Johannistriebe
Ich bekomme Bilbo meist nur von hinten zu sehen, wenn er die Welt der Spuren erkundet. Im Heu duftet es besonders verführerisch nach Mäusen, die sich über die Grassamen hermachen. |
Ein junger Kleiber, der auf der Haustür hockte, starrte mich ungläubig an. Zweibeiner um diese Zeit war er offenbar nicht gewohnt. Zutraulich hängte er sich kopfüber und probierte aus, ob ich mich nicht aus dieser Richtung in Luft auflösen würde. Noch vor dem Frühstückskaffee leinte ich Bilbo an, denn bereits um sieben Uhr morgens heizte die Sonne vom makellos blauen Himmel.
Es war eine Freude, dass der Hund dank leichter Nordwestbrise endlich einmal durchschnaufen und laufen konnte. All die verpassten Pee-Mails und Mausspuren! Die Momente, sich mit Schmackes von oben im Mäuselsprung in trocknendes Heu zu werfen! Bilbo erzählte mir mit seinem Körper von Hasen, die im Maisfeld verschwunden waren, und wo der Rehbock gestanden hatte. Den rieche aber selbst ich.
Es ist eine eigene Stimmung am frühen Morgen, weil wir plötzlich nicht mehr allein unterwegs sind. Menschen eilen nur am Anfang auf dem kleinen Dorfsträßchen zur Arbeit. Auf Wiesen und Feldern hat die Gesellschaft lange Beine. Der Jungstorch, den wir bereits kennen, begleitet uns parallel und sehr nah, er beäugt Bilbo neugierig. Und ich habe dem Hund inzwischen klargemacht, dass ich ihm keinen Storch braten werde. Seither spazieren wir zu dritt. Über uns schwebt ein Fischreiher zu einer Wiese, auf der noch das Heu zum Trocknen liegt. Er ist sehr viel scheuer als der Storch und hält Sicherheitsabstand.
Am Bach bilden verwilderte Gartenwicken ein pinkfarbenes Nest und das Mädesüß mit seinem vanillefarbenen Blütenschaum fängt in der zunehmenden Wärme an zu duften. Ich habe es ganz verpasst, dass es bereits blüht. Früher hat man damit die gestampften Lehmböden in Häusern bedeckt, denn wenn es welkt, werden die Cumarine erst recht frei, der süße Duft verstärkt sich. Der gleiche Effekt wie beim Waldmeister.
So weit wie heute war ich in der großen Hitze der letzten Tage nicht gekommen. Bilbo drängt zum Wald, steht vor dem Eingang auf seinen Lieblingspfad. Das Bächlein, über das ich sonst springen muss, ist eine Wüstenlandschaft en miniature. Die Bäume am Waldrand fallen mir auf: Die Eichen zeigen allesamt lang geschossene Triebe in hellstem Grün, die Triebspitzen schimmern rötlich.
Johannistriebe nennt man dieses Phänomen. Es tritt entweder auf, wenn es im zeitigen Frühjahr einen großen Schädlingsbefall gab - oder wenn das Klima günstig ist, die Wachstumsperiode lang zu werden scheint. Normalerweise bilden die Eichen und manche Ahornarten in diesem Wald schlafende Knospen fürs nächste Jahr, die überwintern. Man kennt das, wenn man kahle Zweige im Dezember in die Vase stellt und sie plötzlich grünen. Ist der Frühling warm genug, schieben sich teleskopartig die Triebe aus diesen Knospen, bei uns etwa im April - dann werden die Eichen grün.
Sie haben sich im Lauf der Evolution angepasst. In manchen Jahren entwickeln sich diese Knospen, die eigentlich fürs nächste Jahr vorgesehen sind, um den Johannistag (24.06.) herum, also dem Sommeranfang. So lässt sich Blattfraß ausgleichen. Eichen, die fast kahl gefressen waren, tragen plötzlich belaubte Triebspitzen. Aber auch ohne Fraßfeinde haben Johannistriebe einen Sinn. Ist es nämlich besonders warm und besonders lange im Jahr warm, kann der Baum "Strecke" machen und sich inmitten der Konkurrenz schneller dem Licht entgegenstrecken. Die Eiche rechnet sozusagen damit, dass das Jahr lange warm bleibt - denn nach den Johannistrieben schafft sie weiter: Jetzt bilden sich die eigentlichen Knospen fürs nächste Jahr. Zwei Fliegen also mit einer Klappe.
Aber auch für so ein zartes Eichenblättchen ist die Sonneneinstrahlung derzeit zu stark. Was für ein Glück, dass der Baum ein lebendes Chemielabor ist! Fotosynthese können die älteren Blätter übernehmen, die ledrig und tough und dunkelgrün aussehen. Deren "Haut" hält einiges aus. Auf der Epidermis haben sie auch noch eine Wachsschicht. Die Kleinen dagegen bekommen einen baumeigenen Sonnenschutzfaktor: Anthocyane. Das sind Farbstoffe, die auch im Herbst für die Laubfärbung sorgen.
Anthocyane kommen in fast allen Pflanzen vor und ganz besonders konzentriert überall dort, wo Blüten blau und Früchte bläulich oder violett sind. Sie schwimmen frei im Pflanzensaft herum, fein verteilt. Hergestellt werden sie bei der Fotosynthese aus Kohlenstoff. Wenn im Herbst die Fotosynthese heruntergefahren wird und sich kein neues Chlorophyll bildet, werden sie sichtbar.
Die frischen, extrem zarten Johannistriebe der Eichen könnten die Sonneneinstrahlung derzeit nicht überstehen. Bei ihnen hat weder die Chlorophyll- noch die Wachsproduktion eingesetzt - und beides braucht ein Blatt bei dieser Hitzewelle. Dafür haben Eichen (und andere Bäume) aber vorgesorgt. In den Blättchen läuft die Produktion von sogenannten Jugendanthocyanen auf Hochtouren. Der körpereigene Sonnenschutz der Triebe lässt sie rötlich erscheinen. Sind sie dann groß und stark genug, um selbst Chlorophyll zu bilden, werden die anderen Farbstoffe wieder zurückgefahren.
Der Baum reagiert dabei sensibel auf Bodenbedingungen, Licht und Wärme. Er schützt sich so nicht nur gegen UV-Strahlung, sondern auch gegen ionisierende Strahlung. Oxidativer Stress wird vermindert, eine Schädigung der pflanzeneigenen Proteine und der DNA werden vermieden. Deshalb werden solche Pflanzen auch schon mal nur bei großem Stress rötlich bis bläulich. Ob der Mensch sich das Essen anthocyanhaltiger Pflanzen ähnlich zunutze machen kann, ist übrigens umstritten - nur ein winziger Bruchteil des Stoffs ist für ihn bioverfügbar.
Ich sinniere wohl etwas zu lange vor einer Eiche - der Hund zerrt an der Leine. In einer unüblichen Richtung. Sonst hält ihn nichts vom Wald zurück, aber diesmal ist er klüger als die Baumbetrachterin: Er will zurück. Wir müssen in der prallen Frühmorgensonne über Felder und Wiesen, Schatten gibt es selbst um diese Uhrzeit nicht. Nur noch wenige Spuren sind für Bilbo interessant, er kürzt ab, hechelt über die letzte Wiese. Als wir um acht Uhr zuhause sind, ist es bereits viel zu warm zum Laufen.
Nicht zu warm ist es für meinen Morgenkaffee. Und Monsieur stürzt sich auf den Wassernapf. Dann ein lauter Plopp - er liegt platt auf den Steinfließen im Bad. Wir bleiben während der Hitze drinnen, denn leider können weder Mensch noch Hund körpereigene UV-Schutzfaktoren aktivieren und sich fröhlich violett färben.
Spenden für die Blogarbeit (rechts im Menu unter "Wer liebt, gibt") werden derzeit übrigens in Kaffee und getrocknete Pansenstangen umgesetzt. Ich muss wohl nicht sagen, wer von uns beiden was liebt ...
Wie schön, dass du einen mit deinem Beitrag tief in die sommerliche Natur eintauchen lässt und von Morgenimpressionen bis zu wissenschaftlichen Informationen alles dabei hast. Dein Nature Writing macht wie immer einen Riesenspaß!
AntwortenLöschenDanke, Maike. Ich schreibe mich langsam wieder warm. ;-)
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