Mein sprechender Zauberkoffer

Man sagt SchriftstellerInnen gern nach, etwas schrullig zu sein. Tatsächlich haben wir für unsere Kunst zuweilen ausgefallene Techniken. Für mich spielen Gegenstände eine sehr große Rolle, vor allem Gegenstände mit Geschichte. Da wäre etwa der seidene Sonnenschirm aus Thailand oder Indonesien, der von einer alten, einst weltreisenden Gouvernante eines amerikanischen Multimillionärs auf mich gekommen ist. Als ich ein Kind war, erzählte sie mir von ihren Weltreisen, zeigte mir uralte Papiere von Dampfschiffen und sprach darüber, wie sie einmal knapp die Passage auf der Titanic verpasst hätte, weil es keine Billets mehr gab. Diese Luxusfahrt ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten ...

Der sprechende Koffer, der erzählende Schirm, der geheimnisvolle Spazierstock - all diese Gegenstände haben ein langes Leben hinter sich, haben Menschen begleitet.

Als Kind ahnte ich nicht, was sich hinter diesem Schiffsnamen verbarg, aber "Titanic" wurde für mich zu einer Art "Worthalle", die mit seltsamen Geschichten, mit Bedeutung und etwas unfassbar Gruseligem gefüllt war. Im Laufe meines Lebens füllte sich diese Halle mit Fakten, Angelerntem, alten Fotos, Filmen ... und ich muss nur wieder diesen Sonnenschirm aufspannen, schon wird jene Gouvernante mit ihren Erzählungen lebendig, die in den 1960ern bereits hochbetagt war.

Ich musste kürzlich lachen, als in der Serie "Sherlock" Holmes in seinen "Gedächtnispalast" geht, so schön war das filmisch umgesetzt, was man schwer erklären kann. Ähnlich geht es mir mit meinen Gegenständen oder mit Steinen ... könnte man draufklicken wie im Film, wären die Daten sofort abrufbar. Im echten Leben ist das Erinnern ein wenig komplizierter, man muss dazu in der Stimmung sein und natürlich auch wie Holmes ungestört aus dem Alltag schlüpfen können.

Jener alte Lederkoffer ist mein wohl "seltsamstes" Stück. Seine letzte Besitzerin habe ich ebenfalls als ganz kleines Kind noch gekannt, da war sie schon sehr alt, sehr krank - eine unwahrscheinlich sanfte Frau. Sie hatte unendlich traurige Augen mit einem Schmerz, den ich so noch nie bei Menschen gesehen hatte. Die Erwachsenen gaben mir die Worthallen zu jener Traurigkeit: Jüdin, Überlebende, Holocaust, KZ. Die Aufkleber auf diesem Koffer sind kaum mehr zu entziffern, jene Frau reiste damit Anfang der 1950er, so kurz nach dem schlimmsten Grauen, aus irgendeinem Ort im Banat auf einem Schiff namens "Independence" in die USA. Ins gelobte Land der Freiheit, nach New York. Niemand weiß, wie und warum sie von dort irgendwann wieder in dem Land strandete, wo man ihr all das Schlimme angetan hatte. Und weil die gesamte Familie dieser Frau ausgelöscht worden war, landete nach ihrem Tod jener Koffer auf dem Sperrmüll, was meine Familie nicht hat mitansehen können und von dort kam er nach Jahrzehnten auf mich.

Er war leer. Birgt nur mein Wissen um diese Frau, die ich als kleines Kind von etwa vier, fünf Jahren so sanft erlebt hatte. Es liegen aber die Worthallen darin, die ich von den Erwachsenen lernte, und es erzählen die Aufkleber: von Deck 3, vom Abreisekai und vom Ankunftspier. Manchmal kann ich fast hören, dass es vielleicht Menschen gegeben hat, welche die Frau in New York empfingen. War es Familie, waren es Freunde? Blieb sie allein? Weil ich inzwischen selbst erwachsen geworden bin und viel historisch gearbeitet habe, sehe ich auch die Ankunftshallen auf Ellis Island vor mir, die Speisesäle, die Schlangen von Einwanderern.

Freiheit, Glück, ein Auskommen - Auswandererträume
Ich sehe Fluchten und Ankünfte besonders deutlich vor mir, weil auch meine Familie eine Familie mit Koffern war. Fluchten in alle möglichen Richtungen, freiwillige und erzwungene, tragische und glückliche. Und während die Wanderbewegungen innerhalb Europas meist über den Landweg stattfanden, ist ein ganz großer Teil meiner Familie zu unterschiedlichen Zeiten in die USA geflüchtet. Im 19. Jahrhundert sind sie vor den Hungersnöten davon, vom Krieg oder aus den Slums, die sich durch die Industrialisierung in den Städten gebildet hatten. Reine Wirtschaftsflüchtlinge. Und sie glaubten wirklich, dass jenseits des "Großen Teichs" die Kühe fünfmal so viel Milch gaben und die Kürbisse golden und riesig seien - und vielleicht war das im Vergleich auch so. Anfang des 20. Jahrhunderts folgte die nächste Welle. Arme, die es ins Gelobte Land zog, bitter arme Menschen. Männer, die sich dem Wahnsinn des Ersten Weltkriegs entziehen wollten, die das Abschlachten der einstigen Brüder nicht mitmachen wollten. Als Deserteure hätte man sie hingerichtet.

Da gibt es ein Foto aus dieser Zeit mit drei Schwestern mit slawischem Namen - jemand hat den Kopf der links stehenden abgeschnitten. Das Mädchen wurde damals verkauft. Noch zu meiner Urgroßmutter Zeiten war das gang und gäbe. Es gab keine Verhütungsmittel und nicht selten Familien mit zehn und mehr Kindern - aber es starben ja auch so viele, bevor sie erwachsen wurden.Wenn die Not zu groß wurde, hat man die Familie in hungrigen Mäulern gemessen und in Kindern, die durch Arbeit bereits zum Lebensunterhalt beitragen konnten. Schon Vier- bis Fünfjährige mussten damals einfache Heimarbeit verrichten. Und je nach Kultur waren Mädchen nur etwas "nütze", wenn sie ein Ehemann versorgte. Das abgeschnittene Mädchen auf dem Foto trug später einen adligen Namen. Es hatte Glück gehabt. Wurde nicht als billige Magd geschunden und missbraucht, sondern war in eine reiche Familie verkauft worden. Reiche Frauen, die selbst keine Kinder bekommen konnten, kauften sich damals welche bei den Ärmsten der Armen. Überall in Europa.

Ihre beiden Schwestern und die Eltern landeten dank dieses Mädchens als Einwanderer in den USA. Manchmal war das so, damals. Man hat die eigenen Kinder verkauft, um den Rest der Familie vor dem Verhungern zu bewahren. Um die teure Schiffspassage zahlen zu können. Dafür hat man all sein Hab und Gut verkauft, die unbeweglichen und die beweglichen Güter und manchmal ein Kind. Für die gefährliche Fahrt auf dem dritten Deck in eine ungewisse und fremde Zukunft, in ein fremdes Land mit fremder Sprache. Nur mit einem einzigen Koffer. Der Koffer blieb die letzte Verbindung zum eigenen Leben, zur eigenen Geschichte, zur Vergangenheit. Die Wunde heilte auch nach Generationen nicht zu. Bis eine Mutter ihr eigenes Kind verkauft, muss sie so viel Leid und Qual erduldet haben. Vielleicht werfen wir deshalb manche Koffer nie weg ...

Es ist erstaunlich, wie lange sich die Mythen vom Gelobten Land halten. Als ich selbst ein Kind war, gehörten die "Amerikageschichten" zum Familienschatz. Meine Großtante, selbst ein Flüchtling, konnte gar nicht genug von ihren verschwundenen Schwestern und Verwandten erzählen und Fotos zeigen, von Eigenheimen und Christmas Partys und High-School-Abschlüssen. Da war die Familie schon in zwei Hälften zerbrochen und sie fungierte als die letzte Brücke. Es gab nämlich diejenigen in Europa, die Deutsch sprachen. Aber die anderen, die in den USA, hatten ja nie Deutsch gelernt und nur die Alten redeten in ihren Clubs noch Tschechisch, Polnisch, Russisch ... Aber goldene Löffel hatten die doch ganz bestimmt und jeder hätte theoretisch Präsident werden können, weil man auch vom Tellerwäscher zum Millionär wurde in diesem Land der Freiheit, der unbegrenzten Geldmittel, des Luxuslebens! Wie man bei solchen rosigen Aussichten in Europa festkleben konnte, konnte ich absolut nicht verstehen.

Aber irgendwann lernte ich Englisch, meine Großtante starb und ich war die nächste letzte Brücke zu den "Verlorenen". Ich wurde größer und erfuhr mehr und lernte, wie brutal und hart der Anfang für die Einwanderer in Wirklichkeit gewesen war. Heute kann ich sogar die Schiffspapiere aus amerikanischen Archiven herunterladen und die Einwandererzettel, auf denen genau notiert ist, wann sie wem ins Maul geschaut haben, ob die Zähne in Ordnung waren. All diese glitzernden Geschichten vom Wohlleben - das war der Trost gewesen für die Daheimgebliebenen. Die vor Sorgen sonst umgekommen wären. Die die Trennung so schlecht verschmerzt hatten und es nie zugelassen hätten, dass einer von der Not in die nächste Not gefahren wäre. Geschichten von goldenen Löffeln sind aber auch Überlebensgeschichten für die eigenen Leute. Ganze Generationen haben sich damit Mut gemacht, wenn eine Dürre die Ernte auf der amerikanischen Farm vernichtete oder eine Firma ihre Gelegenheitsarbeiter ohne Krankenversicherung auf die Straße warf. Es ist die Hoffnung, das eigene schlimme Los irgendwann verbessern zu können, die einen am Leben hält, die einem die Energie gibt, sich ein neues Leben zu erobern.

Tellerwäschergeschichten: Sie flüchteten aus Armut. Mit gebratenen Würstchen nach europäischer Rezeptur fing es an. Dann schuftete die ganze Familie im eigenen Kiosk, verkaufte Popcorn, Eis und Fleischernes. Und irgendwann pachteten sie das Flughafenrestaurant einer Großstadt.
Sie haben sich aufgerappelt, waren harte Arbeiter, all diese Einwanderer. Auch die Frauen gingen zur Arbeit - etwas, was in ihren Herkunftsländern zu dieser Zeit unmöglich gewesen wäre. Einer machte sein Glück, briet Würstchen nach seinem Heimatrezept, kam an bei den heimwehkranken Einwanderern, erwarb irgendwann einen Kiosk. Die Familie schuftete bis spät in die Nacht, konnte sich irgendwann vergrößern, pachtete schließlich ein Flughafenrestaurant. Der American Dream endete da, wo alle Flüchtlinge und Auswanderer eines Tages enden: Sie verwandelten sich in stinknormale Amerikaner. Mit allen Höhen und Tiefen und all dem grauen Alltag, den ihre schon ein wenig länger einheimischen Nachbarn auch leben. Hätten einige in meiner Familie ihre Flucht nicht geschafft - einschließlich meiner Eltern - es gäbe mich nicht und diese Geschichten würde wohl auch niemand erzählen.

Lesetipp: 

Einem der Auswanderer meiner Familie habe ich in einer kleinen Erzählung ein Denkmal gesetzt: "Uncle Tony". Und vielen anderen mutigen Menschen:
Petra van Cronenburg: Blaue Fluchten
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