Hirn an Schokosößchen

In meiner Kindheit hat man noch viel Hirn gegessen. Für Kleinkinder gab's das extrem zarte Geschwurbel fein gedämpft mit Gemüschen. Später entdeckte ich, dass Anbraten in Butter dem Essen diesen aufdringlichen intelligenten Touch nahm, dieses Gefühl, das Ding auf deinem Teller könne jederzeit anfangen, über dich nachzudenken. Das Ganze wurde zu einer Delikatesse - außen knusprig, innen schmelzend weich. Früher, in meiner Kindheit, hat man Hirn übrigens aus dem gleichen Grund wie Walnüsse gegessen: Der Verzehr sollte angeblich gut fürs eigene Denkvermögen sein und die Proteine und anderen Stoffe sollten irgendwie schlauer machen.

Weil so ein Lamm oder Schwein oder Rind aber eigentlich nicht zur Klasse der Intellektuellen zählt, nennt man diesen Vorgang "sympathetische Magie". Das bedeutet, dass der Mensch vom Aussehen eines Gegenstands oder einem parallel wirkenden Ritual Wirkungen auf Ähnliches ableitet. In meiner Kindheit war man also vom Kannibalen, der lustig Schädeldecken knackte und Köpfe auslöffelte, gar nicht so weit entfernt. Denkerisch jedenfalls. Leider nahm die Delikatesse irgendwann eine leicht irre Färbung an: BSE machte Schluss mit der leckeren Hirnmagie.

Und so stehe ich nun da, ohne mein Heilmittel. Verlassen wie eine olle Keltin, der irgendein neumodischer Mönch den Kopfkult genommen hat. Verlassen von allen guten Geistern obendrein, denn in meinen Hirnwindungen herrscht derzeit vor allem eins: Leere. Wissenschaftler behaupten, je mehr sich da winde, desto mehr funktioniere die Denke. Und wenn sich einfach nur Leere windet, in diesem kleinen, fast unendlich erscheinenden Kosmos da oben hinter meinen Augen? Nicht, dass ich irgendwelche heiligen Rituale aus Obertibet, Hinter-Lhasa oder Mittel-Nirwhana praktiziert hätte. Ich habe mich auch - das schwöre ich bei allen Flugmotten und allem Weltraummüll obendrein - keinesfalls mit einem Energiedrink vollgedröhnt und meine Hirninhalte womöglich im freien Fall aus dem Weltraum selbst überholt. Es kann so billig sein, zu verblöden! Man muss dazu nichts anderes tun, als "intelligentes Zeug" zu schreiben!

Ich habe im letzten Monat tatsächlich zu viel nachgedacht. Zuerst das Essay für die Bundeszentrale für politische Bildung, frei nach dem Motto, mal sehen, ob ich überhaupt Essays schreiben kann. Dann ein halbstündiger Vortrag für eine deutsch-russische Feierstunde zu Ehren eines Dichters, zu der auch der russische Konsul und russische Presse gekommen waren. Frei nach dem Motto, mal sehen, ob ich innerhalb von drei Tagen einen Vortrag auf dem Niveau meines Nijinsky-Buchs in die Tasten klappern kann (Recherche und Denkzeit nicht gerechnet). Eine Speedübersetzung am Sonntag hat mir dann den multilingualen Rest gegeben: Nichts geht mehr. Ich schaffe nicht mal mehr Mails. Sobald ich schreibe, kommt Blödsinn dabei heraus. So wie hier. Dabei müsste ich längst einen Auftrag für November vorbereiten, der im Juli schon hätte vergeben werden müssen. Ich muss für zwei Bewerbungen ein Konzept entwickeln. Und streike.

Im Hirn habe ich nur noch Mittel-Lhasa, Untertibet und Ober-Nirwhana. Nichts dreht mehr. Auch keine Hirnwindung. Schwabbelmasse. Ich stelle mir vor, wie mein Hirn schwappen würde, wenn ich im Schaukelstuhl säße. Bllllblllllblllblll ... Zum Glück haben sie jetzt einen Ersatz fürs Hirnessen gefunden. Garantiert gesund. Oberlecker. Und das Schönste: Nach einem Zwangsurlaub und hohem Konsum der neuen Denkerdroge bin ich dem Nobelpreis so nah wie nie zuvor. Hier ist sie - haut rein!

6 Kommentare:

  1. Hirn kenne ich! Hirn gibt Hirn! Es ist Weiß! Wenn ich auch nur nach Hirn - denken könnte - wäre mein denken anspruchsloser! Oder, an wie - viel Hirn braucht ein Volk bis es vom arglosem Verstande noch denken könnte; um eine Tafel Schokolade weniger? Wenn mehr nie gefordert bleib? Sei denken nur am Stückchen bittrer schwarzer Masse am Zucker das Denken kleben; im Hirn sei um jeden Gedanke natürlicher freier, und ein naschen immer bekömmlicher!
    Hirn gibt ein Hirn! Hirn gibt keine Masse her!

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  2. Urplötzlich muss ich an Kalbsbries denken, an den Streit, der am familiären Tisch ausbrach, wenn es darum ging dem gegrillten Lämmchen den Schädel zu spalten, oder an jene Kulturkreise in denen Stierhoden eine Delikatesse sind. Was uns diese Form der "sympathetischen Magie" wohl über die Feinschmecker verrät?
    Herr, lass Hirn regnen!

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  3. Kalbsbries kannst du weiter essen, das kommt nicht aus dem Kopf, sondern aus der Brust. Macht also garantiert nicht schlau ;-) (Nach Magie aber stärkt es die Immunabwehr, da Thymus).

    Du erinnerst mich jetzt leider an ein längst verdrängtes Festmahl in einem syrischen Restaurant in Warschau, wo der Wirt zur gemischten Festtagsplatte Lammaugen brachte, Zeichen der Gastfreundschaft, größte Delikatesse - wehe, man wies sie zurück. "Essst nur, ist gut für die Sehkraft", meinte ein Pole und schnappte sich das Teilchen mit Todesverachtung.

    Ich könnte mal wieder zur Entschleunigung Weinbergschnecken genießen ...
    ... sprach's und soff einen bitteren Schwarztee mit viel Zucker

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  4. Wenn du das wunderschöne Buch "Das Geräusch einer Schnecke beim Essen" liest, fällt Dir der Schneckenmaus aber nicht mehr so leicht ... zum Thema Hirn und Schädel - da habe ich im Urlaub auf Schloß Gottorf die Ausstellung "Schädelkult" gesehen. Die Ausstellung ist zwar zu Ende, aber den Katalog gibt es noch.
    Vielleicht funktioniert ja die Hirnmagie auch übers Lesen? Ziemlich sicher, würde ich sagen ... http://www.schloss-gottorf.de/schaedelkult


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  5. SchneckenSCHmaus. Hab wohl zu wenig Hirn gegessen.

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  6. Beschreibt das Buch das Geräusch, das die Schnecke selbst beim Essen macht oder das Geräusch, das die Schnecke macht, wenn ich sie esse? In letzterem Fall würde ich von der Lektüre auf alle Fälle absehen ;-) Obwohl köstliche Austern ja auch ganz unverschämt klingen ...

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