Die Zerfaserten

Ende eines langen Winters: Beweglichkeit. Wie die Ameisen kriechen sie alle wieder aus ihren Häusern, recken das Gesicht in die Sonne, atmen tief ein. Der Bergkoller legt sich langsam im Bewegungsdrang, obwohl das hier nur Hügel sind. Aber in diesem Winter sind sie manchmal unüberwindlich geworden, Blitzeis in den Wäldern, gefrorenes Schmelzwasser, Schneeverwehungen in den Kehren, die Freunde hinter irgendeinem Bergpass. So viele Anrufe reihum, bevor das Menu umsonst gekocht ist: Der Schnee, das Eis, können nicht kommen, sitzen zuhause fest, sind schon im Dorf gestürzt. Nächtliches Schneestapfen mit Taschenlampe, weil man das Auto zuhause lässt, mehr als ins Nachbardorf macht nicht wirklich Freude.

Wir brechen aus mit den ersten Frühlingssonnenstrahlen. Brechen aus in Beweglichkeit: Kettensägen im Wald, die Schubkarre im Garten. Bäume wollen eingekürzt werden, das Laub mag die Beete noch eine Weile vor Nachtfrösten schützen, die Triebe der Rosen schreien nach Schnitt. Im März explodiert die Natur, der gärtnernde Mensch rast von einer Baustelle zur nächsten, reibt sich die Muskeln, ächzt, weil die winterlahmen Knochen so alt erscheinen. Mobilsein: Tratsch mit vorbeispazierenden Menschen, mit dem Auto in die Stadt und vor allem wildes Besuchen an den Abenden, den Wochenenden: der Pass ist schneefrei. Wir telefonieren weniger und sehen dafür Menschen wie Pilze aus dem Boden sprießen. Sonntags herrscht zwischen den Feldern Rush Hour. Menschen mit Kindern und Hunden. Und die Trecker rücken an. Die lähmende Schneestille hat sich aufgelöst in lärmende Fülle: Vogelgezwitscher, bei den Spatzen fast schon hysterisch, zartes oder dunkles Gebrumm leicht verschlafener Insekten - und der Wind rauscht in den Zweigen, als wolle er die Knospen heraustreiben. An den Abenden gute Gespräche an großen Tischen und Musik.


Nichts wie in die Stadt, die so oft so unerreichbar schien, weil man sich lieber eingemummelt hat, die Winterunfälle anderen überließ. Leute treffen, die sich sicher auch über den Frühling freuen. Eigenartig ist es da, Verkehrslärm statt Naturtöne. Hier singen die Amseln in der Winternacht, weil man die Bäume beleuchtet. Frühlingsgucken im Schaufenster, vorgetriebener Blumenkitsch im viel zu frühen Ostergewand.

Seltsame Piepser gibt es in der Stadt. Es piepst, schrillt und dudelt, knackt und vibriert, schockt mit Opernschall oder Klangschrott. Hastig greifen menschliche Marionetten zu. Vergessen, dass sie gerade noch mitten in einem Satz zu dir waren, sehen dich nicht mehr, reden wie ein Wasserfall in diese kleinen Kästchen. Die musst du noch kennenlernen, da musst du unbedingt noch hin. Wenn du das nicht kennst, bist du nirgendwer, und ich sag dir, dieser Kontakt ist hochinteressant und jetzt brauche ich einen Kaffee und sorry, dass ich dauernd telefoniere, aber man kommt ja zu nichts, man hat ja sonst kaum Zeit dazu.

Auch ich brauche einen Kaffee, Asphalttreten macht müde, und ich will mich in Ruhe umschauen. Menschen beobachten, Sonne sehen und was sie mit den Menschen macht. Spät ist es; da wo wir sitzen, entspannt keiner mehr, der Rest hastet vorbei und niemand bemerkt, wie groß die Knospen der Magnolien schon sind. Die Gespräche am Tisch zerfasern, weil wieder eine Handtasche dudelt, weil jemand vorbeikommt, uns grüßen will, aber da klirrt es in seiner Manteltasche und er dreht sich weg. Ach, warst du dort schon und hast du das schon gesehen, du kommst überhaupt nicht raus, immer in deinem Wald, das kann doch nicht gut sein, hier spielt das Leben, so abgeschnitten seid ihr, sorry, ich muss da mal ran, das ist der Dingens, ein wichtiger Mann, solltest du auch mal kennenlernen. Und klick, raus aus dem Gespräch ins nächste, in eine schwebende Zwischenwelt, in der es keine zwitschernden Amseln im Sonnenduft gibt.

Küsschen, Küsschen, nur hinhauchen muss man sie, kann zum Abschied wie ein Hauch verschwinden, kaum bemerkt, weil es längst wieder dudelt und trillert und schrillt und vibriert. Diese ach so wichtigen Gespräche: Was, du warst nicht da, hastduaberwasverpasst, du musst unbedingt nächstens die Dingens, sonst hastduaberwasverpasst, und sorry, mein anderes Handy, sonsthabichwasverpasst ...

Jetzt habe ich den Dreh heraus, auch ich zerfasere, verabschiede mich auf Französisch, fliehe zu meinem Auto. Als ich dem Sonnenuntergang entgegenfahre, frage ich mich, ob die Zerfaserten meine Anwesenheit bemerkt und nicht nur Gespräche gespielt haben. Wiederholt vielleicht, was sie sonst den Klingeltönen antworten, den ganzen Tag, die ganze Nacht. Wie Puppen auf Knopfdruck. Mama, Hunger, das musst du noch und hier hast du noch nicht, sonsthastduwasverpasst.

Als ich das Fenster an der Ampel herunterkurble, singt eine Amsel gegen das Verkehrsrauschen an. Im Wald bremse ich für ein Rudel Rehe, die Luft duftet nach feuchtem Fels und wärmender Erde. Hinter den Kehren angekommen, nichts mehr, was wir hier müssen, außer dem Sein. Atmen, leben. Was richten der wichtige Dingens und die unabdingbare Dingens wirklich aus? Hier bleiben die Handys auch mal aus, es ist Feierabend.

Plötzlich ganz seltsame Laute überm Haus, spürbare Bewegung am Himmel, ein Geräusch, das Gänsehaut macht. An und abschwellend, seltsamer Gesang - die Menschen wie angewurzelt, aufmerksam. Abbrechen aller Gespräche und ein verwunderter Blick in den Himmel. Ein singender Schwan im Dämmerhimmel. Eine Musik, die vor Schönheit weh tut, einen flüchtigen Moment lang. Dahabtihraberwasverpasst, denke ich später in Richtung Stadt.

4 Kommentare:

  1. Mein Eindruck ist, dass Du Dich mit unhöflichen Menschen getroffen hast. Auch in der Stadt kann man sich ein ruhiges Café suchen und sich Zeit füreinander nehmen. Alles andere kann dann mal für ein, zwei Stunden zurückstehen.

    Nur das mit den Naturgeräuschen ... Das Rauschen und Tönen der Stadt ist mir in der Tat auch sehr viel weniger lieb, als das Zwitschern und die Landgeräusche.

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  2. Ich frage mich, ob sich Unhöflichkeit dann verbreitet, Wibke. Ich beobachte eher eine Art Getriebensein, das Gefühl, ständig erreichbar sein zu müssen, auch beruflich zu Unzeiten. Natürlich begegnet mir das nicht immer, aber immer öfter.

    Von Frankreich her kenne ich es, dass man sein Handy bei Besuchen abschaltet, wenn man nicht gerade als Notarzt auf Abruf dasitzt. Oder man sagt vorher, dass man auf einen wichtigen Anruf wartet, entschuldigt sich dann und geht mit dem Telefon aus dem Raum.

    Ich glaube, das ist schon ein grundlegenderes Problem als nur schlechte Erziehung. Die gleichen Leute sind nämlich auch im Leben "zerfasert", können keinen wirklichen Feierabend machen, müssen sich ständig in Remmidemmi stürzen. Ich glaube, die haben Angst davor, mit sich selbst allein zu sein ...

    Du tröstest mich aber, dass es noch Menschen mit "inneren Oasen" gibt!

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  3. Das war jetzt ein absoluter Lesegenuss, Petra! Das mit den Geräuschen erlebe ich genauso, besonders in Großstädten! Die Wahrnehmung der Leute wird auch immer gestörter. Kürzlich wollten wir uns in einem Café hinsetzen, schon rauschten zwei Damen heran und ließen sich aufdie Stühle plumpsen. "Wir dachten Sie wollten gerade gehen", meinte die eine auf den wortstarken Einwand meines Partners hin. Hta man früher nicht gefragt, ob der Platz frei ist?

    Herzlichst
    Christa

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  4. Tja, liebe Christa, diese Höflichkeit kann man manchmal sogar im berühmten Kaffee König in Baden-Baden vermissen ...
    Herzlichst, Petra

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