger zu transportieren, ohne dessen Eigenheiten wirklich auszunutzen. Doch trotz aller Offenheit - die Debatte unter Buchmenschen ist nach wie vor emotional geladen.

Nun hat sich auch der Scientific American des Themas angenommen und untersucht wohltuend unaufgeregt, ob sich das Lesen vom Display oder Bildschirm nicht doch vom Lesen von Papier unterscheidet: "The Reading Brain in the Digital Age: The Science of Paper versus Screens." Auch für wissenschaftliche Laien verständlich und sehr spannend geschrieben, etwa, wenn berichtet wird, dass wir Buchstaben zunächst wie dreidimensionale Objekte wahrnehmen und im Gehirn daraus "Landkarten" formen. Zu denen bieten Papierbücher kulturell erlernte zusätzliche Orientierungspunkte: etwa die Gesamtdicke eines Buchs, von außen sichtbare Eselsohren, das Cover. Ist schon einmal jemandem aufgefallen, dass man beim zugeklappten Papierbuch immer Autor und Titel in Erinnerung gebracht bekommt, sich aber beim E-Book manchmal den Namen des gerade gelesenen Autors überhaupt nicht merken kann?

Mir ist bei der Lektüre des Artikels aufgefallen, dass ich als Synästhesistin manchmal anders "ticke" und darum ganz eigene "Erfahrungen" bei den unterschiedlichen Arten des Lesens habe. Beim Schreibprozess arbeite ich absichtlich und sehr stark mit Synästhesie: Erst wenn bestimmte Formen (die nur ich wahrnehme) und zwei- oder dreidimensionale Bilder und deren Töne stimmen, ist mein Text fertig redigiert. Ich kann zwar bis heute kaum eine Kommaregel aufsagen, aber dafür spüre ich falsch gesetzte Kommata als superfeine, spitze Metallröhren, die sich in den Ellbogen bohren: ekelhaft! Und natürlich lernt man oft schon als Kind, kulturell und sozial bedingt, so etwas zu filtern. So mag es zar hip klingen, wenn ich ein Bild von Kandinsky wie eine Symphonie hören kann; aber wenn mich jemand fragt, wie die tolle rote Erdbeere schmeckt, dann muss ich gelernt haben, dass der "süß" oder "sauer" hören will und nicht: "Genauso, wie der soundsovielte Satz in der Symphonie von Gustav Mahler bei einem Sonnenuntergang im Sommer ausieht". Es ist schon vertrackt, wenn man mit Worten beschreiben will, was Bewusstsein mit Wörtern anstellt.

Beim Lesen ist das nämlich bei mir genau umgekehrt. Da entschwinde ich in einem guten Buch in eine andere Welt, aber die entspricht einfach nur meiner Fantasie und dem, was der fremde Autor mir bietet ... und ob er das gut kann. Laufen zwei Personen in einem Buch durch einen blühenden Apfelgarten, geht es mir womöglich wie allen anderen Lesern auch: Ich sehe zwei Leute wie in einem Traum oder einem Film in einem Apfelgarten. Je nach Detailreichtum der Beschreibung sehe ich ein bestimmtes Licht auf den Zweigen und höre die Worte der Figuren. Aber mehr auch nicht. Ich rieche keine Blüten. Ich hör-sehe nicht, was bei echtem Blätterrascheln passiert. Nur die wenigsten Schriftsteller können mich Szenen riechen und schmecken lassen, wie das etwa Patrick Süßkind konnte. Obwohl ich dessen "Parfum" selbst auch nicht roch, sondern eher den Dreck auf den mittelalterlichen Straßen.

Ja, natürlich lege auch ich Landkarten des Gelesenen an, aber das sind bei Papier Landkarten bewusster Kontrolle. Wie bei den Vokabeln einst kann ich mir merken, wer auf welcher Seite stirbt oder rülpst. Und als erfahrene Autorin muss ich nur die Dicke des bereits Gelesenen zwischen zwei Finger nehmen, um sagen zu können, in welchem Akt sich der Plot bewegt und wann spätestens ein "Turning Point" kommen müsste. Es ist eine bewusste Wahrnehmung von außen, die den Apfelgarten als Welt an sich ausschließt.

Ganz genau wie im Artikel beschrieben, verliere ich mit dem E-Book die Navigation dieser "äußeren" Lesewelt. Das hat Nachteile: Etwa den, dass mir mit dem Reader ständig der Titel des "aufgeklappten" Buchs entfällt. Ich lese gerade dieses Buch von diesem berühmten Amerikaner, der irgendwie wie ein Tier klingt und unwahrscheinlich viele Seiten über diesen Jungen geschrieben hat. Und der Vater säuft ständig und macht was mit Engeln. (Thomas Wolfe: Schau heimwärts, Engel)

Dafür passiert mir aber etwas anderes. Etwas, das ich schon seit Computerzeiten beim Surfen erlebe: Ich nehme virtuelle Dokumente aller Art als Räume wahr. Es ist am ehesten vergleichbar mit einem Computerspiel. Wenn ich etwa bei einer Fachrecherche zig Tabs im Browser geöffnet habe, auf denen ich kreuz und quer durch unterschiedliche Websites und Archive gesurft bin, so weiß ich, schneller als die Browser-History mir erklären kann, dass ich in die New York Library nur komme, wenn ich auf dem Paris-Tab über die quietschorangefarbene Privatwebsite rückwärts durch den schrägen Link hinter den Bildern dreimal nach rechts abbiege. Oder so ähnlich ... Die virtuellen Leseräume absorbieren mich. Ich kann beim besten Willen nicht sagen, wie viele Seiten ich schon von Thomas Wolfe gelesen habe, aber ich weiß, wie viele Schritte der Junge von seinem Zuhause zur Werkstatt seines Vaters geht, wo die Berge liegen und wie ich einen Bogen um seine Kumpels hinter einem der Gartenzäune machen könnte. Ich kann jede Episode des Romans quasi im Kopf anklicken und bin sofort in dieser "virtuellen" Welt, ohne ein Gefühl für Seiten oder Kapitel zu haben.

Mir fehlt in der Tat jene Kontrollinstanz der dreidimensionalen Wahrnehmung von Papier: Ich stürze direkt in die Geschichte! Irgendwann habe ich mich einmal mit dem Reader in der Hand gefragt: Was riecht denn plötzlich so streng im Zimmer? Pfui Teufel! Da war weder der Geruch von Leim noch von Papier, der mich ablenken konnte. Es stank einfach nur jämmerlich. Und ich brauchte wirklich eine Schrecksekunde, bis ich merkte, dass ich jenen sturzbesoffenen und ungewaschenen Vater im Roman roch - und zwar so lange, bis ihn der Autor endlich gnädig von der Bühne nahm. Der Apfelgarten, der beim Papierbuch reiner Film bleibt ... vom E-Reader gelesen ist er Teil eines riesigen Computerspiels mit unterschiedlichen Räumen einer Geschichte - und er duftet! Endlich nicht mehr abgelenkt von papiereigener Haptik und Sinneswirkung, spielen meine Sinne mit den Inhalten selbst. Und verlieren die Orientierung jener Welt, die das hergestellte "Objekt" betrifft. Aber ist das immer so schlimm?

Tatsächlich bemerke ich nach längerer Eingewöhnung mit dem Reader, dass ich mich unterschiedlich beim Lesen verhalte. Wie in den Anfangszeiten des Internet lese ich auch wissenschaftliche und Fachtexte "virtuell", vor allem zum schnellen Durchsurfen. Was ich dann aber wirklich brauche, womit ich nachher arbeite - ja, ich drucke es aus. Denn dann muss ich frei mit dem Bleistift Notizen machen können, im Text herumfuhrwerken ... und ein eigenes System von Eselsohren anwenden dürfen. Räumt niemand meinen Stapel Papiere auf, weiß ich mit einem einzigen Handgriff, wo ein gesuchter Artikel liegt - auf meinem Computer muss ich selbst vertraute Dateien oft suchen. Aber da ist der große Unterschied zwischen Computer und E-Ink, denn letzteres ist eben kein "Screen": Es ist stressfrei, absolut augenfreundlich, viel augenfreundlicher als so manche gedruckte Typografie. Ich lese noch schneller, noch mehr, ohne irgend ein Übersättigungsgefühl. Auf die Art kann man Bücher "fressen".

Zum Lesen auf E-Ink kommt eine zweite Hirntätigkeit hinzu: das Lernen. Seit dieses Lesen mit integriertem Wörterbuch möglich ist, wage ich mich auch an schwierigere Texte in anderen Sprachen und vergrößere meinen Wortschatz mit jedem Buch. Ich stelle fest, dass ich solche Bücher gleichzeitig auf zwei Ebenen wahrnehme: Da ist die ganz normale Ebene der Geschichte ... und da ist eine mehr oder weniger bewusste Ebene von Sprachwahrnehmung, wo ich mich an einem Klang erfreue, mich in einer unbekannten Redewendung geradezu wälzen möchte, fasziniert bin von verwandten Worten. Es ist eine Ebene, wie sie beim Lesen literarischer Bücher ebenfalls vorkommt: Dieses Schwelgen in Sprache neben der Verzauberung durch den Inhalt.

Aufgrund des "easy reading" und des Computerspieleffekts lese ich auf dem Reader zwar auch alles, aber am liebsten Romane der Sorte "Bettlektüre". Ich bin in der Geschichte drin wie ein Avatar und erlebe sie mit allen Sinnen. Inzwischen verschiebt sich bei mir etwas im Papierbereich. Ich akzeptiere nicht mehr jedes schlechte oder unpassend als Objekt gestaltetes Buch. Ein uralter Band von Virginia Woolf vom Flohmarkt vermittelt mir, dass hier etwas "richtig" riecht und klingt. Aber eben habe ich ein Taschenbuch aus einem literarischen Verlag aufgeklappt, die Klebung brach mit dem falschen Ton, der Buchrücken "roch" billig, die Haptik war die eines billigen Print-on-Demand-Objekts. Bei diesem Buch bekam ich Gänsehaut! Ich werde sensibel für falsche Gerüche, unpassende Haptik. Ich erinnere mich an den grandios "leckeren" Duft eines bestimmten streichelmatten Covers und eines Buchs aus dem Tiefdruck. Und dann kaufe ich gierig ein E-Book, weil ich den Geruch des Billigleims eines Taschenbuchs nicht ertrage oder die Lacke auf einem Fotoband, den man in China produzieren ließ.

Ich bin natürlich beruflich verbogen. Laien riechen so etwas nicht und Leute, die in Druckereien arbeiten, riechen noch unendlich viel mehr als ich. Aber es ist nicht von der Hand zu weisen: Unterschiedliche Medien haben eine unterschiedliche Wirkung. Warum also soll nicht das Hirn auch völlig anders mit dem einen oder dem anderen umgehen?

Warum ich das alles erzähle? Ganz bestimmt nicht, um mich als Zootierchen mit drolligen Angewohnheiten auszustellen. Aber ich mache mir schon mein Leben lang Gedanken, wie man Sinneseindrücke so schildern kann, dass auch ein Außenstehender ungefähr nachvollziehen kann, was er selbst vielleicht in seiner Welt nie erlebt. Dahinter steckt die ganze Magie des Schreibens: Ich muss eine mir völlig fremde und unsichtbare Person in Nullkommanichts verführen und dann völlig verzaubern mit einer Geschichte (durchaus auch im Sachtext). Das gelingt mir erst dann wirklich, wenn diese Person vergisst, ob sie Papier oder Plastik in der Hand hat, ob ein Leim stinkt oder schon wieder Helvetica gedruckt wurde.

Warum ich mich mit diesem Thema beschäftige, hat schriftstellerische Gründe: Wie könnte schriftliches Erzählen außerhalb des Papiers aussehen? Jonathan Safran Foer hat sich mit seinem Buch "Extrem laut und unglaublich nah" das Medium Papierbuch damals fast gesprengt ... weil er darin versuchte, das Unsagbare zu sagen. Wie hätte er diese Geschichte erzählt, wenn damals schon andere Medienformen des "Buchs" etabliert gewesen wären? Ich experimentiere gerade mit einer Verbindung von Fotos und Roman und einem Vexierspiel zwischen reiner Fiktion, fotografierter Lüge und Realitäten. Absolut faszinierend, aber ist das noch eine Geschichte für Papier? Was würde die Papierversion in den Lesern auslösen, was ein E-Book?

Vorankündigung:
Mein Essay über die Zukunft des Buchs erscheint in der Mai-Ausgabe der Universitas zum Schwerpunkt "Litera-Tour".

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