Gnadenlos verwurstet

Es ist frech und erstaunlich, woher sich ein Autorengehirn Inspirationen besorgt. Ich verstehe jetzt erst die Drohung, die einmal eine Kollegin gegenüber jemandem austieß, der ihr übel wollte: "Pass auf, sonst landest du als Mordopfer in meinem nächsten Krimi!" Seither schreibe ich in Gedanken ständig die besten Thriller und Dorfdoofgeschichten, auch wenn ich sie nie zu Papier bringe. Aber es hat durchaus etwas Befreiendes, wenn man den Laberheini beim Bäcker fiktiv im Kopf bei Max und Moritz in einen gewissen Getreidesack stecken kann. Die arrogante Angeberin beim Schuhkauf landet als böse Schwiegermutter im Chicklit, der Dorfvoyeur versinkt in einem Thriller eines Tages beim Gucken im Moor - und der Typ, der einem mit Affenzahn die Vorfahrt nimmt, klebt in einem Arztroman an einem Betonpfeiler, wird dreimal wiederbelebt und verröchelt genau in dem Moment, in dem ein Pinscher ans Rad seines völlig zerstörten BMW pinkelt. Das hält die Fantasie fit und das Gehirn frisch, erspart unnötiges Workout in der Muckibude oder Omm-Singen.

Zum Glück hat Google noch keine Brille entwickelt, mit der man in die Gehirne scheinbar passiver und völlig entspannter Autorinnen schauen kann. Unsere Macht ist unbegrenzt. Wenn es sein muss, schicken wir den Lehrer unserer Kinder auf einen fernen Planeten voller Wuselwürmer und überalterter Gorgonzolas auf drei Beinen. Lichtschwerter brauchen wir nicht. Wir schlagen mit versteinerten Brezeln zu, killen mit sprechenden Marshmallows, die sich im Hals aufblasen, und radieren auch schon mal Figuren einfach vom Papier.


Heute ist es wieder passiert. Ich schreibe an meinem Roman. Die Passage, die vor dem Ersten Weltkrieg spielen soll, flutschte nur so, aber sie wirkte leblos und künstlich. Also braute ich mir erst einmal einen Café au lait, der damals Trendgetränk war, und versumpfte in der Kaffeepause bei Facebook. Am Cafétisch im Roman saßen derweil zwei aufgedonnerte Frauen, meine zweite Hauptfigur, ein stinkender, ärmlicher und schweigender Typ und drei sichtlich angeheiterte Mannsbilder. Einer davon klein, mit komischer Frisur und spanischem Akzent. Einer mit etwas krausem Haar fasste die Zigarettenspitze mit abgespreiztem kleinen Finger. Aber da fehlte der Pepp für eine Eröffnungsszene. Meine Gemma - so heißt die Dame, die wie aus einem Dusel erwacht - schrie geradezu nach einem Streit, einer Auseinandersetzung, die ihr an die eigene Substanz gehen würde. Weil sie nämlich gar nicht weiß, ob sie zu der Gesellschaft in diesem Pariser Café gehört.

Facebook lässt einen nie im Stich. Mit einem Klick stieß ich in einer Gruppe auf Menschen, die ich bisher für recht kultiviert hielt, wie sie über Angehörige einer Nation herzogen, bis mir fast körperlich schlecht wurde. Da wurden die Vorurteile und Klischees nur so hingeklatscht. Im ersten Moment bin ich immer verblüfft, wie man sich freiwillig unter Klarnamen so eindeutig outen kann. Im zweiten Moment bin ich einfach nur entsetzt. Ich gab dann meinen Grenzgängersenf dazu, möglichst ruhig und besonnen. Aber das hat mich überanstrengt. Sehr überanstrengt und an den Romantext getrieben.

Da hatte ich meine Steilvorlage! Ob die Neugier und das Interesse an Gemma echt waren? Oder waren die anwesenden Einheimischen nur darauf aus, die Fremde herauszufordern, bis sie sich eine Blöße gab, bis einer draufhauen konnte? Der stille Typ im schäbigen Anzug, der mit dem üblen Geruch, bekam alles ab. Alle Häme, die eine vermeintlich kosmopolitische Gesellschaft über einem ausschütten konnte, der sich äußerlich wie im Benehmen nicht anpassen wollte. Verdammter Emigrant und Farbenkleckser, schnorrte seinen Café au lait und was hatte er sonst zu bieten? Sprach noch nicht mal richtig Französisch, dieser Russe, der! Aber Chaim Soutine bleibt ruhig und trinkt nur.

Nicht, dass jetzt diese eine Szene alle späteren Überarbeitungsvorgänge überleben wird. Vielleicht wird sie sogar in einem anderen Jahr mit anderen Menschen am Tisch spielen. Vielleicht wird alles ganz anders anfangen. Nur passt auf, wenn ihr Autoren auf die Palme bringt. Die klauen sich gnadenlos ihre Szenen im Leben zusammen. Beim Bäcker, im Restaurant, auf der Straße, bei Facebook ...

4 Kommentare:

  1. Das Verwursten der Bäcker und der Schuhkundinnen erinnert mich an einen Menschen, den ich mal geistig in der Waschmaschine herumgeschleudert habe, oder an den Chef, den ich mir in Unterhosen vorstellte-um ihm dann real auf einem Betriebsausflug aus Versehen die Maultaschenbrühe in die Hose zu kippen! :-) Ja, ich kenne auch skurrile Typen, die Eingang in meine Texte gefunden haben, und oft blieben sie auch drin, ohne von irgendjemandem erkannt zu werden. Bei Facebook habe ich allerdings noch keine Vorlagen, weder an Personen noch Gesprächen, gefunden, werde mal darauf achten. Wohl aber wurde ich schon in Kurzgeschichten anderer verwurstet, einmal als Madonna, einmal als Sandkastenkind, glaube ich. :-)

    Herzlichst
    Christa

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  2. You made my day, Christa! ;-)
    Die Waschmachine und die Maultaschen sind die Härte ... und ich fürchtete schon, eine besonders kriminelle Fantasie zu besitzen, haha!

    Ganz und komplett landet eigentlich nie jemand in meinen fiktiven Texten, ich klaue mal hier einen Augenaufschlag, dort einen Sprachfehler, gucke mir eine Geste ab, transplantiere eine Frisur auf einen anderen Kopf ... dann passiert mir dafür solches wie beim Roman "Stechapfel und Belladonna", der jetzt "Alptraum mit Plüschbär" heißt: Da hat sich eine Frau im Dorf fürchterlich aufgeregt, ich hätte sie zur Schau gestellt. Dabei kannte ich die nicht mal. Sie bestand aber darauf, dass ich sie ganz genau getroffen hätte. Ich konnte offensichtlich sogar durch Hauswände in ihre Wohnung gucken ;-)
    Herzlichst, Petra

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  3. Die Dorffrau hinter den Wänden scheint ein Prototyp zu sein, sonst hätte sie sich nicht wiedererkannt ...:-) Ja, es sind meist nur bestimmte Äußerlichkeiten oder Charakterzüge, die man verwendet. Eine Frau, die ich von Sehen kannte, musste mit grob gezeichnetem Gesicht und Figur herhalten - als Äbtissin in einem historischen Krimi. Aber selbst, wenn sie den Roman gelesen hätte, hätte sie sich nicht wiedererkannt. Weil sie eben schon zu einer historischen Figur geworden war. In meinem Schwarzwaldkrimi gibt es auch einige Typen mit Wiedererkennungseffekt. Die agieren allerdings in einer anderen Gegend. An deinen "Stechapfel" erinnere ich mich übrigens gut - da hatte selbst ich das Gefühl, diese Leute zu kennen -ohne wirklich jemanden zu kennen.

    Herzlichst
    Christa

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  4. Liebe Christa,
    ich denke, das macht ja das geheimnis von Romanen aus: Kann ich mich in manchen Figuren wiederfinden, dann "sagt" mir diese Figur womöglich auch etwas, oder psychologisch gesagt, spiegelt mich. Wobei ich immer noch nicht weiß, wie man das hinkriegt ;-)
    Herzlichst, Petra

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